Querdenker-Demo in Göttingen: In der Höhle der Linken
Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr kam die Querdenkerszene ausgerechnet in die Uni-Stadt, um zu demonstrieren. Warum tut sie sich das an?
Bevor es losgeht, müssen sie sich noch neue Namen ausdenken. Für heute sind sie Lasse, Lilo, Elke und Thymian. Jeweils zu zweit bilden sie „Buddies“, die sich später nicht von der Seite weichen werden. Die vier wirken so aufgeregt wie entschlossen, ihre Stadt vor den „Schwurblis“ zu verteidigen, wie sie die Teilnehmenden der Querdenker-Demo nennen.
Wieso will man ausgerechnet in einer Stadt wie Göttingen gegen Impfung, Queerness und grüne Politik protestieren? Durch die Aktivitäten von Anti-Atombewegung und autonomer Szene steht die Universitätsstadt schon seit Mitte der 1980er Jahre in dem Ruf, eine Hochburg der Linken zu sein.
Immer wieder reisten Nazis aus dem Umland für rechtsextremistische Überfälle auf die Stadt an. So auch an dem Tag vor über 30 Jahren, als die Studentin Conny Wessmann starb. Mit ihrer Antifa-Gruppe wollte sie einige Skinheads vertreiben und wurde auf der Flucht vor der Polizei von einem Auto überfahren.
Ihr Tod rief ein nie dagewesenes Engagement gegen den rechten Terror hervor. Heutzutage sind linke Kneipen und Hausbesetzungen nicht nur fester Bestandteil des Stadtbildes, sondern auch politische Begegnungsorte für die rund 30.000 Studierenden.
Zentrale Lage
Dass die Wahl der Querdenker-Demo ausgerechnet auf Göttingen fällt, begründen die Organisatoren mit der zentralen Lage der Stadt. Schon im April waren etwas mehr als 600 Gleichgesinnte unter anderem aus Bielefeld, München und dem Sauerland zur „Frühlingserwachen“-Demo angereist. Zwar konnten die Protestierenden ihre Route nur zu einem Drittel antreten, doch die Polizei wandte körperliche Gewalt an, um blockierende Personen wegzutragen. Womöglich hat das die Querdenker dazu motiviert, wiederzukommen.
Zur Mittagszeit trudeln sie nun zum zweiten Mal in diesem Jahr vor dem Göttinger Bahnhof ein. Noch ist es eine überschaubare Menge an Protestierenden, die sich zwischen orangenen Luftballons tummeln. Stände mit Kuchen und Ansteckern hauchen dem Ganzen Volksfestcharakter ein – wären da nicht Schilder, laut denen man die „Grünen an die Ostfront“ schicken müsse. Schließlich führe die Politik „Krieg gegen des Volk“. Schon jetzt fliegt der erste Feuerwerkskörper über die Menge hinweg und setzt kurz darauf einen Busch in Brand.
Bewusste Entscheidung
Zeitgleich wird an diesem Samstag in Magdeburg mit ungefähr viermal so vielen Teilnehmenden für die gleiche Sache demonstriert. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Proteste dort eskalieren, ist zweifelsfrei geringer. Glaubt man der Telegramgruppe des „Herbsterwachen“, haben sich die Anhänger*innen aber bewusst für Göttingen entschieden. Die „linksradikale Hochburg“ müsse „aufwachen“ und „sensibilisiert werden“.
Ein Aufruf, dem auch die rechtsextremistische Partei der „Freie Sachsen“ gefolgt ist. Zwischen Fahnen mit Friedenstauben weht ihr Emblem. Organisator Michael Schele begrüßt auf einem Lautsprecherwagen seine „Freunde der Freiheit“. Es werden die ersten Feindbilder umrissen: Nancy Faeser, Robert Habeck und überhaupt die gesamte Bundesregierung.
Immer wieder werden ihre Reden von lautem Gejubel übertönt. „Wir sind mehr!“, grölt die Punk-Band „Schreiblockade“ von der anderen Straßenseite herüber. Ungefähr 1.500 Menschen hat das Göttinger Bündnis gegen Rechts zum Gegenprotest mobilisiert. Als die Oberbürgermeisterin Petra Broistedt dazu aufruft, sich „gemeinsam gegen Rechts“ zu stellen, reihen sich die Göttinger*innen wie auf einer Festung auf den Mauern ihres Stadtwalls auf.
Trommelnd Richtung Innenstadt
Sie brüllen und buhen, zeigen ihre Mittelfinger und Antifa-Flaggen, als die 430 Querdenker trommelnd Richtung Innenstadt ziehen. Vor ihnen erhebt sich die ehemalige Befestigungsanlage, auf der die Gegendemonstrierenden parallel zum Protestzug mitlaufen. Ursprünglich wurde sie errichtet, um den Stadtkern zu schützen.
