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Ein Goldesel, der Milch gibt

Vor 50 Jahren führte Bremeneine Quote für Kunst im öffentlichen Raum ein, andere Städte folgten. Doch wohin mit all den Objekten, die jetzt in den Fußgängerzonen stehen?

Aus Bremen Benno Schirrmeister

Die Huftier-­Plastik aus Pappmaché weckt keine Emotionen, weder Liebe noch Zorn. Mit Plakatfarbe grau bemalt, steht sie vor der Bremer Kunsthalle, vorübergehend. Sie dient als Requisit für eine Performance im Festprogramm „Kunst im öffentlichen Raum“. Die zieht ja oft exzessive Gefühle auf sich, nicht selten Hass. Aber diese Bastelplastik? Gestalterisch wirkt sie wie ein Kindergartenprojekt, das ein überambitionierter Kunstpädagoge den Kleinen schließlich aus den Händen genommen hat. Aber um putzig zu sein, fehlt ihr was: Wo der Hals in den Kopf übergehen müsste, weist sie eine fallbeilgerade Fläche auf. Außerdem staken aus dem Eselsrücken vier dünne Holzstäbe.

Es ist Donnerstag, 17.30 Uhr, und jetzt nur noch windig. Vielleicht zehn Menschen in Regenjacke umringen das Werk. In etwas größerer Distanz beobachten zwei Radfahrer, Ellbogen auf den Lenkern, was Olav Westphalen da fabriziert. Der ist die eine Hälfte des Cartoonisten-Duos Rattelschneck und Schöpfer des Esels. Er drückt dem Teil seines Publikums, der sich nicht energisch genug wehrt, Abschnitte von blauen, geriffelten PVC-­Röhren in die Hände, Durchmesser so zwei Zoll: Im Baumarkt heißen die Teile Saug- und Förderschläuche. Hier soll in sie geblasen werden, macht der humoristische Künstler klar, um Töne zu erzeugen. Dann drängt er noch Leute, die Eselsfigur mithilfe der Holzstangen anzuheben und zu drehen, bis die vier Beine in den Himmel ragen. Auf Instagram wird ein Foto des Events später eine Handvoll Likes erhalten.

Die reale Gruppe vermag alle Straßen bei Fußgänger-Grün zu überqueren, während sie zur Städtischen Galerie auf der anderen Weser-Seite schlappt. Dort hat die Aktion das Jubiläumswochenende eingeläutet, das absurderweise ganz in der Kunstblase absolviert wurde: Bremen hat da mit üppigem Programm 50 Jahre Kunst im öffentlichen Raum gefeiert, also sich selbst und auch ein wenig die gute alte Sozialdemokratie. Also Sachen, bei denen man andernorts nicht mehr so genau weiß, ob sie nicht eher zu beklagen als zu feiern sind.

Aber in Bremen gibt’s ja Gründe dafür. Im Jahr 1973 hat die Bürgerschaft, also das hiesige Parlament, beschlossen, dass hinfort für die „künstlerische Gestaltung öffentlicher Räume 1,5 Prozent der Kosten von Baumaßnahmen des Landes Bremen zu verwenden“ seien. Das klingt ähnlich wie die Kunst-am-Bau-Richtlinien in West und Ost und bis dahin auch in Bremen, die 1 bis 2 Prozent des Kostenvolumens von Hoch­baumaßnahmen für deren Deko reservieren.

Es ist aber kultur­politisch beinahe das Gegenteil: Es löst die künftigen Werke von der Immobilie ab und ermöglicht Objekte oder Aktionen dort, wo und wie man sie haben will. Statt des Bauressorts entscheidet der Kultursenator. Bei dem denken sich findige Beamte ein von sehr vielen Städten dann nachgeahmtes Modell aus, mit einem Landesbeirat, Fachgremien auf Stadtteilebene, wechselnden Jurys und Verfahren der Bürger*innenbeteiligung.

Kunst im öffentlichen Raum als Werk ist alles, was auf Straßen, Plätzen, und an Gebäude-Hüllen an Kunst passiert, legal oder illegal, temporär oder dauerhaft, geil oder scheiße. Kunst im öffentlichen Raum als Programm ermöglicht in Bremen damals, die grau ins Stadtleben ragenden Hochbunker mit Wand­gemälden – in der BRD damals was ganz Neues – zu Orten der Auseinandersetzung mit Kriegstraumata zu gestalten. Es vereint regionale Künstlerförderung, Stadtteil-Projekte, Resozialisierung dank Bildhauerwerkstatt im Knast sowie später auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Es dient als soziokultureier­legender Goldesel, der Milch gibt.

