Neue Synagoge in Dessau: Nicht im Verborgenen sein
In Dessau eröffnet eine neue Synagoge. Der Neubau soll zeigen, dass Jüd:innen in der Stadt sich nicht verstecken – trotz der wachsenden Gefahr.
S onntag, halb neun, in Dessau. Am Südrand der Innenstadt, nahe dem Mulde-Ufer, stehen Polizist:innen, sie sprechen in Funkgeräte, beobachten die Umgebung, achten darauf, dass niemand unerlaubt hinter die Absperrungen kommt.
Bis zum Novemberpogrom 1938 stand an dieser Stelle die Alte Synagoge. An diesem Morgen wird hier das neue jüdische Gotteshaus im Stadtzentrum von Dessau eröffnet, der erste Synagogen-Neubau in Sachsen-Anhalt seit dem Nationalsozialismus. 90 Menschen soll sie Platz bieten, und sogar der Bundeskanzler kommt heute für die Eröffnungsfeier nach Dessau.
Schwarze Kleinbusse parken an der Straße, auf dem Dach eines Nachbargebäudes haben sich Scharfschützen postiert. Die lange geplante Eröffnung fällt in eine Zeit, in der die Lage für Mitglieder jüdischer Glaubensgemeinschaften weltweit durch den eskalierenden Nahost-Konflikt äußerst angespannt ist.
Alfred Jacoby, Synagogen-Architekt
Die Jüdische Gemeinde in Dessau wurde 1994 wiedergegründet. Inzwischen zählt sie rund 260 Mitglieder, darunter viele Zuwanderer:innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Bisher mussten die Glaubensmitglieder mit dem Gemeindehaus vorliebnehmen, das allerdings war für viele Veranstaltungen deutlich zu klein.
„Ich finde, Wiederaufbau ist ein doofes Wort“, sagt der Architekt Alfred Jacoby. „Es ist eher so, dass man daran baut, nicht im Verborgenen zu leben. Wir müssen zeigen: Wir sind Teil der Stadt.“ Es ist Samstag, noch ein Tag bis zur Eröffnung. Noch ist es ruhig, die Straße noch nicht abgesperrt, nur wenige Polizist:innen stehen Wache rund um die Synagoge. Drinnen laufen die Vorbereitungen in den letzten Zügen, Gläser und Getränke stehen bereit. Der Verwaltungsleiter Aron Russ trägt blaue Plastiküberzieher über den Schuhen, als er die gläserne Eingangstür öffnet. „Die Reinigung war schon da“, erklärt er.
Im Innenraum öffnet Architekt Jacoby sichtlich stolz die Tür zum runden Herzstück, dem Gebetsraum. Es sei eine besondere Ehre für ihn gewesen, die Synagoge entwerfen zu dürfen. Er lehrte zwanzig Jahre lang Architektur an der Hochschule Anhalt, kam jede Woche für drei Tage nach Dessau.
Sichtbarkeit ist wichtig
Mit Eifer erklärt der 73-Jährige, dass ihm die runde Form bei der Gestaltung wichtig gewesen sei, weil es dadurch automatisch einen Mittelpunkt gebe, auf den die Tora-Rollen gelegt werden. Jacoby öffnet den Schrank, zeigt auf die Gebetsrollen aus Pergament. Auch das Beten sei einfacher. In eckigen Räumen sei das „immer ein bisschen komisch“. Über das Sicherheitskonzept will er lieber nicht reden. „Das dunkle Holz macht, dass das Licht noch viel stärker scheint, oder?“, lenkt der Architekt die Aufmerksamkeit zurück auf sein Bauwerk, während er die Platzkarten auf den Bänken beiseitelegt, um sich zu setzen.
