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Postkoloniale LinkeFrüher war es auch nicht besser

Nach 9/11 interessierte sich kaum wer für linken Antisemitismus. Das hat sich geändert. Aber statt Veranstaltungen zu canceln, wäre Aufarbeitung angesagt.

Schon damals mit Pali-Schal: Pro-palästinensische Demonstration am 13. April 2002 in Berlin Foto: imago

V om Alexanderplatz am Berliner Dom vorbei zum Leipziger Platz demonstrierten 11.000 Menschen, unter ihnen Mitglieder der Grünen und ein Palästinenser aus Neukölln, der seinen Kindern Sprengstoffgürtelattrappen umgebunden hatte. Es war Samstag, der 13. April 2002, ein halbes Jahr nach 9/11, zu Beginn der israelischen Militärreaktion auf die „Zweiten Intifada“, es war eine Demo unter dem Motto „Solidarität mit Palästina“.

Ich gehörte zu einer winzigen Gruppe – die Zahl 50 wäre schon übertrieben –, die sich an diesem 13. April auf der anderen Seite des Berliner Doms versammelte, unter dem Motto „Solidarität mit Israel“. Niemand interessierte sich damals für dieses kleine Häuflein Linker, außer andere Linke, die sie als Antideutsche mit Schuldkomplex beschimpften.

Damals wurden Veranstaltungen in Berlin-Neukölln, die sich mit Israel solidarisierten oder ein Hamburger Kino, das Claude Lanzmanns Film „Warum Israel“ zeigte, von Linken teilweise bewaffnet angegriffen. „Selbst schuld, wenn sie provozieren“, war alles, was jenen entgegenschlug, die damals den Antisemitismus im Antizionismus kritisierten.

Unser kleiner Haufen hatte am 14. April nochmals zu einer Solidaritätsdemo mit Israel aufgerufen, damit auch Juden und Jüdinnen, die den Schabbat einhalten, teilnehmen konnten. Wer nicht kam: die CDU, die SPD, die Grünen, die Linken, der Bundespräsident.

„Free palestine from german guilt“

Ich erzähle diese Geschichte aus mehreren Gründen: Zum einen, um daran zu erinnern, dass auch vor über 20 Jahren die laute Mehrheit auf der Straße die „Solidarität mit Palästina“ wichtiger war als die „Solidarität mit Israel“.

Es ist ganz sicher richtig, heute von einer neuen Dimension des eliminatorischen Antisemitismus durch die Hamas zu sprechen. Angesichts der Zustände auf „der Straße“ vor 20 Jahren bin ich nun vorsichtiger bei der Bewertung der heutigen Bedrohungslage und denke, es reicht nicht, die Zustände auf der Straße heranzuziehen. Dass antisemitische Straftaten zugenommen haben, ist ein Fakt. Aber allein die Debatten um BDS, documenta et al., auch wenn sie viel Mist anrichten, zeigen doch, dass hier eine qualitativ ganz andere Dimension der Auseinandersetzung mit Antisemitismus stattfindet als noch vor 20 Jahren.

Diese Gesellschaft hat sich verändert: Ein Grüner, der heute auf einer Demo mitliefe, die Selbstmordattentäter feiert, würde mutmaßlich binnen 24 Stunden über ein Parteiausschlussverfahren benachrichtigt werden.

Während sich der Mainstream vor 20 Jahren für die paar Dutzend Linken, die den Anti­semitismus von links kritisierten, nicht die Bohne interessierte, fehlen heute die paar Dutzend Studierenden, die vorm Auswärtigen Amt „Free palestine from german guilt“ gerufen ­haben, in keinem Essay, keiner Talkshow, keinem Beitrag, in dem es um Israelfeindlichkeit geht.

Dass das friedensbewegte Herz der Friedensbewegung bei Israel eher aussetzte, wurde damals selten thematisiert. Heute wird der Nachfolger der Friedensbewegung, „die postkoloniale Linke“ von Talkshow bis Vizekanzler für ihren Antisemitismus kritisiert.

