Kinder- und Jugendparlament in Berlin: Wahlfach Mitbestimmung
In Berlins vermeintlichem Problembezirk Neukölln versuchen Kinder und Jugendliche ein eigenes Parlament einzurichten – eine Lehrstunde in Demokratie.
U m 18:45 Uhr fragt der zwölfjährige Hadi: „Wie lange dauert das noch?“ Arda zuckt mit den Schultern, er ist 15 und weiß es auch nicht. Seit fast zwei Stunden sitzen die beiden mit vier anderen Kindern und Jugendlichen an einem Mittwochabend im Dezember 2023 in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Neukölln oben auf der Zuschauertribüne. Hadi schaut auf sein Handy, zockt irgendwas, Anita sagt: „das ist super langweeeeilig“, und zieht die Wörter so lang, wie sich der Abend für sie anfühlt. Die Politiker:innen unten sind mittlerweile bei Punkt 8.4 der Tagesordnung angelangt, Hadi, Arda und die anderen sind erst bei Punkt 12.10 dran. Jonathan schüttelt seine Beine, die sind ihm eingeschlafen.
Politik ist mühsam, zäh und unverständlich, das scheint die erste Lektion zu sein, die die sechs Kinder und Jugendlichen hier lernen. „Wir sind damit am Ende der mündlichen Anfragen“, sagt der Vorsitzende der BVV irgendwann. Die Abstimmung darüber, ob Neukölln ein rede- und antragsberechtigtes Kinder- und Jugendparlament bekommen soll, wird vorgezogen. „Jetzt seid ihr dran“, flüstert die Sozialarbeiterin Caro Salzmann durch die Reihe.
Hadi steckt sein Handy weg und rückt auf seinem Sitz ein Stück nach vorne. Er beugt sich über die für ihn ein bisschen zu hohe Brüstung. Im April 2019 hatte die SPD einen Antrag in der BVV eingereicht, in dem das Bezirksamt Neukölln gebeten wurde, die Einführung eines Kinder- und Jugendparlaments für Neukölln zu prüfen. Jetzt, fünf Jahre später, ist es so weit, und es wird abgestimmt, ob die Kinder und Jugendlichen auch hier, in der BVV, sprechen und Anträge einreichen dürfen. Ohne dieses Recht hätte das Parlament keinen tatsächlichen Einfluss und die ganze Beteiligung wäre mehr Spiel als Ernst.
Damals, vor fünf Jahren, hat sich das Kinder- und Jugendbüro Neukölln der Sache angenommen und Veranstaltungen organisiert, um Kinder und Jugendliche für das Projekt zu begeistern. Eine wechselnde Gruppe von etwa 20 Kindern und Jugendlichen hat sich geformt, die sogenannte Initiativgruppe.
Die hat sich dann fast allein um alles gekümmert. Sie haben E-Mails geschrieben, sich mit Abgeordneten getroffen und sich Regeln für die Geschäftsordnung des KJPs überlegt. Auch während Corona sind sie drangeblieben. Ihnen sei es von Anfang an wichtig gewesen, zu verhindern, dass sich wieder nur die engagieren, die eh schon Schülersprecher:innen sind oder deren Eltern schon politisch aktiv sind.
Im Hintergrund haben ihnen Sozialarbeiterinnen den Rücken freigehalten und für Süßigkeiten gesorgt: Caro Salzmann und Susi Hermann. Susi Hermann wird vom Bezirksamt bezahlt. Caro Salzmanns Stelle wurde in diesem Jahr neu geschaffen. Die hatte die Initiativgruppe, also die Kinder und Jugendlichen selbst, beim Bezirksamt gefordert – mit Erfolg. Angestellt ist Salzmann über den freien Träger „Demokratie & Dialog“.
Auf der BVV-Ebene hat die Gruppe Unterstützung von den Grünen, der SPD und den Linken. Die CDU ist skeptisch gegenüber dem Antrag auf Antrags- und Rederecht, die AfD hat sich auf die erste Mail der Initiativgruppe nie zurückgemeldet. Kurz vor der entscheidenden BVV-Sitzung am 13. Dezember lautet die spannende Frage für die Jugendlichen und Sozialarbeiter:innen, ob die Stimmen der Grünen, SPD und Linken reichen werden.
