Folgen des britischen Kolonialismus: Die Erben der Sklaverei
Großbritannien bewertet seine Rolle in der Sklaverei neu. Familie Trevelyan arbeitet dabei ihre schändliche Geschichte im Karibikstaat Grenada auf.
G renada, 9 Uhr morgens. 30 Grad, 74 Prozent Luftfeuchtigkeit. Entlang der schmalen Straße zur Hauptstadt St. George’s verläuft ein hoher Zaun. Zwei Straßenverkäufer stehen hinter ihren Ständen. Hin und wieder steigen ein paar Leute aus Kleinbussen aus und verschwinden zu Fuß auf kleinen Wegen zur Arbeit. Hinter dem Zaun befindet sich ein chinesisch-grenadisches Agrarprojekt. Auf der anderen Straßenseite steht hinter einem Zaun ein verlassenes zweistöckiges graues Gebäude mit verblassten Fensterläden. Aus dem Inneren wachsen Pflanzen, der Putz bröckelt, manche Fenster und Türen fehlen, das Holz erscheint morsch. Auf zwei sonnengebleichten Balken liest man „La Sagesse Natural Works Restaurant & Bar“. Dahinter erkennt man eine mit Gras und Sträuchern überwucherte Ruine.
Das Gelände ist menschenleer. Ein paar Ziegen laufen neugierig herum. Hinter dem Antriebsrad einer alten Wassermühle verläuft ein kleiner Fluss. Vor knapp 200 Jahren wurde hier Zuckerrohr zerkleinert, es war eine Rumbrennerei. Auf einer Anzeigetafel neben der Straße steht: La Sagesse – eine Zuckerplantage. Auf nahezu 300 Hektar schufteten hier vor Jahrhunderten Afrikaner:innen in der tropischen Hitze, von Europäer:innen hierher verschleppt und versklavt. Insgesamt gab es einst auf der Karibikinsel Grenada 300 bis 370 solcher Plantagen. Ein paar vernachlässigte Ruinen sind die einzig sichtbaren Überreste. Der Großteil wurde seit Abschaffung der Sklaverei überbaut.
Zuckeranbau fand vor allem in den flacheren Teilen der Plantage statt, wo sich jetzt ein Sportfeld erstreckt. Auf drei Seiten umranden Hügel das Gelände, manche wild bewachsen, hier und da stehen Wohnhäuser mit Terrassen. Neben dem Sportfeld zieht sich ein Feldweg zwischen Sträuchern und kleinen Äckern südlich bis zum karibischen Meeresstrand hinunter. Zu Tausenden flüchten Krabben beim Vorbeigehen in ihre Höhlen. Auch dieser Teil gehörte einst zur Plantage, ein Sumpfgebiet. In den 1960er Jahren baute sich hier ein britischer Aristokrat ein schickes Haus, heute ist es ein kleines exklusives Hotel in Pink. Der Tourismus soll die Gegend in Zukunft voranbringen.
Grenada erlaubt Investoren entlang der gesamten Bucht den Bau ausschweifender Hotelkomplexe. Durch eine Mindestbeteiligung kann man sogar die Staatsbürgerschaft kaufen. Angeblich sind die Anteile für La Sagesse schon ausverkauft. Naturschützer:innen protestieren, aber große Teile des Mangrovenwaldes wurden schon gerodet.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Ausländische Investor:innen bereichern – das ist seit Jahrhunderten das Schicksal dieser Inseln in der Karibik. Im Jahr 1498 sichtete Christoph Kolumbus als erster Europäer die Insel, die er zuerst „La Concepción“ nannte und später Granada. Die Bewohner:innen hatten einen anderen Namen für ihre Heimat: Camerhogne. Sie wehrten sich mit Vehemenz. 1649 gründeten Eroberer aus Frankreich, auf die auch das „e“ in Grenada zurückzuführen ist, die heutige Hauptstadt St. George’s.
