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Revival des 29-Euro-Tickets in BerlinDie Extrawurst der Berliner SPD

Rainer Rutz
Kommentar von Rainer Rutz

Niemand außer der SPD wollte eine Neuauflage des 29-Euro-Tickets. Doch Radaumachen zahlt sich offenbar aus. Der zweifelhafte Sondertarif kommt.

Böse Zungen behaupten: Das 29-Euro-Ticket für alle war das einzige Versprechen der SPD im Wahlkampf Foto: Christophe Gateau/dpa

M an kennt das von bockigen Kindern, die irgendetwas unbedingt haben wollen: Wenn die Kleinen nur ordentlich Radau machen und sich im Zweifelsfall schreiend auf den Boden werfen, kriegen sie am Ende ihren Willen. So ist es auch bei der Hauptstadt-SPD und ihrem extrem teuren Wahlkampfversprechen, das „29-Euro-Ticket für alle“ fortführen zu wollen.

Monatelang hatte die Berliner SPD-Spitze faktisch als Einzelkämpferin Terz gemacht für eine Reanimation des Ende April ausgelaufenen 29-Euro-Tickets, weil: Wahlkampfversprechen. Am Donnerstag nun konnte man Vollzug melden. „Versprochen, gehalten!“, hieß es in Jubelstimmung auf den SPD-Kanälen in den sozialen Netzwerken. Der Aufsichtsrat des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) hatte zeitgleich beschlossen, dass das 29-Euro-Ticket im Laufe des 1. Halbjahrs 2024 wieder auf den Markt kommen soll.

Das Nahverkehrsangebot ist zwar wieder nur auf den Tarifbereich AB beschränkt und – anders als das Vorgängermodell – nur mit einer Mindestvertragslaufzeit von 12 Monaten zu haben, also eigentlich ein 348-Euro-Ticket. Dafür dürfen auch Hunde kostenlos mitgenommen werden, Fahrräder hingegen nicht. Aber das findet sich nur im Kleingedruckten des VBB-Beschlusses.

Wichtig für die krachend gescheiterte SPD-Spitzenkandidatin, gewesene Regierende Bürgermeisterin und Noch-Landesparteichefin Franziska Giffey ist im Grunde nur eine einzige Botschaft: „Die SPD liefert.“

Preiserhöhung auf Einzeltickets als Bonbon

Gleich mitgeliefert wurde seitens des VBB auch eine saftige Preiserhöhung auf Einzelfahrscheine. So kostet das Einzelticket für das Berliner Stadtgebiet ab 1. Januar kommenden Jahres 3,50 Euro statt 3,30 Euro, der Preis für einen Fahrschein von der Innenstadt ins brandenburgische Speckgürtelglück des Tarifbereichs C geht hoch von 4 Euro auf 4,40 Euro.

Betrachtet man das vom VBB präsentierte Gesamtkunstwerk aus Preiserhöhungen und Jahresabo, haben damit vor allem all jene das Nachsehen, die den ÖPNV in Berlin nur gelegentlich und/oder nicht das ganze Jahr über nutzen – darunter die gar nicht so kleine Zahl wetterfühliger Rad­fah­re­r:in­nen – und/oder ab und zu mal ins Umland wollen.

Aber wer will schon nach Brandenburg? Und wenn Rad­fah­re­r:in­nen Regen und Schnee nicht abkönnen, sollen sie halt Auto fahren. Folglich kommentierten Franziska Giffey und die SPD auch nicht die Preiserhöhungen, sondern ausschließlich das Ergebnis fleißigen Radaumachens: die Durchsetzung des Berliner Sondertickets.

Gegen alle Widerstände

Dennoch kommt man bei der jetzt vom VBB abgesegneten Berliner Extrawurst nicht umhin, wenigstens einmal anzuerkennen, dass und wie sich die Führung der SPD Berlin in dem Punkt durchgesetzt hat. Niemand (außer eben der SPD) ließ jemals ein gesteigertes Interesse daran erkennen, den Sondertarif wiederzubeleben, nicht einmal der Koalitionspartner CDU.