Neukölln taucht meist dann in den Medien auf, wenn es um schlechte Nachrichten geht: um Jugendgewalt, um gescheiterte Integration oder um muslimischen Antisemitismus. In der Silvesternacht 2022 waren da die „Krawalle“ in Neukölln, die eine bundesdeutsche Debatte über verfehlte Migrationspolitik auslösten. Da war im heißen Sommer 2023 eine überhitzte Sommerlochdiskussion über scheinbar außer Kontrolle geratene Jugendgewalt im Freibad. Nach dem Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober fanden im muslimisch geprägten Neukölln Pro-Palästina-Demonstrationen auf dem Hermannplatz statt.
Im KJP soll den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, mitzureden, statt dass nur über sie gesprochen wird. Sie sollen ihre eigenen Themen setzen können. Aber ob sie ihre Stimme in der BVV erheben dürfen, wird immer noch von Erwachsenen entschieden.
Rückblende. Fast einen Monat vor der Abstimmung in der BVV, am 20. November, sitzt Mohammad aufgeregt auf seinem Stuhl in der großen Mehrzweckhalle auf dem Campus Rütli, der einst notorischsten Schule Deutschlands. Heute findet hier die Auftaktveranstaltung des Kinder- und Jugendparlaments Neukölln statt. Die Initiativgruppe, die seit 2019 aktiv war, soll heute präsentieren, was sie bisher geschafft hat. Ein aufregender Tag für die Jugendlichen.
Mohammad ist zehn Jahre alt und er hat ein verdammt breites Grinsen im Gesicht, er hofft, heute berühmt zu werden. Susan sagt: „Der redet schon seit Wochen von nichts anderem mehr.“ Sie verdreht die Augen. Susan ist 17 Jahre alt, sie fläzt sich auf ihrem Stuhl in einem grauem, kuscheligen Jogginganzug und diskutiert mit Mohammad über den besten Fußballer der Welt.
Mohammad und Susan sitzen hier mit 70 anderen Kindern und Jugendlichen, manche von ihnen wurden von ihren Eltern gebracht, andere sind allein gekommen oder in Begleitung von Sozialarbeiter:innen. Sie wachsen in einem Umfeld auf, in dem Lehrer:innen, Medien und Menschen irgendwo außerhalb von Berlin schon eine Meinung zu ihnen haben, bevor sie selbst wissen, wer sie eigentlich sind. Was sie wissen, ist, dass sie offenbar in einem Bezirk leben, den die Erwachsenen „Problembezirk“ nennen.
An diesem Montag werden auch die Kinder und Jugendlichen von schlecht ausgestatteten Schulen erzählen, von dreckigen Matratzen auf der Straße und von den vielen Obdachlosen. Sie werden von ihrer Angst vor der AfD erzählen und von Lehrer:innen, die im Unterricht Dinge sagen, die sie als rassistisch und diskriminierend empfinden. Sie werden erzählen, dass ihnen von manchen Lehrer:innen in der Schule gesagt werde, dass sie früher oder später selbst Teil des Problems sein werden.
Die Kinder und Jugendlichen hatten drei Möglichkeiten, um beim KJP mitzumachen. Jede Schule, jede Freizeiteinrichtung und jeder Sportverein in Neukölln konnte Wahlen abhalten, um Abgeordnete zu bestimmen. Susan und Mohammad sind beide in ihrem Heimat-Jugendzentrum gewählt worden, dem Kindertreff Delbrücke.
Außerdem wurden 150 Kinder und Jugendliche aus den 45.000 Personen zwischen 6 und 21 Jahren, die in Neukölln gemeldet sind, per Losverfahren ausgewählt. 22 der 150 angeschriebenen Kinder und Jugendlichen hätten sich zurückgemeldet. „Das ist ziemlich gut“, findet Caro Salzmann. Schließlich konnten sich Kinder und Jugendliche auch eigeninitiativ bewerben. So seien die meisten hergekommen, sagt die Sozialarbeiterin.
