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Geschlechtersensible ForschungGender-Gap auf dem OP-Tisch

Viele Krankheiten äußern sich bei Frauen und Männern unterschiedlich. Das ist zwar bekannt, aber in der deutschen Forschungswelt tut sich wenig.

Das weibliche Herz wird notdürftiger versorgt – das zeigen Daten zu Herzinfarkten Foto: Malte Müller/imago images

Männer und Frauen erkranken unterschiedlich. Das ist schon lange bekannt. Symptome unterscheiden sich. Beim Herzinfarkt etwa, der sich bei Frauen meist durch Oberbauchschmerzen und Übelkeit statt durch einen in den linken Arm ausstrahlenden Brustschmerz äußert. Aber auch Medikamente und Therapien können geschlechterspezifisch wirken. Trotzdem sind Beipackzettel und Behandlungskonzepte bis heute immer noch vorwiegend auf den männlichen Paradepatienten genormt.

Um jedem die bestmögliche Behandlung anbieten zu können, braucht es medizinische Forschung, die biologische und soziokulturelle Unterschiede berücksichtigt. Im Moment gleicht der sogenannte Gender-Daten-Gap hierzulande aber noch dem Marianengraben.

„Wir hinken rund 20 Jahre hinterher“, sagt Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Berliner Charité. „Deswegen fehlen uns viele Daten, die eine gezielte Prävention, Diagnostik, Behandlung und Nachsorge von Männern, Frauen und nicht-binären Personen ermöglichen.“

Vor 20 Jahren gründete die Charité das interdisziplinäre Zentrum Gender in Medicine und blieb damit in der deutschen Forschungslandschaft lange Zeit völlig allein. Seit September verstärkt nun die Universität des Saarlandes den Forschungsbereich mit ihrem Centrum für geschlechtsspezifische Biologie und Medizin an der medizinischen Fakultät in Homburg. Vor zwei Jahren wurde außerdem eine 50-prozentige Professur für geschlechtersensible Medizin in Bielefeld besetzt, und 2022 gründeten acht nordrhein-westfälische medizinische Fakultäten das Netzwerk Geschlechtersensible Medizin NRW.

Woher der Rückstand?

Und für das Jahr 2025 ist vorgesehen, geschlechtsspezifische Unterschiede im Lehrplan des Medizinstudiums zu verankern. Das wirkt nicht unbedingt wie ein Masterplan für die Gendermedizin im sonst so gefragten Forschungsstandort Deutschland.

Ursachen für den Rückstand gegenüber Vorreiterländern gibt es viele: In den USA, dem Ursprungsland der Gendermedizin, wurde geschlechtssensible Medizin schon Mitte der 80er Jahre, unter anderem von der Nationalen Gesundheitsbehörde, institutionalisiert und 1990 mit einer staatlichen Forschungseinrichtung für Frauengesundheit verstärkt. Seit 1993 sind Forschende in den nordamerikanischen Staaten zudem gesetzlich verpflichtet, Frauen und ethnische Minderheiten in sämtliche Studien miteinzuschließen. Auch in Kanada müssen sich Wis­sen­schaft­le­r:in­nen rechtfertigen, wenn sie nur Männer oder nur Frauen untersuchen. Stadler findet es auch bemerkenswert, dass Kanada ein eigenes nationales Institute of Gender and Health innerhalb der wichtigsten Bundesbehörde für die Finanzierung der medizinischen Forschung hat.

„Es hat sich gezeigt, dass es Institutionalisierungen und Gesetzgebungen braucht, um zügig voranzukommen“, sagt Gertraud Stadler und kritisiert, dass diese in Deutschland bis heute fehlen. In der Grundlagenforschung werde oft nicht einmal festgehalten, ob weibliche oder männliche Zellen beobachtet wurden. Gleichzeitig sind Frauen in klinischen Studien nach wie vor unterrepräsentiert, was sogar auf weibliche Versuchsmäuse zutrifft, da der weibliche Organismus mit seinen Hormonschwankungen und wegen möglicher Schwangerschaften als zu kompliziert gilt.

„Außerdem fällt natürlich auf, dass es vor allem Frauen und Menschen mit diversem Hintergrund sind, die gendermedizinische Forschung vorantreiben.“ In Amerika setzte sich etwa die Kardiologin und Direktorin der Nationalen Gesundheitsbehörde Bernadine Healy für die Institutionalisierung ein. In Deutschland gilt die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek als Pionierin. Mitte der 80er Jahre war sie die erste Frau in der Kardiologie der Charité. Damals galt der Herzinfarkt noch als rein männliche Erkrankung – eine Fehleinschätzung, die zahlreiche Leben kostete. Regitz-Zagrosek erkannte die Versorgungslücke und schloss diese mit gezielter Forschung, so dass die Gewissheit über den weiblichen Infarkt heute Konsens ist. Im Jahr 2003 gründete die Forscherin dann eigeninitiativ das Zentrum für Gender in Medicine. Ein beeindruckender Alleingang.