Fünf Jahre später stürzten sich die letzten Indigenen, so heißt es, über die Klippen in den Tod. Die Insel diente nun Plantagenbesitzern zum Anbau von Zucker. Hierzu holten die Europäer:innen Menschen aus Afrika. Ihnen wurde der Status Mensch abgesprochen, sie wurden wie Tiere behandelt und mussten unentgeltlich arbeiteten. 1763 wurde Grenada britisch, woraufhin die lukrativen Zuckerplantagen weiter ausgebaut wurden.
Die Plantage La Sagesse gehörte den Simonds, einer Geschäftsfamilie in England. 1757 ging der Besitz der Simonds durch die Ehe von Louisa Simond mit John Trevelyan an die altenglische aristokratische Trevelyan-Familie über. Die Briten verboten 1807 den Sklavenhandel, aber die Sklavenhaltung auf den Plantagen ging vorerst weiter – bis zur Abschaffung im Jahr 1834. Den Eigentümern zahlte der britische Staat damals 20 Millionen Pfund (heute umgerechnet 18 Milliarden Euro) Entschädigung für den Verlust ihrer Sklaven. Die Trevelyans erhielten für ihre 1.004 Versklavten in Grenada 34.000 Pfund, auf heute umgerechnet 3,5 Millionen Euro. Die Opfer der Sklaverei gingen leer aus. Die Plantage La Sagesse ging später durch viele Hände und wurde aufgeteilt. Nichts verweist dort heute auf die düstere Geschichte.
A Very British Family
In Wallington im Norden Englands, 50 Kilometer von der schottischen Grenze, dem ehemaligen Landsitz der Trevelyan-Familie, lässt sich auf den ersten Blick ebenfalls nichts erkennen. Mit seinen Gärten, künstlich angelegten Seen und ehemaligen Jagdhainen ist Wallington heute ein Touristenort. Man zahlt Eintritt.
Im Hauptgebäude prangen hinter Vitrinen wertvolle Teeservice mit Blumenmustern aus dem deutschen Meißen und aus China. In den Tassen wurde einst der feine Tee mit dem Zucker aus der Karibik serviert. Imposante Porträts ehemaliger Bewohner:innen blicken darauf herab. Eine „Kuriositätenkammer“ im zweiten Stock enthält eine verzierte Kalebasse aus Guyana. Irgendwo soll auch eine Münze der Antisklavereibewegung liegen, mit einem um Erbarmen bittenden Afrikaner und den Worten: „Bin ich nicht ein Mensch?“
Die ehemalige US-Korrespondentin der BBC, Laura Trevelyan, begann sich vor zwanzig Jahren mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. In ihrem 2006 erschienenen Buch „A Very British Family“ schrieb sie auf, wie ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hätten, der Seite der Abschaffung der Sklaverei. Erst im Jahr 2013 entdeckte Laura Trevelyan, wie sehr ihre angeblich glorreiche Familie selbst in eines der größten Menschheitsverbrechen der letzten 500 Jahre verstrickt war.
Eine unglaubliche Scheinheiligkeit
„Ich glaube, mein Cousin Humphrey Trevelyan kam mir zuvor“, erzählt John Dower in der offenen Küche seines Hauses im Londoner Stadtteil Brixton, im Herzen des Schwarzen Englands. In der Nähe wohnt Reggaepoet Linton Kwesi Johnson, 1981 tobten hier die Aufstände der Schwarzen Jugend gegen die Londoner Polizei, an einem Fenster des Hauses steht groß in Gelb und Rot „Black Lives Matter“. Der 61-jährige Dower erzählt: „Es war ein Zeitungsbericht des britischen Historikers David Olusoga, der Leute dazu ermutigte, ihren Namen in eine Datenbank einzugeben. Ich gab meinen Namen und den meiner Mutter ein, und dann Trevelyan, und ich erfuhr, dass meiner Familie 1.004 Sklaven gehört hatten.“
Dower war am Boden zerstört, nicht zuletzt, weil seine Frau einen teils kamerunischen Familienhintergrund hat. Außerdem passte es nicht in sein Selbstverständnis als Jugendlicher: Punk und Reggae, Solidarität mit den Bergarbeitern gegen Margaret Thatcher, Rock against Racism. Sein Vater Michael war ein radikaler Naturschützer, sein Großvater mütterlicherseits, Sir Charles Philips Trevelyan, war von 1929 bis 1931 Bildungsminister der ersten britischen Labour-Regierung und überschrieb 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, als guter Sozialist das Landgut Wallington dem britische Volk. Seitdem wird es vom National Trust verwaltet, der öffentlichen Stiftung für Denkmalpflege.
„Die Scheinheiligkeit ist unglaublich“, fasst John Dower seine Entdeckung der Sklaverei in seiner Familie zusammen. Nicht einmal dem Historiker und Vorfahren G. M. Trevelyan (1876–1962), seine Geschichtsbücher waren lange Zeit in Großbritannien Pflichtlektüre, war dies bekannt. Dower weiter: „Ich hielt mich bisher für eine Person, die Rassismus bekämpft hat. Aber im Grund hat er mich ziemlich privilegiert. Ich glaube heute, dass vielleicht andere – Jüngere, Frauen, People of Colour – die Geschichte besser erzählen können als ich.“
Laura Trevelyan beschloss schließlich, die Entdeckungen als Journalistin anzugehen und einen Dokumentarfilm zu drehen. Sie kontaktierte dafür in Grenada die Historikerin Nicole Phillip-Dowe, stellvertretende Vorsitzende des Reparationskomitees von Grenada und Vizedirektorin des Grenada-Ablegers der University of the West Indies.
Phillip-Dowe sitzt in Grenada in ihrem geräumigen Büro im Universitätsgebäude, einer pastellgrünen Villa. „Nachdem im März 2022 das Reparationskomitee gegründet wurde, versuchte ich etwas Großes auf die Beine zu stellen“, erinnert sie sich. „Genau dann erhielt ich eine E-Mail von Laura Trevelyan. Meine Antwort an sie war: Ich lese Ihre E-Mail mit einem breitem Grinsen.“
Die Diskussionen zwischen ihr und Laura Trevelyan beschreibt sie als emotional. „Wir zeigten ihr, als sie hier war, Folterinstrumente. Am letzten Tag flossen Tränen. Das stellte für mich den ersten Schritt ihres Verstehensprozesses dar. Und es war genau der Punkt, an dem sie erwähnte, dass sie über Wiedergutmachung nachdenkt.“ Noch während der Aufnahmen für ihren Film fragte Laura Trevelyan eine grenadische Schulklasse, ob sie Reparationen ihrer Familie an Menschen in Grenada für richtig hielten. Die Antwort lautete: Ja!
Reparationen für Sklaverei? International war das lange Zeit undenkbar, auch in Großbritannien. Im Jahr 2007 entschuldigte sich Labour-Premierminister Tony Blair für die Sklaverei allgemein – folgenlos. 2011 bezeichnete der konservative Premierminister David Cameron auf Jamaika die Sklaverei als „schrecklich“ und betonte, Großbritannien sei stolz, Wegbereiter der Abschaffung gewesen zu sein. Als 2015 bekannt wurde, dass auch seine Familie einst Versklavte gehalten und dafür bei der Abschaffung der Sklaverei Entschädigung erhalten hatte, erklärte er, es sei Zeit, die Geschichte hinter sich zu lassen. 2021 sprach der heutige König Charles von der „fürchterlichen Gräueltat der Sklaverei“. Vorsichtig gewählte Worte, ohne Verbindlichkeit.
Rishi Sunak, britischer Premierminister
Im April ersuchte die schwarze Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy im Parlament Premierminister Rishi Sunak, den ersten britischen Premier mit einem unmittelbar kolonial geprägten Familienhintergrund, sich für die Sklaverei zu entschuldigen. „Nein, die britische Geschichte neu aufzumachen, ist nicht der richtige Weg“, lautete seine Antwort.
Für Ribeiro-Addy ist die Frage der Reparationen aber wichtig, sagt sie der taz. Man müsse anerkennen, dass die Sklaverei zu Ende ging, weil Aufstände sie unprofitabel machten, nicht weil weiße Moralprediger die Barbarei verurteilten. „Wenn weiterhin vom guten Willen des Westens gesprochen wird, wird es auch künftig so aussehen, als sollten wir dankbar sein, dass etwa die Briten die Sklaverei beendeten. Es waren wirtschaftliche Argumente, die das beendeten, und die Sklavenhalter wurden dafür auch noch entschädigt bezahlt.“
Viele altehrwürdige britische Institutionen haben sich inzwischen für ihre Mitwirkung an der Sklaverei entschuldigt: die anglikanische Kirche, die Universität Oxford, die Zentralbank, die Stadt Edinburgh, die Zeitung Guardian. König Charles veranlasste eine Untersuchung zur Verbindung der Königsfamilie mit der Sklaverei. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
Immerhin Tropfen auf dem heißen Stein
In diesem Klima also beschlossen die Trevelyans, sich im Namen ihrer Familie zu entschuldigen. An einem Familientreffen über Zoom beteiligte sich auch der aus Barbados stammende Historiker Sir Hilary Beckles, Vorsitzender der Reparationskommission der Vereinigung karibischer Staaten (Caricom) und Vizerektor der University of the West Indies. Beckles’ 2013 erschienenes Buch „Britain’s Black Debt“ fordert Reparationen für die Versklavung, den Kolonialismus und die Langzeitschäden.
Der Karibikstaatenbund Caricom hat 2014 diese Forderungen in einem Zehnpunktekatalog konkretisiert: Entschuldigung, Repatriierungsmöglichkeit, Entwicklungsprogramme für karibisch-indigene Menschengruppen, Investitionen in kulturelle Einrichtungen und Gesundheit, Bekämpfung des Analphabetismus, Bildungsförderung zu afrikanischer Geschichte, psychologische Hilfsprogramme, Technologietransfer und letztlich die Tilgung von Schulden.
Schließlich einigte sich die Trevelyan-Familie auf den Text einer Entschuldigung. Auf Intervention von Beckles wurde die Anerkennung der Sklaverei als Menschheitsverbrechen eingefügt. Am 27. Februar 2023 unterschrieben die Entschuldigung vor laufender Kamera 104 Familienmitglieder, von denen mehrere eigens nach Grenada gereist waren, auf einer Feier im Beisein von Grenadas Premierminister und anderen Persönlichkeiten. Zusätzlich hatte Laura Trevelyan eine Überraschung parat: 100.000 Pfund (umgerechnet 117.000 Euro) aus ihrem eigenen Geld als Reparation.
Als die taz Laura Trevelyan darauf anspricht, redet sie es klein. „Ich hatte eine gute Karriere mit allem, was man sich wünschen könnte.“ Das Geld werde von der University of the West Indies gemanagt und soll nun ein Auslandsstipendium pro Jahr finanzieren. Nicole Phillip-Dowe hält das für wichtig, „weil mit jeder Unterstützung auch jeweils die Familien der Studierenden aufsteigen“. Andere Familienmitglieder wollen weitere Programme in Grenada unterstützen. Im Verhältnis zum vergangenen Unrecht sind es Tropfen auf dem heißen Stein, aber immerhin.
Kurz vor der feierlichen Unterzeichnung ließ Arley Gill, Vorsitzender des grenadischen Reparationskomitees, den Schulleiter Nigel de Gale ein Gedicht vortragen. De Gale leitet in St. George’s die anglikanische Grundschule. Sein Gedicht fordert mehr als eine Entschuldigung, nämlich eine Veränderung. Er wolle die nächsten 400 Jahre Weiße versklaven, heißt es in dem Gedicht.
„Das Gedicht war nicht gegen die Trevelyans gerichtet“, versichert de Gale im Gespräch mit der taz in seinem Büro neben dem Schuleingang. Kinder laufen lärmend vorbei, man hört eine Schulklasse Sätze rhythmisch nachsprechen. De Gale zeigt auf die Porträts vergangener Schulleiter an der Wand: Er selbst am Ende, am Anfang lauter weiße Männer.