Gerade in diesen Zeiten sei die Eröffnung der Synagoge so wichtig, sagt Aron Russ. Er ist Verwaltungsleiter der Jüdischen Gemeinde in Dessau. Bei den Gemeindemitgliedern, die indirekt vom Angriff betroffen sind, sei die Stimmung „selbstverständlich betrübt“, so Russ. Doch die Eröffnung sei „ein Ereignis, das dem, was auf der ganzen Welt passiert, etwas entgegensetzt: Die neue Synagoge spendet der Gemeinde Trost, Hoffnung und Zuversicht, dass jüdisches Leben sichtbar weitergehen kann.“
Genau diese Sichtbarkeit war Alfred Jacoby, dem Architekten der Synagoge, wichtig. Das Glaubenshaus solle als fester Teil des Stadtbildes wahrgenommen werden, sagt Jacoby, selbst Jude. „Ich glaube, dass die Sichtbarkeit essenziell für die Akzeptanz einer Glaubensgemeinschaft ist.“
„Weill“ heißt die neue neue Synagoge, benannt nach der Familie des jüdischen Komponisten Kurt Weill. Er vertonte Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“, die, 1928 in Berlin uraufgeführt, einer der größten Erfolge in der Theaterwelt überhaupt wurde. Im Rabbinerhaus in Dessau verbrachte Kurt Weill seine Kindheit, sein Vater war Kantor. Das Rabbinerhaus überstand die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Die Dessauer Synagoge hingegen wurde geplündert und in Brand gesetzt, wie so viele Synagogen im ganzen Deutschen Reich.
Offenheit als Risiko
In unmittelbarer Nähe zur einst zerstörten steht nun die neue Synagoge, direkt an der großen Askanischen Straße, die heute für die Eröffnung gesperrt ist. Ganz in der Nähe des Stadtzentrums steht sie, nur 300 Meter vom Rathaus entfernt. Der Gebetsraum ist rund, die weißen Wände ragen einige Meter in die Höhe – zu hoch, um hineinzublicken. Erst dann kommt eine Reihe aus Fenstern. Eine Kupferverkleidung umschließt den runden Gebäudeteil zu etwa einem Viertel, daran schließt sich der breite, gläserne Eingangsbereich an. Der Architekt Jacoby sagt, er habe Wert darauf gelegt, dass die Synagoge „einladend und offen ist“.
Doch das ist auch ein Risiko.
„Ich hoffe, dass die Offenheit hier nicht zum Verhängnis wird“, murmelt Alex Jacobowitz, die Objektivkappe seiner Kamera zwischen die Zähne geklemmt. Am Sonntagmorgen steht der orthodoxe Jude seit sieben Uhr im abgezäunten Pressebereich, einige Meter von der Synagoge entfernt. Er kennt sich aus bei Synagogen, will sich den perfekten Platz sichern, für ein Foto von Olaf Scholz vor dem neuen jüdischen Gebetshaus. Das brauche er für das Buch, an dem er gerade arbeitet, über Synagogen in Deutschland.
„Gepanzert“ wirke der geschlossene Gebetsbereich aus Beton im Vergleich zum offenen, gläsernen Eingangsbereich, sagt Alex Jacobowitz. „Beim Bau von Synagogen geht es immer darum, eine Balance zu finden. Die Jüdische Gemeinde ist während des Gebets sehr verletzlich.“ Die Frage sei: „Wie können wir einen Ort schaffen, der zugänglich ist und dennoch kein Sicherheitsrisiko darstellt?“ Es sei etwas besonders, sagt Jacobowitz, dass die neue Dessauer Synagoge zur Straße hin „so offen gebaut ist“. Lange sei es üblich gewesen, dass die Synagogen regelrecht versteckt wurden.
Etliche Polizist:innen bewachen die Synagoge an diesem Morgen. Doch solche Vorkehrungen gibt es nur heute. Damit auch danach nichts passiert, wurde ein Sicherheitskonzept erarbeitet. Wie das aussieht – darüber schweigt auch die Gemeinde.
Besonderer Schutz nach dem Attentat von Halle
„Meine Kinder sind auf eine jüdische Schule gegangen“, erzählt Alfred Jacoby, der Architekt. Als sie später dann auf eine staatliche Schule gingen, haben sie irgendwann gefragt: „Warum steht denn da eigentlich keine Polizei an der Schule?“ Jüdische Einrichtungen werden seit Langem besonders geschützt. In Sachsen-Anhalt hat sich das nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle am 9. Oktober 2019 verstärkt. Seitdem stand auch in Dessau eine Wache vor dem jüdischen Gemeindehaus – dem alten Rabbinerhaus, das die Reichspogromnacht überstanden hat.
