Krieg in Nahost: Die Tode des Universalismus
Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte.
D ie Menschenrechte, so schreibt der amerikanische Rechtsphilosoph Sam Moyn, sind eine gute Idee mit einer schwierigen Geschichte. Wir könnten die Welt, wie wir sie heute, vom Westen aus, denken, nicht ohne die Menschenrechte denken, die notwendigerweise universell sein müssen, sonst wären es keine Menschenrechte. Sie sind ein Ergebnis der Französischen Revolution und ihrer Werte von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Sie wurden zur Grundlage der Weltordnung nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts.
Schwierig ist die Geschichte, weil niemand so naiv war zu glauben, dass diese universellen Menschenrechte jenseits von Ideologie und Interessen existieren, im luftleeren historischen Raum sozusagen. Moyn etwa beschreibt in seinem Buch „Not Enough“ für die Nachkriegszeit nach 1945, wie sich der Diskurs der Menschenrechte parallel zum Diskurs über den Markt entwickelte – kurz gesagt: Je freier und radikaler der Markt gedacht wurde, desto lauter und letztlich leerer wurde die Rede über die Menschenrechte; sie waren das ideale rhetorische Mittel, das man fordern konnte, aber nicht durchsetzen musste.
Das ist das Problem mit solchen großen Prinzipien: Sie sind unverzichtbar, wenn man eine Welt will, die gerecht ist; sie sind aber so idealistisch konzipiert, dass sie oft nur Worte bleiben – Papier. Auch das war, in vielem, eine Tatsache, die als Grundlage im entweder zynisch oder realpolitisch zu nennenden Spiel der Weltmächte irgendwie akzeptiert wurde. Wie gesagt: Interessen sind real. Lügen sind nicht nur ein individuelles Charakterdefizit.
Eine bessere Welt muss immer wieder neu erstritten werden; dazu braucht es Ideale und auch den Willen, ab und zu davon abzusehen. Der Krieg im Gazastreifen hat das im Grunde nur noch ein weiteres Mal deutlich gemacht: Menschenrechte gelten nicht für alle Menschen gleich, auch wenn sie universell genannt werden; und mit der geopolitischen Struktur zerfällt auch die rechtliche Struktur der Nachkriegsordnung seit 1989.
Moralische Schwäche des Westens
Was anders ist, ist nicht nur die Intensität des Sterbens, die hohe Zahl der Opfer, die Drastik der Situation. Was anders ist, ist eine offensichtliche moralische Schwäche des Westens, verbunden mit einer realen Schwächung im geopolitischen Kontext. Was anders ist, ist die tiefergehende und bleibende Erschütterung des Konzepts des Universalismus.
Die Bilder und Nachrichten aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen, genauso wie immer noch die Bilder und Schilderungen der Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Diese beiden Ereignisse, die so schwer zu trennen sind und die doch auch getrennt gesehen werden müssen, wenn man den jeweiligen Schrecken anerkennen will. Das ist nicht leicht für viele, und es sind Juden und Jüdinnen, die sich verraten fühlen seit dem 7. Oktober, genauso wie Palästinenser und Palästinenserinnen.
Im Grunde ist der Universalismus der Versuch einer Antwort auf dieses Dilemma: Das Leid ist immer partikular, konkret, vor Ort; die Lösung erfordert übergreifende Prinzipien, Werte, Maßstäbe. Das Verbindende ist damit die Abstraktion der Werte; genau die Werte, die immer dann beschworen werden, wenn sie gerade passend erscheinen – wie oft etwa wurde gesagt, dass die Ukraine für „unsere“ Werte kämpft? Und was ist mit „unseren“ Werten nun, da es um andere Opfer geht, um einen anderen Krieg?
Wie gesagt, die Lügen und die Heuchelei sind keine menschheitsgeschichtlichen Erfindungen der letzten fünf Monate; aber es ist nun mal so, dass in den vergangenen Jahren des Kulturkampfes der Diskurs von Werten, Freiheit, vom Westen mehr als sonst wie eine Rute benutzt wurde, um anderen eins mitzugeben – solange es eben um die eigene Sache ging.
Den Tod nicht einfach hinnehmen
All die hohlen Bücher über Cancel Culture und die Freiheit der Rede und der Kunst – wo sind denn die Autor*innen heute, wenn reihenweise Menschen ausgeladen werden, wenn viele und nicht zu Unrecht den Eindruck haben, dass Meinungen zensiert werden, dass damit die Grundlage der Demokratie aus der Mitte heraus gefährdet wird? All die Forderungen, dass etwa Menschen, die nach Deutschland kommen, sich zu „unseren“ Werten bekennen müssen.
Wie sind diese Werte zu finden in den Ruinen von Gaza, wie kann man einen universellen Zynismus zur Grundlage eines opportunistischen Wertesystems machen? Noch mal: Für mich sind die Schrecken des 7. Oktobers nicht zu trennen von dem, was danach passierte; und sie sind doch zu trennen, weil nicht jeder, der von Leid betroffen ist, das Leid der anderen sehen kann und will. Universalismus ist eine unmögliche Idee, das ist die Provokation.
Und es ist natürlich absurd, wenn dann ausgerechnet eine Lesung der universalistischen Denkerin Hannah Arendt von in diesem Fall propalästinensischen Protesten gestört wird, wie gerade geschehen im Hamburger Bahnhof in Berlin. Aber es ist auch nur ein Bestandteil einer Wirklichkeit, die sehr grundsätzlich aus den Fugen geraten ist.
Die eigentliche Erschütterung findet woanders statt, und es ist sehr durchschaubar, wenn sich viele vor allem auf die Reaktionen konzentrieren, die Auswirkungen, die man diskursiv leichter verhandeln kann als die Gründe. Der Universalismus ist schon viele Tode gestorben, jeden Tag an den europäischen Außengrenzen, in Gaza, in den Lagern der Uiguren, mit jedem Krieg und jeder Hungersnot und letztlich als Wesen des Systems selbst, das auf dem Universalismus der pekuniären Art beruht, dem Kapital.
Nicht jeder Tod kann verhindert werden; aber wenn der Tod so hingenommen wird, wie gerade in Gaza, und wenn die Konsequenzen bis weit in diese Gesellschaft hineinwirken, dann zerfasert das bisschen Konsens, das es braucht, damit die universellen Werte, wenn überhaupt, verbindend sein können.
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