Die Anwesenden werden ihrem Alter entsprechend in Gruppen aufgeteilt. Vorne rechts in der Halle sitzen die 15- bis 18-Jährigen. Sie sollen den Flyer vorlesen, in dem die Arbeitsweise des KJPs erklärt wird. Fünfmal im Jahr soll sich das gesamte KJP treffen, dort sollen Inhalte diskutiert und Forderungen aufgestellt werden. Jemand stellt Baklava in die Runde, ein Junge in schwarzem Kapuzenpulli, schwarzer Jogginghose und leichtem Bartwuchs sagt: „Junge, da hab ich Bock drauf.“
Dem KJP wird ein jährliches Budget aus dem Bezirkshaushalt zugesprochen, wie viel das in diesem Jahr sein wird, ist noch nicht ganz klar. Im vergangenen Jahr waren es 16.000 Euro, und die wurden vor allem genutzt, um Werbematerial und Wahlunterlagen zu finanzieren.
Der Großteil der inhaltlichen Arbeit soll in den sogenannten Arbeitsgruppen stattfinden, die sich etwa einmal im Monat treffen werden. Die Ergebnisse werden dann in die großen Sitzungen getragen und von da aus in das Bezirksparlament Neukölln, die BVV. Die Arbeitsgruppen werden sich nach der Schule treffen, sagt der Betreuer. Leicht genervte Blicke zur Seite: doch nicht schulfrei. „Das fühlt sich nicht wie Arbeit an, wenn man Spaß dran hat!“, sagt der Betreuer, sichtlich bemüht, Motivation zu vermitteln.
Lisa meldet sich und sagt, Antirassismus-Aufklärung läge ihr sehr am Herzen. Luisa sagt, dass es in Berlin einen krassen Lehrermangel gebe, Lehrer würden deswegen in Fächern unterrichten, von denen sie keinen Plan hätten. „Meine Schule hat Geräte“, sagt ein Mädchen mit glatten rot-blonden Haaren, „die sind älter als wir alle.“ Lautes Lachen. „Ein Overheadprojektor ist mal explodiert.“ Ihre Worte sind Ausrufezeichen, sie sagt sie aber so, als würde sie das alles, die Overheadprojektor und die Veranstaltung hier, eigentlich nicht interessieren.
Drei Mädchen in der Runde können nicht so gut Deutsch, eine meldet sich vorsichtig und reicht ihren Zettel dem Betreuer, der liest vor: „Saubere U-Bahnhöfe“. Der Betreuer schreibt auf das Flipchart „sauberes Neukölln“. Auf dem Zettel der anderen steht „Bücherei“, sie behält ihren Zettel in der Hand und meldet sich nicht.
Arda, Schüler, 15
Im Gegensatz zu den Älteren ist die Gruppe der 11- und 12-Jährigen kaum zu bändigen. Sie diskutieren über Barrierefreiheit an U-Bahnhöfen, darüber, ob es jetzt genug oder zu wenig Fahrstühle gibt, über Obdachlose, die nicht obdachlos sein wollen, und über Rassismus, ihre Forderung: „weniger Rassismus“. Über bessere Bezahlung für Busfahrer („damit die bessere Laune haben“) und für Reinigungskräfte („damit es sauberer ist“).
Am Ende will der Betreuer, dass sie gemeinsam entscheiden, was ihnen am wichtigsten ist. Sie einigen sich auf „mehr Obdachlosenhäuser“. Der Betreuer fragt, wer das bezahlen soll. Ein Mädchen überlegt, sagt „der Staat“, der Junge links daneben grinst schelmisch: „Wir ziehen den Staat ab.“
Am Nachmittag kommen einige Politiker:innen vorbei. Ein paar Kinder wollen Selfies machen mit dem SPD-Bezirksbürgermeister. Martin Hikel beugt seinen langen Körper runter zu den kleinen Kinderköpfen. Viele der Politiker:innen sind von der CDU. Markus Oegel ist Fraktionsvorsitzender der CDU Neukölln. Er sagt: „Ich finde die Idee gut, lediglich der Weg muss noch einmal diskutiert werden.“ Er sagt auch, er fände es schade, dass die Kinder bisher noch nicht geredet hätten in den sie betreffenden Ausschüssen. Eingeladen habe er sie aber auch nicht, gibt er zu, und Ausschüsse finden normalerweise in den Abendstunden unter der Woche statt – nicht gut kompatibel mit einem frühen Schulstart am nächsten Morgen.
Die Jugendlichen der Initiativgruppe erzählen, sie hätten im Vorfeld alle Fraktionen kontaktiert, um ihnen ihr Vorhaben und Anliegen zu erklären. Die CDU-Fraktion habe folgenden Termin vorgeschlagen: Halloween, 18 Uhr. Die Kinder und Jugendlichen haben mithilfe von ChatGPT eine Antwort verfasst. Ihre Anweisung an ChatGPT war, „auf Beamtendeutsch“ zu erklären, warum so ein Vorschlag respektlos sei.
Die Betreuer:innen fassen auf der Bühne zusammen, was die Kinder und Jugendliche am meisten zu beschäftigen scheint: soziale Gerechtigkeit beziehungsweise das Gegenteil davon: soziale Ungerechtigkeit. Die möglichen Themen für die Arbeitsgruppen, die heute herausgearbeitet wurden, sind folgende: Klima, Spenden, Verkehr, Diversität, Inklusion, Spielplätze, Freizeit, Schule und Sicherheit. Die Belange, die die Kinder und Jugendlichen beschäftigen, gehen also weit über das kommunale und ihr eigenes Interesse hinaus.
Ein Anruf beim Politikberater und Beteiligungsexperten Erik Flügge. Das Ziel von Kinder- und Jugendbeteiligung sei zweigeteilt, sagt er. Es gehe einerseits um politische Bildung und andererseits um tatsächliche politische Mitbestimmung, als Ersatz dafür, dass Kinder und Jugendliche nicht wählen dürfen. Er sagt: „Was politische Bildung angeht, ist ein KJP eher schwach, weil das Miterleben begrenzt ist auf diejenigen, die tatsächlich mitmachen.“
Die 90 Kinder des KJP-Neukölln bilden nur 0,2 Prozent der 45.000 gemeldeten Kinder und Jugendlichen in Neukölln ab. Diejenigen, die Teil des Parlaments sind, erfahren aber ein selbstermächtigendes Gefühl von politischer Teilhabe, wenn sie auf kommunaler Ebene tatsächlich mitwirken dürfen.
In der Hinsicht ist das Kinder- und Jugendparlament ein starkes Instrument der Teilhabe. Man dürfe die Erwartungen an ein KJP nicht überfrachten, denn: Sowieso könne kein Modell „alle Probleme auf einen Schlag lösen“, sagt Flügge. Es brauche eine breite Demokratiebildung, die neben der Stärkung von Schülervertretungen, der Demokratisierung von Jugendzentren und projektbasierten Initiativen auch umfasst, Eltern dabei zu unterstützen, bereits zu Hause Demokratie zu leben.
Das KJP-Neukölln soll erst mal für ein Jahr laufen, dann soll es eine neue Wahlperiode geben. Wenn die Beteiligten aber merken, dass ein Zweijahresrhythmus sinnvoller ist, weil die Arbeitsgruppen gerade erst ins Arbeiten gekommen sind, kann das auch angepasst werden, sagt Caro Salzmann.
Wie schwerfällig so ein Projekt ist, merken die Kinder und Jugendliche das erste Mal an dem Wochenende nach dem 20. November, als sich etwa 30 von ihnen im Wannseeforum versammeln, ein Tagungsort etwas außerhalb von Berlin. Hier am Wannsee liegen keine Matratzen auf der Straße, kein Dreck, keine Spritzen, nur Grün und Wasser, so weit das Auge reicht. Hier, wo die Unterschiede zu Neukölln ins Auge springen, sollen die Kinder und Jugendliche lernen, ihre Stimme zu finden.
Vorne stehen Vinzenz Sengler und Christina Rogers, zwei Sozialpädagog:innen, die auch das KJP in Charlottenburg begleiten, das es bereits seit fast 20 Jahren gibt. Sie erzählen von Methoden, von bewährten Strukturen und davon, wenn Politiker:innen die Kinder doch nur scheinbar beteiligten, „wenn Politiker sich nur mit euch dekorieren“. Die Kinder rutschen über den Vormittag hinweg immer weiter auf ihren Stühlen runter, schauen raus. Die Luft ist längst weggeatmet.
Christina Rogers und Vinzenz Sengler haben die KJPs in Charlottenburg und in Hellersdorf-Marzahn mehrere Jahre begleitet. Sie wissen, dass die Begleitkräfte enorm wichtig sind, dass es wichtig ist, dass jemand wie Caro Salzmann eine Stelle hat und diese engagiert ausführt. Dass die Eltern wichtig sind, die den Kindern erlauben, sich neben der Schule zu engagieren. Die Schulen, die den Kindern schulfrei geben, damit sie zu den Treffen können.