Ironischerweise muss die Polizei den Marsch kurz vor dem Einbiegen in die Altstadt an einem linken Hausprojekt stoppen. Quer über der vierspurigen Straße sitzt ein schwarzer Block aus vermummten Gesichtern. Die Arme zu einer Menschenkette verhakt, zwingen sie den Zug zum Stehenbleiben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Hunderte Fäuste strecken sich in die Luft, dahinter gehen Müllcontainer und Leitbaken in Flammen auf. Vor dem weißen Rauch laufen Gestalten mit Antifa-Flaggen hin und her. Immer mehr Menschen springen von der Stadtmauer herunter und stellen sich solidarisch dazu. Sogar Schaulustige stimmen in den Gesang ein: „Siamo tutti antifascisti!“ Irgendwo dazwischen sitzt auch Lilo und muss zusehen, wie die Polizeipferde immer näher kommen.
Um den Brand zu löschen, fangen die Beamt*innen an, die Menge einzukesseln. Das Feuer lässt die Luft noch schwüler werden, als sie eh schon ist. Eine Mutter streckt zwischen zwei Polizisten eine Trinkflasche zu ihrer Tochter durch: „Hier, du brauchst Wasser!“
Einige hundert Meter weiter warten noch eine Blockade der „Omas gegen Rechts“ und eine ölverschmierte Straße auf den Querdenker-Zug. Doch der wurde schon in die entgegengesetzte Richtung umgeleitet. Auch dort werden die Protestierenden mit Kartoffeln beworfen und sogar von einem Anwohner mit einem Gartenschlauch bespritzt. Es ist, als hätte sich die gesamte Stadt gegen sie verschworen.
Womöglich hatte „Herbsterwachen“-Organisator Michael Schele auf die polizeilichen Repressionen vom letzten Mal gehofft. Nun wirft er den Beamt*innen gemeinsame Sache mit der Antifa vor. Man habe das Grundrecht der Demonstrierenden verletzt, sich friedlich zu versammeln. „Wo war das Tränengas, das ihr so oft gegen uns eingesetzt habt?“, ruft er in sein Mikrofon.
Krawall machen die anderen
Trotzdem formen seine Gefolgsleute immer wieder hämisch die Hände zu Herzen. Sie inszenieren sich als die friedliebende der beiden Parteien, die demokratische. Die Antifa-Demonstrierenden hätten sich durch ihre Gewalt als die wahren Faschist*innen entlarvt, meinen sie.
Der Politologe Philipp Scharf vom Göttinger Institut für Demokratieforschung zweifelt diese Selbstinszenierung an. „Es muss klar gewesen sein, dass die Demonstration nicht weit kommen wird. Das Empörungspotential, das da vermutet werden kann, ist hoch.“
„Herbsterwachen“-Organisator Michael Schele freut sich darüber, dass die „Klimaaktivisten so viel Plastik verbrannt haben“. Die Polizei ermittelt nun wegen Landfriedensbruchs. Scheles Ansprache auf dem mit Deutschland-Fahnen geschmückten Wagen erweckt den Eindruck, dass diese Bilder bewusst provoziert wurden: „Nächstes Mal machen wir das in Connewitz, da fahr ich vorne weg!“
Letztendlich muss der Demozug wegen des anhaltenden Widerstandes zum Bahnhof umkehren. Feixend begleiten die Aktivist*innen die gescheiterten Querdenker auf ihrem Rückzug. Niemand von ihnen solle auch nur auf die Idee kommen, nach dem Ende der Veranstaltung auf eigene Faust durch die Stadt zu ziehen, sagt eine Person mit schwarzem Schlauchschal.
Die Kreisvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Agnieszka Zimowska, erinnert sich, im Anschluss an die Demonstration im April Hitlergrüße und antisemitische Plakate gesehen zu haben. Sie hoffe, dass Göttingen nun gezeigt habe, dass „die Querdenker keinen Grund und Boden haben, hier zu mobilisieren.“
Mit Edding auf dem Arm
Bei der Abschlusskundgebung sitzt Lilo mit ihrem Buddy auf der Wiese vor dem Bahnhofsplatz. Die beiden teilen sich veganen Kuchen und einen letzten Schluck Wasser. Der Telefonnummer der Antifa-Sanitäter*innen, die sie sich mit Edding auf den Arm geschrieben hatten, ist vom Schweiß verwischt.
Von drüben hört man ihre Genoss*innen immer noch aus voller Brust „Nazis raus“ grölen. So lange, bis auch die letzte Person des „Herbsterwachen“-Protestes wieder im Zug raus aus Göttingen sitzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch