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Krieg in NahostDie Tode des Universalismus

Kommentar von Georg Diez

Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte.

Von israelischen Bomben zerstörtes Haus in Rafah im Gazastreifen am 12. Februar Foto: Hatem Ali/ap

D ie Menschenrechte, so schreibt der amerikanische Rechtsphilosoph Sam Moyn, sind eine gute Idee mit einer schwierigen Geschichte. Wir könnten die Welt, wie wir sie heute, vom Westen aus, denken, nicht ohne die Menschenrechte denken, die notwendigerweise universell sein müssen, sonst wären es keine Menschenrechte. Sie sind ein Ergebnis der Französischen Revolution und ihrer Werte von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Sie wurden zur Grundlage der Weltordnung nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts.

Schwierig ist die Geschichte, weil niemand so naiv war zu glauben, dass diese universellen Menschenrechte jenseits von Ideologie und Interessen existieren, im luftleeren historischen Raum sozusagen. Moyn etwa beschreibt in seinem Buch „Not Enough“ für die Nachkriegszeit nach 1945, wie sich der Diskurs der Menschenrechte parallel zum Diskurs über den Markt entwickelte – kurz gesagt: Je freier und radikaler der Markt gedacht wurde, desto lauter und letztlich leerer wurde die Rede über die Menschenrechte; sie waren das ideale rhetorische Mittel, das man fordern konnte, aber nicht durchsetzen musste.

Das ist das Problem mit solchen großen Prinzipien: Sie sind unverzichtbar, wenn man eine Welt will, die gerecht ist; sie sind aber so idealistisch konzipiert, dass sie oft nur Worte bleiben – Papier. Auch das war, in vielem, eine Tatsache, die als Grundlage im entweder zynisch oder realpolitisch zu nennenden Spiel der Weltmächte irgendwie akzeptiert wurde. Wie gesagt: Interessen sind real. Lügen sind nicht nur ein individuelles Charakterdefizit.

Eine bessere Welt muss immer wieder neu erstritten werden; dazu braucht es Ideale und auch den Willen, ab und zu davon abzusehen. Der Krieg im Gazastreifen hat das im Grunde nur noch ein weiteres Mal deutlich gemacht: Menschenrechte gelten nicht für alle Menschen gleich, auch wenn sie universell genannt werden; und mit der geopolitischen Struktur zerfällt auch die rechtliche Struktur der Nachkriegsordnung seit 1989.

Moralische Schwäche des Westens

Was anders ist, ist nicht nur die Intensität des Sterbens, die hohe Zahl der Opfer, die Drastik der Situation. Was anders ist, ist eine offensichtliche moralische Schwäche des Westens, verbunden mit einer realen Schwächung im geopolitischen Kontext. Was anders ist, ist die tiefergehende und bleibende Erschütterung des Konzepts des Universalismus.

Die Bilder und Nachrichten aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen, genauso wie immer noch die Bilder und Schilderungen der Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Diese beiden Ereignisse, die so schwer zu trennen sind und die doch auch getrennt gesehen werden müssen, wenn man den jeweiligen Schrecken anerkennen will. Das ist nicht leicht für viele, und es sind Juden und Jüdinnen, die sich verraten fühlen seit dem 7. Oktober, genauso wie Palästinenser und Palästinenserinnen.

Im Grunde ist der Universalismus der Versuch einer Antwort auf dieses Dilemma: Das Leid ist immer partikular, konkret, vor Ort; die Lösung erfordert übergreifende Prinzipien, Werte, Maßstäbe. Das Verbindende ist damit die Abstraktion der Werte; genau die Werte, die immer dann beschworen werden, wenn sie gerade passend erscheinen – wie oft etwa wurde gesagt, dass die Ukraine für „unsere“ Werte kämpft? Und was ist mit „unseren“ Werten nun, da es um andere Opfer geht, um einen anderen Krieg?