Kurzum: Rogers und Sengler sind sich bewusst, wie elementar die Rolle der Erwachsenen ist. Sie müssen es den Kindern möglich machen, sich zu engagieren. Auch dadurch, dass logistische Fragen geklärt werden. Beim KJP Hellersdorf-Marzahn habe es beispielsweise eine Diskussion darüber gegeben, wie die Kinder zu den Treffen kommen, wenn die Eltern sie nicht bringen können, erzählt Rogers. In einem Workshop seien dann verschiedene Transportmöglichkeiten diskutiert worden.
Das KJP Charlottenburg besteht bereits seit 2003. Auf seiner Website steht, dass es unter anderem an Fragen der Verkehrssicherheitsthemen beteiligt war, dass auf seinen Antrag hin eine neue Jugendfreizeiteinrichtung entstanden sei, weil das KJP gezeigt hätte, dass das Geld dafür vorhanden war, und dass durch sie die Reinigung von Spielplätzen „kinder- und bürgerfreundlich optimiert“ wurde.
Schülerin aus Neukölln
Deutschlandweit gibt es schon seit den 1960er Jahren KJPs. Das erste fand 1962 in Wolfsburg statt, in den 1980er Jahren wurde das Konzept vor allem in Baden-Württemberg angewendet. In einer kurzen Pause, in der sich die Erwachsenen Kaffee holen und die Kinder draußen rumspringen, frage ich Salzmann, das wievielte KJP in Berlin sie sind. „Das vierte“, sagt sie. Arda in weißem Trainingsanzug mischt sich ein: „Und das beste!“ Er grinst.
Dann wird es endlich wieder interaktiv. Die Kinder und Jugendlichen sollen in Gruppen besprechen, warum es das KJP geben soll und was das KJP in Neukölln besonders macht. „Die eigene Generation weiß besser, was sie braucht“, sagt ein Junge. Alle klatschen. Der nächste: „Erwachsene bestimmen für andere.“ Klatschen. Ein Mädchen sagt eloquent: „Politiker können wunderbar reden, aber da kommt nicht unbedingt was Sinnvolles bei raus“. Klatschen. Das rotblonde Mädchen, die an der Auftaktveranstaltung von den kaputten Overheadprojektoren gesprochen hatte, sagt: „Neukölln wird als Problembezirk gesehen.“ Pause. „Unsere Toiletten gehen nicht mehr auf. Wir müssen in die Politik rein, um was zu ändern.“ Klatschen.
Arda sagt: „Ältere haben zu viel Macht über uns, wir müssen uns einbringen.“ Klatschen. Yuri überlegt, rutscht auf seinen Händen herum und sagt dann: „Alten Leuten ist das häufig egal, weil sie nicht mehr lange leben.“ Klatschen. Yuri ist acht, er hat noch verdammt lange zu leben. Ein Mädchen sagt: „Wir Kinder sehen Neukölln anders als Erwachsene. Manche dreckigen Stellen sehen nur wir. Die fallen Erwachsenen nicht auf wegen dem Alltag, zum Beispiel Matratzen, die rumliegen.“ Sie redet noch von dem Schnee, der nicht liegen bleibt, und davon, dass sie die Erde noch bräuchten, dass sie für sie kämpfen müssten. Ihre Kinderstimme klingt dabei ziemlich ernst.
Dann geht es um die Frage, was das KJP in Neukölln besonders macht. Arda sagt: „Ich bin Kurde, du Russin“, er schaut das Mädchen mit den rotblonden Haaren an, „wir sind alle anders aufgewachsen und so. Wir sind anders als Marzahn, da ist alles deutsch. Wir haben mehr Wurzeln in anderen Ländern.“ Nachdem Arda geredet hat, sagt jemand: „Wie ein Löwe!“ Arda grinst stolz.
Er kann schon ganz gut reden, an seiner Schule ist er in der Politik-AG. Bis vor einem Jahr habe er in der High-Deck-Siedlung gewohnt, der berüchtigtsten Siedlung Neuköllns, dort, wo Leute hingehen, wenn sie erfahren wollen, wie es den Kindern und Jugendlichen in Neukölln wirklich geht. Jetzt lebt er in Rudow. Da sei einiges anders, meint er. Rudow ist ein Randbezirk von Neukölln, dort sind die Häuser flacher als am Hermannplatz und es gibt sogar einen Dorfplatz.