Der Furor aber, mit dem die „postkoloniale Linke“ als Synonym für Terroristen benutzt wird, ist einigermaßen irre. Mit diesem Begriff nämlich wird vertuscht, dass postkoloniale Theorie, Kunst und Kultur hierzulande längst staatlich gefördertes Mainstreamprogramm ist.

Dass sich Kulturinstitutionen derzeit völlig verunsichert zeigen und reihenweise Veranstaltungen absagen, weist darauf hin, dass die Beteiligten selbst ahnen, dass sie was aufzuarbeiten haben. Zumindest, weil sie ahnen könnten, dass ihnen sonst Fördergelder wegbleiben. Wenn es etwas gibt, was man von Deutschland lernen kann, dann ist es wohl: Aufarbeitung lohnt sich. Aufarbeitung aber sieht anders aus als Veranstaltungen vor Angst, was Falsches zu sagen, zu canceln.

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Doris Akrap
Redakteurin
Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.
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5 Kommentare

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  • Die Logik find ich seltsame. Bis Aufarbeitung Erfolge verzeichnet dauert es ja. In der Zwischenzeit kann man die Antisemiten doch aber nicht einfach machen lassen. Sprich: Rigoros verbieten bis die Aufarbeitung erfolgreich ist.

  • Ungefähr aus diesem Jahr 2002 stammen die Solidaritätsaufkleber, von denen ich zwei Restbestände gerade, nach zehn Jahren ohne, auf mein neues Auto geklebt habe. Frau Akraps Optimismus teile ich nicht. Zugegeben, es sind nicht mehr dieselben Nachbarn, es war auf dem Land und nicht in der Großstadt, aber so viele Mahnungen, doch ja vorsichtig zu sein, hörte ich damals nicht.



    Die Israelfahne mußte ich aus dem Fenster meiner neuen Eigentumswohnung entfernen, weil Nachbarn Angst um sich und das gemeinsame Haus hatten. Welche Beschädigungen und Schmierereien, von Gewalt ganz zu schweigen, hätten wir zu befürchten, hängte ich eine Palästinafahne auf? Dieser Unterschied wird von den Relativierern konsequent verschwiegen und vertuscht.

  • Man kann noch weiter zurückgehen. Ich persönlich hatte mein "Aha Erlebnis", als ich 1991 (der Irak/ Kuwait Krieg lief und die Friedensbewegung protestierte mit "Kein Blut für Öl" in Deutschland) mit Palästinenser Tuch bei einer Protest Demo vor dem Gebäude von Rheinmetall in Duisburg stand und - unter dem Jubel der Mitdemonstranten - ein Redner Christian Ströbele zitierte, der kurz vorher gesagt hatte, "die irakischen Raketenangriffe auf das neutrale (!) Israel seien »die logische, fast zwingende Konsequenz der israelischen Politik den Palästinensern und den arabischen Staaten gegenüber«. Da spürte ich, dass etwas grundlegend falsch in meinem Denken lief (und hab das Palli Tuch anschließend eingemottet).

    Immerhin: Ströbele, der damals Sprecher der Grünen war, trat anschließend zurück.

  • "Aufarbeitung aber sieht anders aus als Veranstaltungen vor Angst, was Falsches zu sagen, zu canceln." Wie aber soll Aufarbeitung möglich sein, wenn kulturelle Plätze von staatlichen Geldern abhängig sind?

    • @Sonnenhaus:

      Jüngst fand ich einen oberflächlichen Blick in das Theaterprogramm enttäuschend. Es war nichts dabei, was mich interessiert hat.



      Kunst scheint sehr von Förderung abhängig zu sein. D.h. die Regierung entscheidet, welche Kunst gezeigt wird und welche Künstler als Lehrer oder Kindergärtnerin arbeiten müssen.