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EU-Hilfen für ArmenienTraurige Gleichgültigkeit

Kommentar von Lisa Schneider

Die zugesagten Hilfen reichen bei Weitem nicht. Die Befürchtung Armeniens, vom Westen alleingelassen zu werden, bestätigt die EU erneut.

Die Flüchtenden aus Bergkarabach mussten nahezu alles zurücklassen Foto: Ashley Chan/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

D er letzte Bus mit Geflüchteten aus Bergkarabach ist nun in Armenien angekommen. 100.514 Menschen haben nach offiziellen Angaben ihre Heimat verlassen, Jahrhunderte der armenischen Präsenz in dem Gebiet sind im September 2023 zu Ende gegangen. Viele der geflüchteten Menschen sind mit leeren Händen in Armenien angekommen; was sie sich zeit ihres Lebens erarbeitet hatten, mussten sie hinter sich lassen. Sie schlafen nicht mehr in ihren Häusern, sondern in Notunterkünften, in Hotels, bei Verwandten.

Knapp 2,8 Millionen Menschen lebten vor dem erzwungenen Exodus der ethnischen Armenier aus Bergkarabach in Armenien, der plötzliche Zugang von über 100.000 Menschen innerhalb weniger Tage ist im Verhältnis dazu sehr hoch.

Nun ist Armenien allerdings keine Wirtschaftsmacht, die in der Lage ist, dies problemlos aufzufangen. Man könnte sogar sagen, das Land ist arm. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrugt im Jahr 2022 etwa 6.500 US-Dollar. Zudem ist Armenien regional isoliert: Nur zu zwei der insgesamt vier Nachbarländer gibt es offene Grenzen, nach Georgien und in den Iran. Die Beziehungen zur ehemaligen Schutzmacht Russland kriseln gewaltig, die zu den anderen beiden Nachbarländern Türkei und Aserbaidschan sind von Feindseligkeit und Jahrzehnten des Konflikts bestimmt.

Ohne nennenswerte Hilfen aus dem Ausland wird die Erstversorgung der aus Bergkarabach Geflohenen – und vor allem das mittelfristige Schaffen von Perspektiven, von Wohnraum und Arbeitsplätzen – kaum möglich sein. 5 Millionen Euro Hilfe wolle man bereitstellen, hatte die Europäische Union vor einer Woche mit einem gewissen Stolz bekannt gegeben – 4,5 Millionen mehr als die ursprünglich zugesagten 500.000.

Damals wären das etwa 5 Euro pro Person gewesen, nun sind es eben rund 50. Die USA haben 11,5 Millionen zugesagt, das macht dann pro Person insgesamt 164 Euro und 16 Cent. Dieser Betrag reicht nicht einmal für die Grundbedürfnisse eines Menschen in einem einzelnen Monat.

Nachdem die EU Aserbaidschans Blockade des Latschin-Korridors – der einzigen Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach – in den vergangenen Monaten fast kommentarlos hinnahm und bei der Fossildiktatur – obwohl alle Zeichen auf Eskalation standen – munter weiterhin Gas einkaufte, zeigt sie damit erneut: Die ­Situation der Armenier ist der EU gleichgültig. Und zwar nicht nur die politische, sondern traurigerweise auch die humanitäre. Die Befürchtung Armeniens, weiterhin vom Westen alleingelassen zu werden, hat die EU wieder einmal selbst bestätigt.

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Redakteurin für Nahost
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7 Kommentare

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  • Diese Vertreibung ist der geplante zweite Schritt nach dem Aushungern seit Monaten. Es wird so weiter gehen.



    Es braucht eine militärische Macht, die diese Vertreibung stoppt. Nicht Gelder für die Ernähnung von Menschen die sich stets selbst versorgen konnten.

    • @Land of plenty:

      Es braucht nicht zwingend einen weiteren Krieg. Vielmehr wäre Entschlossenheit und Klarheit der EU und der nationalen Regierungen vonnöten. Das Herumeiern, dummes und verlogenes Geschwätz führen ins Leere. Konsequenz wäre mal gut: KEINE Abnahme von irgendwelchen Gütern aus Aserbaidschan - das wäre mal was. Aber da stehen die eigenen (Profit)-Interessen gegen und die Moral ist an der Stelle zu Ende.

  • Was will man denn von der EU erwarten? Die bleiben sich treu und auf Linie und huldigen ihren "Werten". Was das ist? Menschlichkeit? Nächstenliebe? Gerechtigkeit? Hilfsbereitschaft? Toleranz? Alles Quatsch. Das kann man mit wenigen Worten zusammenfassen: Wirtschaftliche Erfolge, Profite. Da hat Armenien nichts zu bieten. Pech gehabt.

  • Die Situation ist die Folge der Annäherung der EU an Aserbaidschan, um von dessen Energieträgern profitieren zu können. Die gleichen Leute, die mit innigstem Pathos den Sieg über Russland fordern, reagieren auf diese Situation teilweise mit einem Achselzucken. Dabei ist das hier einfachste Realpolitik: Die Energieträger, die Deutschland benötigt, müssen irgendwo herkommen. Die meisten fossilen Energieträger gehören Diktatoren. Wenn man diese Energieträger irgendwo kauft, opfert man immer die Menschen, die dieser Diktatur ausgeliefert sind. Was dies letzten Endes vor allem zeigt, sind aus meiner Sicht zwei Dinge. Erstens, dass eine gewisse Autarkie in der Energieproduktion durch erneuerbare Energien dringend benötigt wird, zweitens, dass das Herumreiten auf der Moral in der Außenpolitik letzten Endes oft verlogen ist, weil Staaten Interessen haben, und die Ukrainer*innen uns deshalb wichtiger ist als die Armenier*innen in Bergkarabach, weil dieser Konflikt eben unsere eigenen Interessen viel unmittelbarer berührt.