Und trotz dieser massiven Funktionalisierung tritt Kunst in diesem Rahmen den Ar­chi­tek­t*in­nen fortan auf Augenhöhe entgegen, statt sich ihren Weisungen als Subunternehmerin unterzuordnen. Wieder. Denn klar: Kunst war früher als völlig selbstverständliches Herrschaftszeichen in Städten präsent, bis man sie, weil unbeherrschbar geworden, in den Reinraum des Museums gedrängt und mit einem Eintrittspreis als zusätzlicher Schwelle versehen hat. Jede Statue und jede Prozession besetzt den öffentlichen Raum – mit Macht. Sie gestaltet in ihm Orte der Reflexion, der Irritation und des Gedenkens, Orte, an denen sich Identität ausbilden kann. Kommunikative Orte.

„Der Beschluss war wirklich getragen von der großen Vorstellung: Die Kunst heilt alle die Fragen, die unsere gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt“, erklärt Rose Pfister. Sie war in Bremen von 1987 an als Referentin, ab 2009 als Referatsleiterin für Kunst im öffentlichen Raum zuständig; bei der Stiftung Bremer Bildhauerpreis, die den Rolandpreis für Kunst im öffentlichen Raum vergibt, sitzt sie im Vorstand. Die Debatte „hatte etwas sehr Utopisches“, sagt sie.

Und sehr Didaktisches: Die von den Nazis forcierte Entfremdung von Kunst der Gegenwart zu überwinden, die Bür­ge­r*in­nen wieder zu einem Publikum zu erziehen, zu echten Demokrat*innen, war Teil des Plans. Nicht nur in Bremen. In Münster etwa geht die Initiative vom Museum aus. Man hat ein bisschen Spaß, das katholische Bürgertum mit Skulpturen zu erschrecken, an denen sich etwas dreht.

Kunst tritt den Ar­chi­tek­t*in­nen fortan auf Augenhöhe entgegen

Die erbitterten Proteste nutzt man, um die Skulptur-Projekte zu launchen, als weltweit einzigartige Kunstausstellung für Werke, die für den Stadtraum gedacht sind. Seit 1977 gebiert die Ausstellung im Zehnjahresrhythmus immer wieder neue Erregung, moderiert sie und vermag, dank der großen Pausen, auch ihr Abklingen zu organisieren.

Am deutlichsten schlägt der volkserzieherische Gestus in Hannover durch. Dort hatte sich der Rat schon 1970 in ein auf drei Jahre angelegtes „Experiment Straßenkunst“ gestürzt. Dabei waren laut Umfragen 47 Prozent der Bevölkerung strikt dagegen, neuartige Plastiken auf die Straßen zu stellen. Es brauchte also Sendungsbewusstsein, das durchzusetzen. Zum Erliegen kommt der Feldversuch 1974: Der Volkszorn kocht über angesichts der „Nanas“, die heute Hannovers einziges Wahrzeichen sind. Wutbürger sammelten 15.000 Unterschriften gegen Niki de Saint Phalles fröhlichen Feminismus. Der Sturm verwirrt die Mehrheitsfraktion im Rat so sehr, dass sie verbaselt, Haushaltsmittel für eine Evaluation oder gar Fortsetzung des Programms zu beantragen. Es versandet.

Aber außerhalb verbreitet sich der Impuls. In der ganzen BRD will man dringend auf die „Unwirtlichkeit der Städte“ reagieren, die Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich als ein Produkt der Nachkriegszeit diagnostiziert hatte. Man will wieder Stadt mit Herz werden, „menschliche Stadt“, wie es der Bremer Bürgermeister Hans Kosch­nick (SPD) bei der Hauptversammlung des deutschen Städtetags sagt, während er plant, quer durchs schönste Altbauviertel eine Autobahntrasse zu schneisen. „Als Gegengewicht zu einer notwendig zweckhaft bestimmten Umwelt“ – mehrspurige City-Schnellstraße – solle die Stadt, um human zu scheinen „mit Kunst durchsetzt werden“, hat er verkündet.

Ach!, manchmal reicht ein Trostpflaster nicht. Und manchmal reicht’s nicht einmal mehr für Trostpflaster: Bald schon hat das immer klammer werdende Bremen die verbindliche Kunstfinanzierung immer unverbindlicher gehandhabt, hat, als eine Art Gnadenhof für ihren ermattenden Wunderesel eine Stiftung gegründet, „um passgenauer reagieren zu können“, die seit sieben Jahren auch wieder passé ist. In der vergangenen Legislatur hat Bremen laut Finanzsenator gute 2,5 Milliarden Euro in Baumaßnahmen gesteckt. Wäre die alte 1,5-Prozent-Regelung noch in Kraft, entspräche das gut 39 Millionen Euro für Kunst.

Die Antwort des Kulturressorts auf die Frage nach den finanziellen Aufwendungen für Kunst im öffentlichen Raum führt wortreich und etwas fahrig Einzelbeispiele auf, wo auch mal Geldbeträge in Kunstprojekte geflossen sind, plus jährlich 30.000 Euro für die Bestandspflege. Großzügig gerechnet ergibt sich im Vergleichszeitraum die Summe von einer Million. Macht aufgerundet 0,04 Prozent.

Das reicht, um aufsehenerregende Signale avantgardistischer Erinnerungskultur zu setzen: Das von der taz ini­tiierte „Arisierungs“-Mahnmal ist gerade eingeweiht worden, in Sichtweite der Firma Kühne+Nagel, die gut am Transport jüdischen Eigentums verdiente. Ein Denkmal für Opfer der Brechmittelfolter ist in Planung, die die Polizei zur Beweissicherung offenbar ausschließlich bei People of Color anwandte, bis 2005 ein Mensch dadurch starb, Laye-Alama Condé. Mit dem Denkmal soll laut Ausschreibung „ein Ort der Auseinandersetzung mit Anti-Schwarzem Rassismus“ geschaffen werden.

Aber Kunst heilt nicht alle Wunden. Mitunter schlägt sie sogar neue, gerade wenn sie sich unter die Leute wagt. Da führt es etwa zu Problemen, wenn sich beauftragte Künstlerinnen als politisches Subjekt erweisen und mit dem Werk Äußerungen im öffentlichen Raum tun, die drohen relevant zu sein.

Aber Kunst heilt nicht alle Wunden. Mitunter schlägt sie sogar neue

So hat nach Auffassung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts die Konzeptkünstlerin Lisa Maria Baier 2021 ein ganz anderes als das vom Görlitzer Kulturbürgermeister georderte Kunstwerk geschaffen. Zwar wusste sie bei Auftragsvergabe nicht, dass sie ihre Installation „Kulisse“ direkt an der „Johannes-Paul-II.-Brücke“ über die Oder würde aufbauen müssen. Den Standort hat ihr die Stadt später zugewiesen. Aber das war den Gerichten wurscht. Ebenso wollten sie nicht verstehen, dass der Papstname den räumlichen Kontext der Arbeit massiv politisch auflädt.

Baier hatte darauf reagiert, indem sie die Proteste gegen das polnische Abtreibungsverbot als Thema auf die Leinwand des von ihr – wie verabredet gebauten – temporären Kinosaals drängen ließ: Das war für die Gerichte ein Vertragsbruch. Also durfte die Stadt Görlitz das Werk abbauen. Ohne Vorwarnung und ohne Versuch der Vermittlung, was, wenn man sich wie Görlitz Ku­ra­to­r*in­nen spart, wohl auch schwer zu leisten gewesen wäre.

Klar, Auftragskunst ist nur innerhalb vertraglich vereinbarter Grenzen frei. Aber wo die liegen und wann sie verletzt sind, bestimmt in Sachsen offenbar der Besteller ganz allein. Das Machtgefälle wirkt überwältigend. Der Rechtsstreit dauert an. Immerhin hat Baier ihr Werk als digitale Augmented-Reality-Version realisiert, mit der sich das echte Görlitz bei Bedarf überschreiben lässt.

Das ist, was Kunst im öffentlichen Raum vermag: Diskussio­nen entfachen. Themen setzen. Das Denken in Gang bringen. „Wenn die Empörung groß ist, wird es interessant“, hat Star-Kurator Guido Magnaguagno im Schweizer Fernsehen über öffentliche Kunst gesagt. Ihre Werke sind politische Objekte, für die „schön“ und „hässlich“ nur als Deckbegriffe einer ideologischen Position dienen.

Dabei beziehen sie einen Teil ihres ästhetischen Werts aus der Verletzlichkeit, die der Standort ihnen zumutet. Sie setzen sich stets dem Dreck der Welt aus, den Abgasen, dem Tobenkot und der Dummheit. Wenn wild gewordene Kleinbürger wie die Band „Wir sind Helden“ im Lied „Denkmal“ den Vorschlaghammer zücken und dann noch die „Trümmer beschmier’n“ wollen, müssen sie nur den richtigen Moment abpassen, um zuzuschlagen. Die Kunst kann ja nicht weglaufen und sich verstecken.

Ihre Immobilität wird aber auch zum Problem, wenn sie nicht mal mehr die Kraft hat, Wut auszulösen – weder inhaltlich noch durch die Form. „Es mag reizend gewesen sein, sich eine Fußgängerzone auszumalen, in der eine völlig sinnlose Betonkugel liegt“, hat Max Goldt 1993 erkannt. „Reizlos ist es, zu bemerken, daß diese Idee in zahlreichen Städten verwirklicht wurde.“ In Gießen, Hameln, Einbeck, Bonn, Bad Harzburg und Villingen hatte er fotografische Belege für diese Mode gesammelt, die Mitte der 1970er aufkam, wahrscheinlich als eine etwas zu nahe liegende Form für ein verbreitetes Befinden jener Jahre, in denen der Ausdruck „Gleichgewicht des Schreckens“ sehr üblich gewesen war, um die globale Lage zu charakterisieren. Als abgegriffene Metapher sind die Dinger liegen geblieben und stecken mit ihrer Mattigkeit mittlerweile die Stadt an, statt die Unwirtlichkeit zu besiegen.

Teil des Fest­programms: Prozession mit auf­blasbarem König in Bremen   Foto: Nikolai Wolff

Und nun? Wäre es schlimmer, das stehen zu lassen, als die monströsen Bismarck-Monumente oder Joseph Thoraks Faustkämpfer, der in Berlin seit 1936 unverändert fürs Nazi-Menschenbild wirbt? Für einige faschistische Denkmale war in Bremen in den 1980ern der kluge Weg der künstlerischen Umdeutung erprobt worden. So hat Jürgen Waller, Professor an der Kunsthochschule und aus Prinzip vor allem im öffentlichen Raum tätig, 1989 die heroische NS-Plastik eines Jünglings in den Wallanlagen dekonstruiert. Sie ist nun ein Mahnmal für die Opfer des Massakers von Lidice (1942). Dessen Wirkung ist um nichts verblasst.

Bei unbelasteten Plastiken aber verbietet sich so ein Zugriff. Sie umzugestalten wäre eine krasse Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Nur wurden allein seit Start des Kunst-im-öffentlichen-Raum-Programms auf Bremens begrenzten Flächen 680 dauerhafte Projekte realisiert, also eins für je 1.000 Landeskinder. Das kann nicht alles so bleiben. Wie es gelinge, „den Werken, die ihre Bedeutung im öffentlichen Raum verloren haben, respektvolle Aufbewahrungsorte zu ermöglichen“, nennt auch Pfister, die doch an der Aufstellung der meisten dieser Objekte mitgewirkt hat, eine der großen Zukunftsfragen der Public Art.

Die Stadt ändert sich. Sie ist kein Museum. Die Gegenwart hat eigene Bilder. Und sie will vielleicht auch mal was anderes auf die Straße bringen als einen läppischen Eselsmarsch. „Die Idee eines Depots bräuchten wir für Kunst im öffentlichen Raum eben auch“, sagt Pfister.

Beispiele dafür gibt es sehr wenige, in Deutschland möglicherweise nur eins: Der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf hat schon 2006 die „Zwischenablage“ geschaffen, im Hof des Verwaltungsgebäudes Riesaer Straße, um dort Kunstwerke zu bewahren und anschaulich zu lagern, die ihren Kontext verloren haben. Die Finanzierung ist wackelig, kaum jemand kennt diesen Ort. Aber wer ihn besucht, erlebt eine der spannungsreichsten Ausstellungen Berlins. Und natürlich: Der Eintritt ist frei.

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