Wie gesagt, die Lügen und die Heuchelei sind keine menschheitsgeschichtlichen Erfindungen der letzten fünf Monate; aber es ist nun mal so, dass in den vergangenen Jahren des Kulturkampfes der Diskurs von Werten, Freiheit, vom Westen mehr als sonst wie eine Rute benutzt wurde, um anderen eins mitzugeben – solange es eben um die eigene Sache ging.

Den Tod nicht einfach hinnehmen

All die hohlen Bücher über Cancel Culture und die Freiheit der Rede und der Kunst – wo sind denn die Au­to­r*in­nen heute, wenn reihenweise Menschen ausgeladen werden, wenn viele und nicht zu Unrecht den Eindruck haben, dass Meinungen zensiert werden, dass damit die Grundlage der Demokratie aus der Mitte heraus gefährdet wird? All die Forderungen, dass etwa Menschen, die nach Deutschland kommen, sich zu „unseren“ Werten bekennen müssen.

Wie sind diese Werte zu finden in den Ruinen von Gaza, wie kann man einen universellen Zynismus zur Grundlage eines opportunistischen Wertesystems machen? Noch mal: Für mich sind die Schrecken des 7. Oktobers nicht zu trennen von dem, was danach passierte; und sie sind doch zu trennen, weil nicht jeder, der von Leid betroffen ist, das Leid der anderen sehen kann und will. Universalismus ist eine unmögliche Idee, das ist die Provokation.

Und es ist natürlich absurd, wenn dann ausgerechnet eine Lesung der universalistischen Denkerin Hannah Arendt von in diesem Fall propalästinensischen Protesten gestört wird, wie gerade geschehen im Hamburger Bahnhof in Berlin. Aber es ist auch nur ein Bestandteil einer Wirklichkeit, die sehr grundsätzlich aus den Fugen geraten ist.

Die eigentliche Erschütterung findet woanders statt, und es ist sehr durchschaubar, wenn sich viele vor allem auf die Reaktionen konzentrieren, die Auswirkungen, die man diskursiv leichter verhandeln kann als die Gründe. Der Universalismus ist schon viele Tode gestorben, jeden Tag an den europäischen Außengrenzen, in Gaza, in den Lagern der Uiguren, mit jedem Krieg und jeder Hungersnot und letztlich als Wesen des Systems selbst, das auf dem Universalismus der pekuniären Art beruht, dem Kapital.

Nicht jeder Tod kann verhindert werden; aber wenn der Tod so hingenommen wird, wie gerade in Gaza, und wenn die Konsequenzen bis weit in diese Gesellschaft hineinwirken, dann zerfasert das bisschen Konsens, das es braucht, damit die universellen Werte, wenn überhaupt, verbindend sein können.

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12 Kommentare

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    Die Moderation

  • Danke für diesen Artikel von Georg Diez.

  • "Universalismus ist eine unmögliche Idee, das ist die Provokation."

    Nur weiter so ... die Linke zerstört so den einzigen Bezugsrahmen für eine bessere Welt, der ihr noch geblieben ist.

    Marx und Co. haben sich einst zum Ziel gesetzt, klarzumachen, dass die Verheißungen der bürgerlichen Revolution (die in der Menschenrechtsidee wurzelte) nur realisiert werden können, wenn die Produktionsverhältnisse geändert und so die materielle Grundlage für universelle Gleichheit geschaffen würde.

    Der enttäuschte Georg Diez analysiert nicht mehr, sondern verwirft gleich die ganze brillante Idee von Freiheit und Gleichheit aller Menschen.

    By the way (mit Blick auf den Nahostkonflikt): Warum kann ich eigentlich nicht beide Seiten massiv für ihre Verletzungen der Menschenrechte kritisieren? Statt mich in Argumentationsketten zu verstricken (wie der Autor), in denen Klarheit und Eindeutigkeit völlig verloren geht.

    • @Plewka Jürgen:

      Können Sie das nicht?

  • Die Hamas ist der Angreifer. Und das auch noch auf besonders grausame, abscheuliche Art. Das trübt leider unsere (universalistsch gedachte) Anteilnahme am darauf folgenden Leid in Gaza. Würden wir auch nur den Hauch einer Auflehnung der palästinensischen Bevölkerung gegen ihre Terrorherren sehen, die sie regelmäßig in solches Grauen hineinziehen, wären Mitgefühl und Solidarität mit Sicherheit um Dimensionen größer. Stattdessen haben wir leider "zivile" Palästinensers gesehen, die entkommene Geiseln wieder eingefangen haben oder gar am Massaker selbst beteiligt waren. Das rechtfertigt zwar keineswegs alle Aspekte des Vorgehens der IDF (das Fehlen sicherer und versorgter Aufenthaltsorte für die palästinensische Zivilbevölkerung ist skandalös), aber für Israel kann es keine Alternative dazu geben, die Hamas militärisch vollständig auszuschalten. Und deren Kämpfer verschanzen sich hinter und unter den Körpern unschuldiger Menschen, das ist entsetzlich.

  • Wenn die gesellschaftliche Praxis an den normativen Prinzipien scheitert, dann folgt daraus doch wohl die Kritik an dieser Praxis. Georg Diez will hingegen die normativen Prinzipien runterkochen, denn: „sie sind aber so idealistisch konzipiert, dass sie oft nur Worte bleiben“.



    Und weiter: „Menschenrechte gelten nicht für alle Menschen gleich, auch wenn sie universell genannt werden“. „Universelle Geltung“ hat der Anspruch, der freilich immer wieder verletzt wird. Überhaupt wird etwa die Menschenwürde in der Praxis immer wieder angetastet, was nicht dazu verleiten sollte den Anspruch über Bord zu werfen.



    Das gleiche Problem gilt bei der Heuchelei: dass Menschen die Prinzipien, die sie einfordern, selbst nicht einhalten, wirft ein schlechtes Licht auf diese Menschen, frisst aber doch nicht notwendigerweise diese Prinzipien an.



    Georg Diez vermag eine „tiefergehende und bleibende Erschütterung des Konzepts des Universalismus“ nicht triftig zu begründen, an mehreren Punkten gehen „Sollen“ und „Sein“ komplett durcheinander.

  • Krieg in Nahost: Die Tode des Universalismus

    Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte.



    von Georg Die

    Es ist wunderbar, dass Georg Diez sich hier für den Universalismus stark macht. Er bedauert, dass es das nicht mehr gebe. Falsch.



    Wessen Stellungnahmen werden, auch von der TAZ, immer wieder zitiert? Richtig, die von Papst Franziskus. Universalismus "at its best". Und wenn wir mal hinter den Vorhang der manchmal billigen laufenden Polemik gegen "die katholische Kirche" schauen würden, würden wir feststellen, wie Millionen von Glaubenden weltweit den Universalismus der Liebe Gottes in eine mitfühlende und gerechtigkeitsfördernde Praxis bringen, auch in den caritativen Organisationen und christlichen Friedensgruppen, auch quer zu so manchen ideologisch einseitigen Akteuren. Was wäre die Welt ohne.

  • > und sie sind doch zu trennen

    und dadurch geht der Kontext verloren.

    Menschenrechte sind ein Ziel. Wie stark dürfen Menschenrechte beim Kampf gegen jene verletzt werden, die sie komplett ablehnen?

    Die Frage ist ähnlich dem Pazifismus: Verteidigen wir uns, wenn jemand versucht, unser Land zu erobern und uns dann in weitere Kriege zu zwingen? Verteidigen wir uns nicht, gibt mittelfristig es mehr Krieg. Verteidigen wir uns, gibt es kurzfristig mehr Krieg, aber mittelfristig weniger. Sollten wir dadurch das Ziel des Friedens aus den Augen verlieren, gibt es langfristig mehr Krieg.