Einen Monat später, Anfang Dezember in der BVV, lehnt sich Hadi über die Brüstung, um besser zu sehen. Er erkennt den Bürgermeister wieder, „mit dem ich hab ich Sching, Schang, Schong gemacht“, ruft er. Neben ihm sitzt Arda in seinem wie immer weißen Pulli, mit seinem leichten Oberlippenbart und der Zahnspange, rechts daneben die 17-jährige Beril.
Jemand sagt unten: „Nur wenn die Bezirke funktionieren, funktioniert Berlin.“ Hadi, Arda und Beril klopfen laut auf die hölzerne Brüstung vor ihnen, das finden sie gut: Sie als Teil von Berlin, Neukölln als unabdingbarer Teil von Berlin. Unten geht es um die Schuldenbremse, um das fehlende Geld, um die Verträge, die nicht verlängert werden, und um die Kinder- und Jugendeinrichtungen, die darunter leiden werden. Es sei von allem zu wenig da. Ein CDU-Politiker sagt: „Geld sollte man haben, bevor man es ausgibt.“ Die anderen CDU-Politiker klopfen auf die Tische, der Rest des Saals verdreht die Augen. Jemand redet, es wird wieder laut geklopft, Hadi will mitmachen, Arda zischt ihn an, „hey, das ist einer von der AfD“.
Die Guten sind die Linken, Grünen und die SPD, die Bösen die CDU und ganz besonders die AfD. Diese Sichtweisen scheinen sich die Kinder schon einverleibt zu haben. Arda ist sogar SPD-Mitglied, einer aus der Initiativgruppe hat bei der Bundestagswahl Werbung für die Grünen gemacht. Und das beides, obwohl sie selbst noch nicht wählen dürfen.
Der nächste Sprecher ist wieder von der AfD, diesmal bleibt es leise oben im Zuschauerraum. Warum Hadi die AfD nicht mag? „Weil sie mich abschieben wollen, obwohl ich einen deutschen Pass habe“, sagt er. Er ist 12. „Die sind unfair. Die sollen sich mal vorstellen, sie kämen in ein anderes Land und würden so behandelt.“
Als der Antrag für die Abstimmung über das Rede- und Antragsrecht des KJPs vorgezogen wird und alle wieder aufmerksam zuhören, werden das erste Mal an diesem Abend die Kinder und Jugendlichen direkt angesprochen. Alle Fraktionen bis auf die AfD halten eine Rede zum Rede- und Antragsrecht. Ein Abgeordneter der Linken sagt: „Manche Kinder sind weiter als Erwachsene.“ Hadi macht ein ungläubiges Gesicht, shish, hat der das gerade wirklich gesagt? Die Kinder vergessen kurz, dass sie nicht klopfen dürfen, und hauen mit der flachen Hand auf die Brüstung.
Zweieinhalb Stunden mussten sie warten, bis darüber abgestimmt wird, ob ihr Engagement irgendeinen Einfluss haben wird. Am Ende steht es: 28 Stimmen dafür, 15 dagegen. Auf der einen Seite Linke, Grüne und SPD, auf der anderen CDU und AfD. Eine Stimme weniger und es hätte nicht gereicht.
Arda und Beril sitzen für ein kurzes Interview nach der Abstimmung noch auf einer Holzbank im Rathaus Neukölln. Auf dem Weg zur Toilette kommen ein paar Erwachsene vorbei. Eine Grünenpolitikerin, die sich wirklich für sie zu freuen scheint und ihnen ungefragt erzählt, dass sie auch immer noch nervös sei, wenn sie vor vielen Menschen spreche. Dann ein grauhaariger SPD-Politiker, der sagt: „Wenn man die anderen richtig anscheißen kann, macht’s auch Spass!“ Ein Lokaljournalist, ähnlich alt wie der SPD-Politiker, er hat einen Tipp für Arda und Beril, das Wichtigste seien die Fotos: „Wenig tun, viel Publicity!“ Arda und Beril nicken freundlich, es ist nicht zu erkennen, was sie von den Tipps halten.
Der nächste Termin für das KJP ist am 23. Januar. Caro Salzmann ist zuversichtlich, dass die Kinder wiederkommen, bisher hätten sich nur vier abgemeldet. Wenn im Sommer noch 70 am Start sind, sei das gut, sagt sie.
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