Wir hinken rund 20 Jahre hinterher.Deshalb fehlen uns viele Daten.

Gertraud Stadler, Professorin für Präventionsforschung

Fehlende Fördergelder

Aber warum gab es so wenig Unterstützung? „Es fehlt hier seit jeher an Frauen in Entscheidungspositionen“, sagt Stadler und verweist auf die Statistik: Nur 13 Prozent aller Kliniken werden von Frauen geleitet, und nur 19 Prozent aller Führungspositionen in Krankenhäusern sind weiblich besetzt. „Mein Eindruck ist, dass die Hierarchien in der Medizin in Deutschland schon immer starrer gewesen sind als in den USA oder in Kanada.“ Ein Indiz dafür ist auch der Gender-Pay-Gap, der in der Medizin mit 30 Prozent besonders groß ist. Im Durchschnitt sind es 18 Prozent.

Ein zentraler Faktor seien zudem Fördergelder, ergänzt Prof. Dr. Sandra Iden, eine der In­itia­to­r:in­nen des neuen Forschungszentrums im Saarland. „Jedes Forschungsvorhaben beginnt bei uns am Schreibtisch, damit, dass wir Förderanträge stellen.“ Sie planen aktuell 20 Forschungsprojekte: „Wir wollen zum Beispiel herausfinden, wie sich die männliche und die weibliche Bauchspeicheldrüse unterscheiden und welchen Einfluss diese Unterschiede auf die Entstehung und den Verlauf von Diabetes haben“, erzählt die Forscherin.

Forschung auch zu trans Menschen

Trans-Gender-Forschung sei den Wis­sen­schaft­le­r:in­nen ebenfalls wichtig: „Allerdings brauchen wir erstmal das Grundlagenwissen über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, um uns dann mit den zahlenmäßig kleineren diversen Gruppen zu befassen.“

Entsprechende Gelder werden derzeit vor allem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom Bundesgesundheitsministerium vergeben. Allerdings erschwere die zeitliche Befristung der Projekte die Etablierung nachhaltiger interdisziplinärer Zusammenarbeit, kritisiert der Wissenschaftsrat.

Er empfiehlt spezifische Maßnahmen zu treffen, um die Berücksichtigung von Geschlechterperspektiven in der medizinischen Forschung und Entwicklung zu erhöhen und dauerhaft zu verankern. Der Aufbau großer und nachhaltiger Förderprogramme sowie eine Verpflichtung für das Thema seitens der Hochschulen, Universitätskliniken, Ärztekammern sowie Kostenträger im Gesundheitswesen und in den Gesundheitsministerien seien ratsam.

Grundlagenforschung vorantreiben

In Homburg plant das Team um Sandra Iden und den Neurowissenschaftler Prof. Frank Kirchhoff nun, die Expertise rund um das Thema der geschlechtssensiblen Biologie und Medizin zu bündeln, Synergien zwischen Projekten zu schaffen und Kooperationen mit internationalen Forschenden zu erleichtern. „Wir wollen die Grundlagenforschung vorantreiben und erreichen, dass gewonnene Erkenntnisse schneller in die Klinik einfließen, also die Patientenversorgung verbessern“, sagt Iden.

Gertraud Stadler hofft auch auf den medizinischen Nachwuchs: „Während ältere Kol­le­g:in­nen dem Fach teils skeptisch gegenüberstehen, empfinden junge Menschen die gendersensible Datenerhebung als selbstverständlich.“ Gendermedizin ist übrigens keine Frauensache. Denn auch bei Männern werden etwa Osteoporose, Depressionen oder Brustkrebs später diagnostiziert und schlechter therapiert. „Auch das wollen wir ändern“, sagt Stadler.

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1 Kommentar

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  • Etwas offtopic, weil Psychologie, nicht Medizin, aber ich betreue keine Masterarbeit, in der nur nach Geschlechtsunterschieden gesucht wird.

    Intellektuell hat mir das zu wenig Anspruch. Entweder perpetuiert es nur irgendwelche Rollenstereotype, dann muss ich in der Diskussion lesen, Frauen haben da und da einen niedrigeren Wert, weil (und dann kommt irgendein Jägerundsammlerkitsch). Gerade die Neurowissenschaften sind in sowas gut, was musste ich da schon für Käse lesen über das männliche und weibliche Gehirn.

    Und/oder es bedient irgendwelche identitätspolitischen Opfernarrative, in denen selektiv Ergebnisse berichtet werden, die halt ins Weltbild passen.

    Und über all dem (jetzt inklusive Medizin) kreist der Geier der Replikationskrise. Wenn ich in allen meinen Variablen/Hirnregionen verzweifelt nach "statistisch signifikanten" Unterschieden suche, weil ich ohne p < .05 in keine Zeitschrift reinkomme, dann berichte ich halt immer wieder irgendwas falsch positives.