Das Land Brandenburg und hier vor allem die betroffenen Landkreise im Tarifbereich C hatten im gemeinsamen Verkehrsverbund schon dem Vorgänger nur zähneknirschend zugestimmt. Eine Neuauflage lehnte man erst recht ab.

Die Berliner SPD-Spitze zeigte sich von alldem unbeeindruckt. So erklärte Co-Landeschef Raed Saleh bereits Anfang April, die Bran­den­bur­ge­r:in­nen hätten ja doch „am Ende ein Interesse an einem starken Verkehrsverbund und kein Interesse daran, dass es dabei Komplikationen gibt“. Noch am vergangenen Wochenende bekräftigte Saleh, dass man das Ticket zur Not auch ohne den VBB durchsetzen werde. Nicht unbedingt die feine Art, aber am Ende erfolgreich – für die Berliner SPD-Spitze.

Ein Triumph über die Vernunft? Klar ist: Hätte Berlin beim VBB nicht gleichzeitig auch die Fortführung des 9-Euro-Sozialtickets für Be­zie­he­r:in­nen von Sozialleistungen durchbekommen, wäre die Aktion nicht nur mobilitäts-, haushalts- und klimaschutzpolitisch mindestens zweifelhaft, sondern auch sozialpolitisch komplett nach hinten losgegangen.

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Rainer Rutz
Ressortleiter taz berlin
Seit August 2023 Ressortleiter taz berlin, Schwerpunkt: Landespolitik
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4 Kommentare

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  • Gut, dass es das Sozialticket noch gibt. Ich verstehe nicht warum nicht thematisiert wird, dass das 9 Euro Ticket für viele Sozialgeldempfänger ab Oktober nicht mehr nutzbar ist. Da die Übergangsfrist abgelaufen ist und der Erhalt der notwendigen VBB trägerkarte mit erheblichen Hürden verbunden ist und nicht kurzfristig zur Verfügung gestellt werden kann. Insgesamt werden die Berechtigungsnachweise nur an 6 Terminen im Jahr für 5 Tage ausgegeben. Gelingt es dem Bedürftigen, sich einen Berechtigungsnachweis zusenden zu lassen, dient dieser nurse dazu, im Internet eine VBB-Kundenkarte Berlin s zu beantragen. Welche nach gründlicher Bearbeitung per Post verschickt wird und natürlich auch wieder mit entsprechender Wartezeit verbunden ist. Es gibt in ganz Berlin keinen Automaten, an dem man einfach den QR-Code einscannen kann und eine Karte erhalten kann. Warum eigentlich nicht? Technisch wäre es möglich. Ab Anfang Oktober riskieren nun also Bedürftige mit Berlin Ticket S und Leistungsbescheid oder Berlinpass ein um 60 Euro erhöhtes Beförderungsentgelt. Obwohl es für sie unmöglich ist, rechtzeitig die erforderliche VBB-Kundenkarte zu bekommen. Ist das nicht erwähnenswert? Und eine Lösung für Studierende, die oft unter dem Existenzminimum leben und seit Oktober auch nicht mehr an allen Berliner Hochschulen ein Semesterticket bekommen, wurde auch nicht verhandelt. Wäre doch auch erwähnenswert, oder?

  • Das sind ja Preise im ÖVP, davon können wir in Hamburg nur träumen! Und: Die Grünen sollten sich von der Berliner SPD und der FDP im Bund mal eine Scheibe abschneiden und auf Stur schalten, um auch mal "liefern zu können". Aber die sind so selbstverliebt und kleben an der Macht. Die nimmt keiner mehr ernst: weder Wähler noch die Koalitionsgegner.

  • Alles hat seinen Preis, nicht nur dass das Geld für sinnvolle Investitionen ÖPNV oder öffentliche Dienste fehlt, ich denke auch, dass sowohl Brandenburg als auch dass die sog. Geberländer -Steuerausgleich Berlin noch bei passender Gelegenheit die Rechnung präsentieren werden.

  • 29 € ticket bleibt, 9 € ticket für Sozialhilfeempfänger bleibt, Partei hält Wahlversprechen.

    Für mich nur begrenzt verständlich wie man drei grundlegend positive Nachrichten derart negativ Verpacken kann.

    Möglicherweise mag hier jemand die SPD nicht?