„Ich will kein Geld!“, stellt er klar. „Wir müssen wissen, dass wir auch Rechte haben, dass wir gleichberechtigt mit anderen zusammensitzen können, um gemeinsam Probleme zu lösen.“ De Gale erwähnt Schwarze Vorbilder: Marcus Garvey, Malcolm X, Mohammed Ali. Die Kinder in seiner Schule müssten die Zuversicht entwickeln, dass die Zukunft ihnen gehört und schon immer hätte gehören sollen. „Wir hatten unsere eigene Geschichte und eigenen Erfindungen. Und nun sind wir an der Reihe.“
„Ich will kein Geld“ – was hält Arley Gill davon, der Vorsitzende des Reparationskomitees? „Es geht nicht um Geldüberweisungen“, stellt er in seinem Büro über dem Hafen von St. George’s klar. „Es geht um einen Entwicklungsplan, nicht Entwicklungshilfe.“ Weder während der Sklaverei noch während der kolonialen Nachfolgeverwaltung sei ausreichend in die Insel investiert worden. „Reparationen sind eine Verpflichtung“ – Entwicklungshilfe sei nur ein freiwilliger Akt. Was die Trevelyans taten, sei ein Wendepunkt. Man erkenne es daran, dass andere Familien und Institutionen nun nachziehen.
Den Schmerz der Vergangenheit abwenden
Die anglikanische Kirche von Grenada hat für ein Gespräch keine Zeit. Der katholische Bischof Clyde Martin Harvey, 74 und geboren auf Trinidad, empfängt die taz neben seiner Kathedrale. Gut 40 Prozent der Menschen in Grenada sind katholisch. Als Schwarzer in der Karibik könne er nicht vergessen, dass seine Vorfahren versklavte Menschen waren, beginnt Harvey. „Es ist nicht leicht, sich vom Schmerz der Vergangenheit abzuwenden.“ Er spricht von seinem Stolz auf das heutige Grenada. „Wir sind wunderschön!“, ruft er.
Er kommt auf Laura Trevelyans Initiative zu sprechen, ohne sie beim Namen zu nennen. „Ist dies ein Stipendium für ein paar Leute? Oder der Anstoß einer ganzen Bewegung?“ Reparationen seien nicht nur eine Frage der Sklaverei und der Kolonialzeit, sondern müssten sich auf die Weiterführung des Imperialismus beziehen. „Als katholischer Priester und Bischof sollte ich dem allen fernbleiben, denn ich trage die Kleider des imperialen Roms. Aber es macht mich hoffnungsvoll, dass einige innerhalb unserer Kirche darüber nachdenken und sprechen.“ Was die Trevelyans betreffe: Sie hätten es gut gemeint, aber er hätte auf das ganze Drumherum verzichten können. „Das Ego ist ein fundamentaler Feind jedes Versuches wahrhafter Befreiung. Wer mit Gesten kommt, sollte nicht erwarten, dass man ihm die Füße küsst.“
Rochel Charles, grenadischer Rastafari, über die Initiative der Trevelyans
Weder Katholiken noch Anglikaner spielten eine offizielle Rolle bei der Entschuldigungszeremonie der Trevelyans. Aber die Twelve Tribes of Israel, Grenadier:innen, die dem Rastafariglauben anhängen, durften ein paar Gebete sprechen. In St. Paul’s auf einem Hügel nicht weit von der Stadt hat sich eine Gruppe Rastafari im Hauptquartier der „Zwölf Stämme“ versammelt. Ihr Gelände hat einen gepflegten Rasen, eine Freilichtbühne, eine Halle mit Bar und Küche und vielen Bildern, darunter ein von dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie, den die Rastas verehren.