    Oder auch der Toleranz: Toleranz für Intolerante zerstört die Toleranz.

    Und natürlich wird das durch die nötige Differenzierung komplizierter, weil es eben nicht nur zwei Seiten gibt, sondern auf jeder Seite unterschiedliche Gruppen — und für bleibenden Frieden müssen auf beiden Seiten die gewinnen, die Frieden wollen.

    • @Arne Babenhauserheide:

      Aber wie ist es denn? Die Ukraine verteidigt sich, denn sie wird fortwährend angegriffen.

      Israel hat sich de facto nicht verteidigt, denn es wurde nach Jom Kippur ein zweites Mal kalt erwischt, weil es sich zu sicher fühlte. Damals haben sie sich verteidigt, denn es war ein Angriffskrieg über mehrere Wochen.

      Diesmal?

      Es ist die gleiche "Verteidigung" wie die Antwort der Amerikaner & Co. auf die Anschläge vom 11.9. Auf ein schreckliches, aber punktuelles Ereignis wird mit langandauerndem Krieg geantwortet. Das wird zwar begründet, läuft jedoch heute wie damals ins Leere, denn die Gründe sollen nur eine Motivation kaschieren:

      Rache! Dazu kommen diverse Intentionen der jeweiligen Machthaber.

      Die universellen Ideen sind in beiden Fällen bereits vorher gestorben.

      • @Trolliver:

        Kriege zwischen regulären Armeen zu vergleichen mit Kriegen gegen Terrororganisationen ist ein Vergleich von Äpfeln und Birnen. Im letzteren Fall verstecken sich die Terroristen unter den Zivilisten, tragen meist keine Uniformen oder Hoheitszeichen, die reguläre Armee hat es also schwer den Gegner aufzuspüren und zu identifizieren; entsprechend hoch fällt der Opferanteil der Zivilisten aus und deswegen zieht sich der Kampf in die Länge.

        Der Unterschied entspringt aus der Missachtung des Kriegsvölkerrechts durch die Terroristen, welches gebietet, dass Kombattanten ein festes und erkennbares Abzeichen und ihre Waffen offen tragen müssen; welches meuchlerisches Vorgehen und die Benutzung von Zivilisten als Schutzschilde verbietet.

        Unter den Menschenrechten gibt es u.a. ein Recht auf Leben und Sicherheit der Person, usw. Im Krieg hat aber kein Soldat das Recht darauf, dass sein Leben und Sicherheit vom Kriegsgegner geachtet wird (solange er sich nicht ergeben hat). Und Zivilisten haben nur das Recht, nicht mit dem Ziel beschossen zu werden getötet zu werden; eine Verpflichtung zivile Opfer unter allen Umständen zu vermeiden gibt es nicht.

        Menschenrechte sind die Rechte von einzelnen Personen gegenüber den Staaten auf dem Gebiet, welches die jeweiligen Staaten beherrschen. Sie sollten universell gelten, weil deren Missachtung zu Ungerechtigkeit und Leid führt.

        Das Kriegsvölkerrecht hingegen legt den Kriegsführenden Verpflichtungen gegenüber ihren Gegnern auf. Diese sollten universell gelten, weil deren Missachtung zu Ungerechtigkeit und Leid führt.

        Der Autor ist einfach dem Irrtum erlegen, dass er meint, der Missstand entspringe aus der Missachtung der Menschenrechte; dabei ist es das Kriegsvölkerrecht, welches Missachtet wird.

      • @Trolliver:

        "nur eine Motivation" — nach dem 7.10. wurde klar, dass der Schaden durch die Hamas nicht einfach durch eine Pufferzone und Raketenabwehr eingedämmt werden kann. Die Hamas muss entwaffnet werden, sonst ist der Fortbestand Israels gefährdet.

        Das ist die legitime Motivation hinter Angriffen auf die Hamas.