„Am Anfang hat mich das enorm gestört“, sagt Jacobowitz, der Fotograf, „dass man sich am Eingang von Synagogen immer einer Reihe Verhörfragen unterzogen fühlt.“ Doch daran müsse man sich gewöhnen. „Früher waren es hauptsächlich die Nazis, die eine Gefahr für uns darstellten. Jetzt kommt auch noch die gesamte politische Lage dazu.“
Am Einweihungstag dürfen nur angemeldete Personen in die Synagoge. Auch das abgesperrte Medienzelt vor dem Eingang dürfen darf nur betreten, wer akkreditiert ist und sich einer Kontrolle mit Abtasten und Abschnüffeln unterzogen hat. Alle anderen müssen noch weiter hinten, jenseits der Absperrgitter stehen. Etwa 80 Menschen haben sich dort um halb elf Uhr versammelt, als die ersten Karossen anrollen. Alle zehn Minuten kommt nun eine Kolonne an: Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, und Robert Reck, Oberbürgermeister von Dessau, steigen aus, Fotos werden gemacht, Hände geschüttelt. Um kurz vor elf Uhr erscheint der Mann, für den die Sicherheitsvorkehrungen noch mal erhöht wurden: Olaf Scholz. Gemeinsam mit Haseloff, Reck und Alexander Wassermann, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, posiert er vor der kupfernen Fassade für die Presse.
Auch Alex Jacobowitz schießt die Fotos für sein Buch. Als die vier Männer in die Synagoge verschwinden, macht Jacobowitz auf den Vers aufmerksam, der hinter der posierenden Prominenz versteckt war: „Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker“ steht da auf Deutsch und Hebräisch. Es sind Worte des Propheten Jesaja. Er verstehe es als Einladung für alle, ins Gespräch mit Gott zu kommen, sagt Jacobowitz. Das wünscht sich auch der Gemeindevorsitzende Wassermann in seiner Eröffnungsansprache: „Unsere Synagoge wird nicht nur ein Ort für Juden sein, sondern ein Begegnungsort für alle.“
Wassermanns Rede wird über Bildschirme und Lautsprecher nach draußen übertragen. Dann plötzlich wird es still. Wassermann ruft zu einer Schweigeminute für die Opfer des Hamas-Terrors auf. Nach dem Überfall der islamistischen Gruppe auf Israel am 7. Oktober gab es in Deutschland vermehrt judenfeindliche Vorfälle. In der Woche bis zum 15. Oktober zählte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. 240 Prozent mehr antisemitische Vorfälle als im gleichen Zeitraum 2022. Darunter sind Schmierereien an Schulwänden, antisemitische Äußerungen im Internet und Beschädigungen von israelischen Flaggen.
Ein unsichtbarer Käfig
Am Freitag, dem 13. Oktober, ruft die Hamas zur Gewalt gegen Juden auf und spricht vom „Tag des Zorns“. Demonstrationen nehmen zu, Mülltonnen brennen, Polizist:innen werden verletzt, antisemitische Parolen gebrüllt. Am 18. Oktober kommt es zu einem versuchten Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge. Seitdem verstärkt die Polizei ihre Sicherheitsvorkehrungen.
Als „unsichtbaren Käfig“ beschreibt Alfred Jacoby diese Sicherheitsmaßnahmen. „Der Käfig ist aber so durchlässig, dass man trotzdem Schaden nehmen kann“, sagt der Architekt, dessen Eltern ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt haben. Dennoch habe er keine Angst, sagt er.
Alex Jacobowitz, orthodoxer Jude
Die Gemeinde in Dessau lässt sich nicht einschüchtern. Am Verhalten der Mitglieder habe sich seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober nichts geändert, sagt Aron Russ, der Verwaltungsleiter. „Im alltäglichen Leben fühlen sich unsere Gemeindemitglieder vergleichsweise sicher. Sie werden aber auch nicht unbedingt als jüdische Person wahrgenommen, weil die wenigsten zum Beispiel mit Kippa durch die Straßen laufen.“
Selbstbewusst und mit Kippa auf dem Kopf steht Alex Jacobowitz, der Fotograf, vor der Synagoge und richtet seine Kamera ein, in der Hand ein Plastikbecher mit Kaffee. Als orthodoxer Jude trägt er die Kippa auch im Alltag. „Meine Freunde sagen, ich sollte lieber alle Symbole entfernen, die zeigen, dass ich Jude bin“, sagt Jacobowitz. „Sie haben teilweise Angst, sich mit mir zu zeigen, wenn ich sichtbar als Jude durch die Gegend laufe.“ Doch er trage die Kippa weiterhin. Nicht weil er provozieren wolle, sondern weil sie zu ihm gehöre. „Ich will nicht verleugnen, wer ich bin, dann haben die Terroristen schon ein Stück weit gewonnen.“
Hinter ihm überträgt der Bildschirm weiter den Livestream aus der Synagoge. Der Bundeskanzler spricht davon, dass man „diese Terroristen eben nicht gewinnen lassen“ dürfe. „Wir sind erschüttert über das Barbarische der Hamas“, sagt er. Es empöre ihn zutiefst, wenn sich antisemitischer Hass Bahn breche, besonders hier in Deutschland. „Es wird Hass gesät, wir müssen alles dagegensetzen.“
Die Ideale von Moses Mendelssohn
Von Hass gegen jüdische Glaubensmitglieder ist in Dessau bei der Synagogeneröffnung nichts zu spüren. Im Gegenteil: Vor den Absperrungen halten drei Menschen eine weiße Fahne hoch: „Bündnis Dessau Nazifrei“.