Der 67-jährige Leiter Rochel Charles trägt eine Khakiuniform mit rot-gelb-grünen Insignien, dazu eine rot-gelb-grüne Mütze. Nach Segenssprüchen eröffnet Charles den Abend mit einem langen Vortrag über die Geschichte der Versklavten. „Sie sind nicht tot, sondern leben in mir und anderen weiter“, sagt er. Der Einsatz für Reparationen sei in diesem Zusammenhang zu verstehen. Das sei, was die Vorfahren wollten. „Wir fordern als Rückzahlung Wohnung und genug Geld, um unser Leben zu erhalten. Wir wollen zurück gehen und Afrika aufbauen, wie es in der Bibel steht“, sagt Charles. Er bezeichnet Laura Trevelyan als tapfere Frau: „Wir sehen sie als Funke eines Feuers, das sich durch Europa brennen wird.“
Europäer haben kein Recht auf die Ländereien
Was bedeutet das alles auf La Sagesse? Auf der ehemaligen Plantage stößt die taz auf den 82-jährigen Winston Mitchell. Er baut ein Gewächshaus auf. In Gummistiefeln und mit riesigem Strohhut rügt er gerade einen Angestellten. Mitchell verließ Grenada 1961 mit einem Stipendium, er wurde Arzt in den USA. 1986 kehrte er zurück. Er investierte sein Geld in den Kauf großer Teile des Geländes von La Sagesse bis hin zum Strand. „Landwirtschaft liegt mir im Blut“, sagt er. Der Wiederaufbau mit einer Fruchtsaftfabrik lief bestens, bis Hurrikan „Ivan“ 2004 fast alles zerstörte. Frustriert verkaufte er viel Land. Für sich selbst hat er vier Gewächshäuser behalten.
„Die teuflische Sklaverei ist lange her“, sagt er. „Gespräche darüber werden Grenada nicht helfen. Auch eine Entschuldigung kann die Tatsachen nicht ändern!“ Mitchell hat eine andere Antwort: Harte Arbeit, gute Ausbildung. „Wenn dir etwas Ungerechtes zugestoßen ist, stehe auf und arbeite dich hoch!“, empfiehlt er. Eine offene Rechnung habe er trotzdem: Manche Familien aus Europa besäßen bis heute Land in der Karibik und wollten es nicht hergeben. „Sie haben keinerlei Recht auf diese Ländereien, weil sie meine Leute unterdrückten und es immer noch tun“, schimpft Mitchell. Er erzählt, dass er einmal beim Graben auf Skelette gestoßen ist: Dort, wo früher die Behausungen der Versklavten gestanden hatten.
Mitchells ist auch die chinesische Plantage in La Sagesse ein Dorn im Auge. „Ich glaube nicht, dass die Chinesen umsonst helfen“, findet er. „Es mag fantastisch aussehen, aber die meisten Arbeiter und Materialien kommen aus China.“ Aber Mitchell hat das Land selbst verkauft, so auch die Bucht um La Sagesse an die Hotelinvestoren von Range Development. Naturschützer Andre Joseph-Witzig von der Gruppe Grenada Land Actors übt scharfe Kritik: „Wir sind, so heißt es, seit 1974 unabhängig. Aber was auf dem Gut geplant ist, erlaubt eine neue Form von Sklaverei und Kolonialisierung am selben Ort.“
In den neuen Investitionsprojekten blieben Einheimischen höchstens Jobs als Dienstpersonal, fürchtet er. Bereits jetzt gebe es Streit um den Zugang zum Strand. Grenada Land Actors hat eine richterliche Prüfung verlangt, weil die Regierung die eigenen Gesetze und Regeln zum Umweltschutz nicht einhalte. Die Investoren feiern auf ihren Webseiten Ausbildungsprogramme, Investitionen in die Lebensmittelversorgung, Neupflanzungen, verantwortungsvollen Umgang mit Natur und Mensch. Wer recht hat, wird sich im Januar 2024 vor Gericht zeigen. Es sei alles scheinheilig, glaubt Joseph-Witzig. „Während die Regierung dies zulässt, fordert sie zur selben Zeit Klimareparationen.“ In La Sagesse seien nicht nur die Spuren der Sklaverei zu schützen, sondern auch Spuren der vorherigen indigenen Bevölkerung. Doch wenn es so weitergehe, bleibe nichts von der Vergangenheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Humanitäre Lage im Gazastreifen
Neue Straßen für Gaza – aber kaum humanitäre Güter
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Demokratie unter Beschuss
Dialektik des Widerstandes