    • @Agarack:

      Die Ukraine verteidigt ihr völkerrechtlich anerkanntes Staatsgebiet gegen einen imperialen Aggressor, der die Staatlichkeit der Ukraine vernichten und sein altes Imperium wiederaufleben lassen will. Aserbaidschan hat ein Gebiet zurückerobert, was Völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Hier liegen also praktisch zwei gegensätzliche Fälle vor.

      Armenien selbst hat diese Tragödie mit einer fatalen Politik selbst verursacht. Der letzte armenische Präsident der den Karabach-Konflikt lösen wollte und auf Aserbaidschan zukommen wollte, wurde wegen dieser Intentionen zum Rücktritt gedrängt. Danach haben über 20 Jahre lang Hardliner in Armenien das sagen gehabt, teilweise aus Karabach, die gut damit leben konnten, dass der Konflikt ungelöst bleibt, denn man dachte, dass man mit Russland notfalls eine Schutzmacht hat.



      Die Beziehungen des Westen zu Aserbaidschan waren schon seit den 1990ern gut, weit besser als zu Armenien, und man wusste auch, dass beide Seiten Grausamkeiten begangen haben, aber nur Armenien aserbaidschanisches Staatsgebiet besetzt hält, weit über Karabach hinaus. Einflussmöglichkeiten waren damals wie heute sehr gering und aus Armenien kam, wie gesagt, nie ein Zeichen der Entspannung oder der Bereitschaft zu kompromissen.

      Hauptschuldiger ist hier nicht der böse Westen, sondern eine fatale armenische Politik. Dazu kommt, dass viel mehr Russland die Seiten aus opportunistischen Gründen die Seiten gewechselt hat, nicht der Westen.

      Was wird eigentlich von der EU erwartet? Truppen schicken steht nicht zur Debatte, mehr Geld wird schon irgendwann kommen...aber mehr ist nicht drin. Mahnende Worte interessieren in der Region niemanden.

      • @Johnny Hah:

        Das ändert ja nichts daran, dass hier im Ergebnis eine ethnische Säuberung stattfand. Dass die Unabhängigkeit von Bergkarabach international nicht anerkannt wurde, ändert ja nichts daran, dass in diesem Gebiet hauptsächlich Armenier lebten, die von dort jetzt aktiv und brutal vertrieben wurden. Als im Kosovo (angeblich) eine ähnliche Situation drohte, interessierte einen der völkerrechtliche Status desselben auch nicht sonderlich. In so einem Falle würde man von der EU zumindest z.B. Sanktionen gegenüber dem hierfür verantwortlichen Regime erwarten, von denen hier aber nicht auszugehen ist.



        Die Information, der "letzte armenische Präsident, der den Karabach-Konflikt lösen wollte, wurde wegen dieser Intentionen zum Rücktritt gedrängt", finde ich außerdem äußerst zweifelhaft, schließlich hat Herr Pashinjan (der aktuelle armenische Premierminister) 2020 auch das Wafenstillstandsabkommen unterzeichnet.

        • @Agarack:

          Herr Pashinjan hat den Waffenstillstand erst unterzeichnet, als Armenien schlicht und ergreifend verloren hat. Mit einem Willen, den Konflikt friedlich in in beiderseitigen Interesse zu lösen hat das gar nichts zutun.



          Er war ein Hardliner, wie jeder armenische Präsident seit Ende der 1990er. Sein Spruch "Karabach ist Armenien! Punkt!" von 2019 ist vielen noch in lebhafter in Erinnerung und dürfte zur Eskalation in 2020 einiges beigetragen haben.

          Und auch ihr Kosovo-Vergleich ist nicht wirklich gut...wenn auch besser als der mit der Ukraine. In Jugoslawien hat es schon einen Völkermord an muslimischen Einwohnern gegeben. Die öffentliche Entrüstung darüber, dass man damals trotz aller Anzeichen u.a. das Massaker von Srebrenica nicht verhindert hat, wirkte noch deutlich nach, als man sich zur Intervention im Kosovo entschieden hat. Dazu war die ganze Region ein jahrelanger Krisenherd und natürlich engagiert man sich in der Nachbarschaft eher als tausende Kilometer entfernt. Noch dazu in einer Region die geografisch weit schwieriger zu erreichen ist, in der mehrere angrenzende Großmächte um Einfluss kämpfen und beide Konfliktparteien sowohl Täter als auch Opfer sind.

          Heute weiß man übrigens, wie du ja auch andeutest, dass es seitens Serbiens keine Pläne gab, einen Völkermord durchzuführen. Die Hufeisentheorie ist auch kollektiv im Gedächtnis hängengeblieben. Dies dürfte, neben den anderen Punkten u.a. auch eine Rolle spielen.

          Ich finde auch, dass den Menschen dort übles widerfährt, aber die armenische Politik trägt dafür die Hauptschuld.



          Realpolitisch wären Sanktionen drin gewesen, wenn es einen Völkermord gegeben hätte. Da aber die meisten Armenier schon geflohen sind, und laut UN-Beobachtern und Betroffenen gab es Seitens Aserbaidschans noch keine gezielten Maßnahmen zur Vertreibung.



          Klar fliehen sie aus guten Grund. Der jahrzehntelange Hass wirkt, aber auch hier muss ich sagen, dass man in Armenien in gleicher weise 30 Jahre gehetzt hat wie in Aserbaidschan.