Tatsächlich sei das Zusammenleben zwischen der Jüdischen Gemeinde und anderen Einwohner:innen in Dessau sehr friedlich, sagt Aron Russ, der Verwaltungsleiter. „Hier in Dessau ist das Interesse über die Maßen groß. Das war schon immer so, nicht erst seit den Angriffen.“ Trotzdem bekomme auch die Jüdische Gemeinde in Dessau manchmal Anfeindungen zu spüren. „Es gibt Schmierereien auf dem Friedhof, ein Gedenkschild wurde geklaut“, so Russ. Doch insgesamt sei die Gemeinde schon immer sehr gut eingebunden gewesen und als ganz selbstverständlicher Teil der Stadt wahrgenommen worden.
Es herrsche ein „offenes Miteinander“, sagt dazu Jutta Ziemba, die persönliche Referentin des Oberbürgermeisters in Dessau. Die Jüdische Gemeinde sei „immer offen für alle möglichen Veranstaltungsformate, von Konzerten bis hin zu demokratischen Protesten“.
Genau wie Kurt Weill stammt auch Moses Mendelssohn aus Dessau. Der deutsch-jüdische Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung setzte sich dafür ein, dass sich alle Religions- und Kulturgemeinschaften gut verstehen. „Das wird im Grunde heute noch so in Dessau gelebt“, beschreibt Volker Ziemba – der Ehemann der Bürgermeister-Referentin – das Zusammenleben in der Stadt. Ziemba arbeitet ehrenamtlich bei der Moses-Mendelssohn-Gesellschaft Dessau. Der Verein arbeitet zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur. Dass die Polizei nun auch Streife vor dem Gebäude des Moses-Mendelssohn-Vereins fährt, bemerkt Ziemba fast schon mit Verwunderung in der Stimme. Es habe dort bisher keine Probleme mit Judenfeindlichkeit gegeben, sagt er.
Mittlerweile ist es Sonntag, 12 Uhr. Außer Wassermann und Scholz haben nun schon Ron Prosor, Botschafter Israels in Deutschland, und Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, gesprochen. Emotionale Reden waren dabei, auch viel Bekanntes – dass man aus der Nazizeit lernen müsse und sich das alles nicht wiederholen dürfe. Mark Dainow, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, merkt an, dass Polizeischutz und antisemitische Übergriffe zwar zum Alltag gehören, sie aber keineswegs normal seien. „Der alte Antisemitismus ist im neuen Gewand wieder auf den Straßen erkennbar.“ Dann ist Architekt Alfred Jacoby mit der Schlüsselübergabe dran.
Es ist halb zwei, als die Ersten die neue Synagoge verlassen. Alex Jacobowitz ist da schon längst weg. Seine Bilder hat er im Kasten. Unter den wachsamen Blicken der Polizei und der ausharrenden Dessauer:innen, die noch immer im Zuschauerbereich stehen, steigen die Gäste in die Limousinen. Bald fahren die Autos am Gebetsraum vorbei.
Vielleicht erhascht dabei einer der Insassen einen Blick auf die NS-Gedenkstele neben der Weill-Synagoge. „Den jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die dem Naziterror von 1933 bis 1945 zum Opfer fielen“, ist darin gemeißelt. Die alte Synagoge musste dem Hass auf die Juden weichen. Die neue Synagoge steht nun an der gleichen Stelle. Das Bauwerk aus Glas, Beton und Kupfer sei, wie Mark Dainow vom Zentralrat der Juden sagt, „die in Stein gemeißelte Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Juden in Deutschland“. Sie lautet: „Wir wollen bleiben.“
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