Nach den Vorwahlen in Argentinien: Javier Milei ist Überraschungssieger
Der rechtskonservative Neuling Javier Milei wurde der beliebteste Präsidentschaftskandidat bei der Vorwahl in Argentinien. Im Oktober steht die Wahl an.
Buenos Aires taz | Mit mehr als 30 Prozent der Stimmen setzte sich der anarcho-libertäre Ökonom Javier Milei an die Spitze der Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahl im Oktober in Argentinien. Die rechtsliberale Oppositionsallianz Juntos por el Cambio erhielt 28 Prozent und die linksprogressive Regierungsallianz Unión por la Patria 27 Prozent der Stimmen bei der Vorwahl am Sonntag. „Es lebe die Freiheit, verdammt!“, begrüßte Milei am Wahlabend seine Anhängerschaft, die mit einem lautstarken „Alle sollen abhauen“ antwortete. Milei versprach, „dem Kirchnerismus und der parasitären politischen Kaste, die das Land untergehen lässt, ein Ende zu setzen“.
Der 52-Jährige stand Anfang der 1990er Jahre als Musiker einer Band auf der Bühne, die Rolling-Stones-Titel coverte. Jetzt rockt Milei das Publikum mit seinen politischen Auftritten – und bekommt mehr Zuspruch als früher mit der Gitarre. Statt Buchhalter zu werden, wie es sein Vater wollte, studierte er Wirtschaftswissenschaft. Als Ökonom tingelte er durch TV-Talkshows, die ihn einluden – und das waren viele. Seine stets aggressiven bis cholerischen Auftritte versprachen beim trockenen Thema Wirtschaft beste Unterhaltung und Quote.
Milei ist ein ausgezeichneter Kenner seines Faches, argumentativ äußerst schlagfertig und in seinen Abrechnungen gnadenlos und oft beleidigend. Dabei ist er weder ein klassischer Liberaler noch ein neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler. Er ist ein Libertärer – eine Unterscheidung, die oft nicht wahrgenommen oder verstanden wird. Milei beruft sich auf die österreichische Schule der Nationalökonomie. Doch sein Idol ist der US-Amerikaner Murray Rothbard, der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Begriff des Anarchokapitalismus prägte. Rothbard vertrat einen freien Marktkapitalismus, in dem das Recht auf Privateigentum ein Naturrecht ist und der staatliche Regulierungen als legalisierte Form von Diebstahl versteht.
Beliebtester Kandidat in 16 der 23 Provinzen im Land
Im Juli 2021 gründete Milei La Libertad Avanza, ein Bündnis aus libertären und rechtskonservativen Gruppierungen, das vier Monate später in Buenos Aires drittstärkste Kraft wurde. Der Erfolg beschränkte sich damals noch auf die Hauptstadt. Dass er jetzt in 16 der 23 Provinzen die meisten Stimmen bekommen hat, unterstreicht seine guten Chancen, in eine Stichwahl einzuziehen. Der Wahlausgang der Vorwahl lässt den Schluss zu, dass keine*r der Kandidat*innen im Herbst im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit auf sich vereinen wird.
Danach gefragt, was Milei in den ersten 100 Tagen einer möglichen Amtszeit als Präsident machen würde, nannte er als Erstes die Abschaffung der Zentralbank. Deren Politik des Gelddruckens sei die Ursache der hohen Inflationsrate, die 2023 voraussichtlich über der 120-Prozent-Marke liegen wird.
Leser*innenkommentare
LeKikerikrit
Kurz gesagt: Polemisier gegen "die da Oben" um einer von Ihnen zu werden (oder schon war, wie Trump).
Land of plenty
Libertarians und Stalinisten jubeln sich zu. Eine bizarre Welt.
Ardaga
"Der rechtskonservative Neuling Javier Milei", "der anarcho-libertäre Ökonom Javier Milei", "ein Bündnis aus libertären und rechtskonservativen Gruppierungen"...
Bei allem Respekt, aber wenn mensch schon so vielerlei Etiketten bedient, sollte wenigstens auch die am ehesten zutreffende inkludiert sein: der hysterische Erzfaschist Javier Milei. ("Nebenbei" Trump- und Bolsonazibewunderer.)
argie
@Ardaga "Faschist" würde ich nicht unterstreichen. Milei ist weder nationalistisch noch rassistisch/minderheitenfeindlich. Seine Ideologie basiert vielmehr fast vollständig auf Wirtschaftstheorien und dem sogenannten "Nichtaggressionsprinzip". Auch wenn er zum Teil schwachsinnige Verschwörungstheorien ("Kulturmarxismus", "Klimalüge") teilt, aber die sind bei ihm eher Nebensache.
Rechtskonservativ (wegen seiner Ablehnung der Abtreibung und Umverteilung) und libertär passt genau, deshalb ist der Artikel der taz als einer der wenigen hier korrekt.
Ajuga
Ösi-Ökonomik ist ja ein weites Feld, völlig antimenschlicher Fringe selbst nach WiWi-Standard, aber durchaus in sich ausdifferenziert.
Womit wir es hier zu tun haben, ist ein momentaner Trend in westernisierten Gesellschaften. Das nächste Analog ist vermutlich Nayib Bukele. De Santis ist aber auch schon scheißnah dran, und auch die Lucke-AfD und Teile von Vox und den englischen Gammons schwimmen auf der Welle. Und kleine Fische gibt es in diesem ideologischen Gülletümpel zu Hauf, selbst in Russland IIRC, und am originärsten unter den deutschen Parteien in Form von Janichs Früh-und-Totgeburt "Partei der Vernunft".
Bei Leuten wie Milei, Bukele usw ist es aber ein Ding, was sie aus dem neoreaktionären Sumpf mitgenommen haben. In diesem ganzen Gemisch von Rassisten, Christenfundis (über den Aspekt ist Milei da reingekommen), Impf- und Klimaschwurblern, Incels, BTC-Hodlern (das wars bei Bukele) und Whitepower-Transhumanisten hat Austrian economics zwar kein Monopol auf den ökonomischen Teil der kollektiven Realitätsverweigerei, aber die meisten sind entweder Ösis oder oder Nazbols.
Solche Leute sind eine Chiffre für die Charlotteviller Einheitsfront ihrer jeweiligen Staaten. Die sind nicht "liberal" oder "konservativ" oder "reaktionär", die sind einfach nur dissozial, aus Dummheit, Habgier oder connerie.
"Mitteextrem" und "Radical Centrism" sind halt leider immer noch keine landläufigen Begriffe, aber dieser Artikel zeigt gut auf, warum sie es dringend werden müssen.
Ajuga
Rothbard war so was wie der Horst Mahler der USA.
rationalwiki.org/wiki/Murray_Rothbard