Verbandschefin über Abtreibungen: „Die Ärzt*innen werden beschimpft“
Abtreibungen sind für Ärzt*innen nach wie vor mit viel Hürden und Ärger verbunden. Verbandschefin Doris Scharrel über die Lage in Schleswig-Holstein.
taz: Frau Scharrel, immer wieder werden Frauenärzt*innen, die in ihren Praxen Abtreibungen anbieten, von so genannten Lebensschützer*innen bedroht, mit Hassmails oder mit Protesten vor den Praxen. Wie ist die Lage in Schleswig-Holstein?
Doris Scharrel: Diese selbsternannten Lebensschützer*innen gibt es schon länger. Sie waren bisher im Süden Deutschland aktiver als im Norden. In Schleswig-Holstein erlebten wir Proteste vor den Praxen nur in Einzelfällen. Doch seit der Aufhebung des Paragraphen 219a im Strafgesetzbuch stellen mehr Praxen das Angebot auf ihre Web-Seiten. Seither kommen neue Gruppen oder Einzelpersonen dazu, die sich, sagen wir mal, moralisch erheben und Frauenärzt*innen beschimpfen, die Abbrüche durchführen.
Der Paragraph 219a, der Werbung für Abtreibungen unter Strafe stellte, wurde im vergangenen Jahr aufgehoben. Diese Reform galt als Durchbruch. Sie klingen aber nicht begeistert.
Viele Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche machen, fühlen sich allein gelassen. Rechtlich ist eigentlich alles geregelt: Wenn das Leben der Frau in Gefahr ist oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Straftat ist, ist ein Abbruch nicht rechtswidrig. Schwangerschaftsabbrüche nach Beratungsregelung sind rechtswidrig, aber straffrei. Für die betroffenen Frauen ist rechtlich alles gut geregelt, aber Ärzt*innen fühlen sich in der Umsetzung nicht unterstützt oder sogar diskriminiert.
Woran liegt das?
studierte Medizin in Münster und Kiel, machte ihre Facharztausbildung am Universitätsklinikum in Kiel und war 25 Jahre lang niedergelassene Frauenärztin in eigener Praxis in Kiel-Kronshagen. Seit 2012 setzt sie sich als Landesvorsitzende im Berufsverband der Frauenärzte für die Belange ihrer Kolleg*innen und Patient*innen ein.
Den rechtlichen Rahmen bilden zwar das Strafgesetzbuch, das Schwangerschaftskonfliktgesetz und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Aber die Zuständigkeit für die Umsetzung in den Einrichtungen, in denen Abbrüche durchgeführt werden, liegt bei den Ländern. In einigen Bundesländern, auch in Schleswig-Holstein, müssen Praxen zahlreiche administrative Voraussetzungen erfüllen, die junge Ärzt*innen scheuen, wenn sie einen Kassensitz übernehmen. Generell ist die Bereitschaft der Niedergelassenen hoch, aber die Regeln stellen hohe Hürden dar, und das merken wir im Flächenland. Schon heute fahren Frauen für einen medikamentösen Abbruch aus Nordfriesland nach Lübeck.
Wie ist die Lage im Land denn überhaupt?
144 Frauenärzt*innen in Schleswig-Holstein haben die Voraussetzungen für ambulante Operationen, nur 77 machen Abbrüche. Das ist zurzeit ausreichend, aber 30 Prozent der Ärzt*innen gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Das kann die Lage verschlechtern.
Wie sieht es mit Krankenhäusern aus? Dort finden doch auch Abtreibungen statt?
Frauen haben das Recht, den Arzt und den Ort des Schwangerschaftsabbruches zu wählen. Dabei gibt es regionale Unterschiede in den gewachsenen Strukturen. In Berlin finden 90 Prozent ambulant in Praxen statt, in Schleswig-Holstein nur 50 Prozent. Hier ließe sich, gerade wegen des Fachkräftemangels in den Kliniken, in die ambulante Versorgung umsteuern.
Welche Probleme befürchten Sie in der Zukunft?
Eine Verschlechterung der politischen Lage. Um das klarzustellen: Einzelne Lebensschützer*innen oder Proteste gab es immer, genau wie es Internetportale gibt, in denen Praxen kritisiert werden, manchmal sehr hart und ungerecht. Ich rate Betroffenen dazu, solche Dinge zu ignorieren. Der juristische Weg ist aufwendig und teuer. Das kostet Nerven und Zeit. Ein Kollege in einem anderen Bundesland prozessierte gegen eine Menschenkette vor seiner Praxis und erreichte, dass die Demonstration zeitlich eingeschränkt wurde – aber was für ein Aufwand!
Also nicht die Trolle füttern, die gute alte Internet-Regel. Aber was könnte dann gefährlich werden?
Dass der politische Druck wächst. Rechtliche Rahmenbedingungen müssen so rechtssicher sein, dass sie Frauen und Ärzt*innen dauerhaft schützen. Wir müssen nur in andere Länder schauen, in die USA oder nach Polen, um zu sehen, wie schnell Frauenrechte eingeschränkt werden können.
Was könnte dann im Extremfall passieren?
Niemand sollte glauben, dass Frauen weniger abtreiben, wenn es verboten ist. Aber die Mortalität steigt, auch weil Frauen in ihrer Verzweiflung medizinisch veraltete, gefährliche, illegale Methoden von unqualifizierten Personen durchführen lassen. Und es gibt extreme Methoden wie Seifenabbrüche mit einer hohen Todesrate. Abbrüche, die Fachärzt*innen sicher und qualifiziert durchführen, können die Frauen schützen und einen späteren Kinderwunsch und die Komplikationsrate in einer Schwangerschaft senken. Dieses funktionierende System mit Schwangerschaftskonfliktberatungen und einer Durchführung der Abbrüche in staatlich genehmigten Einrichtungen durch Fachärzt*innen müssen wir erhalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“