Abschiebung nach Suizidversuch: Schutzraum bietet keinen Schutz

Eine lesbische Tunesierin wird abgeschoben, als sie in einer psychiatrischen Fachklinik behandelt wird. Das soll sich nicht wiederholen, so das Land.

Zwei Frauen in einer Menschenmenge küssen sich

In Tunesien mit Haft bedroht: Zwei Frauen küssen sich in der Öffentlichkeit Foto: Jose Veas Tapia/Imago

RENDSBURG taz | Die Fachklinik Rickling nimmt in dem gleichnamigen 3.000-Einwoh­ner*innen-Ort ein weites, parkähnliches Gelände ein. Rasenflächen und Büsche liegen zwischen den Wohn- und Behandlungsgebäuden der psychiatrischen Klinik, ein großzügiger Pavillon ist der Kunsttherapie vorbehalten. Eine Atmosphäre, um durchzuatmen und um gesund zu werden. Doch in der Nacht zum Donnerstag der vergangenen Woche fuhr die Grenzpolizei vor und holte eine Patientin aus ihrem Zimmer: Die 37-jährige Mariem F., die aus Tunesien stammt, wurde abgeschoben.

Die Aktion, die in der Verantwortung des Bundes lag, war formal rechtens – dennoch ist das Entsetzen von Geflüchtetenorganisationen groß. Das Grün-geführte Sozial- und Integrationsministerium in Kiel arbeitet nun daran, solche Fälle künftig anders zu handhaben.

„Dass eine Abschiebung aus einer laufenden Behandlung im Krankenhaus erfolgt, ist ein Skandal“, erklärt Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der evangelisch-lutherischen Nordkirche – die Fachklinik Rickling ist eine evangelische Einrichtung. „Der Schutzraum Krankenhaus ist eine Voraussetzung für die Gesundung und darf nicht angetastet werden.“

Protest kommt auch von Stefan Schmidt, dem Flüchtlingsbeauftragten des Landes: „Ich habe es erst gar nicht geglaubt“, sagte er dem NDR. Er befürchtet Schlimmes für die 37-Jährige: Ihr drohe bei einer Auslieferung nach Tunesien „Gefahr für Leib und Leben“.

Queeren Menschen drohen in Tunesien harte Strafen

Mariem F. ist lesbisch – in ihrem Herkunftsland Tunesien stehen darauf harte Strafen. So wurde ein männliches Paar im Juli 2020 zu je einem Jahr Haft verurteilt, berichtet der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands. Männern, die einer homosexuellen Beziehung beschuldigt werden, drohen so genannte „Anal-Tests“, Untersuchungen des Afters, bei denen Behörden herausfinden wollen, ob die Männer Analverkehr hatten. Die Untersuchung hat keine wissenschaftliche Grundlage und gilt, wenn sie unter Zwang stattfindet, nach internationalen Maßstäben als Folter.

„Gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen sind verboten und können in Tunesien strafverfolgt werden“, warnt das Auswärtige Amt in seinen aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen. „Vermeiden Sie Zeichen der Zuneigung in der Öffentlichkeit.“

Auch lesbischen Frauen drohen Haft oder Zwangsbehandlungen, denn Homosexualität gilt als Krankheit. Mariem F. war zuerst nach Schweden geflohen, wo sie einen Asylantrag stellte. Der wurde abgelehnt, die Frau reiste daraufhin weiter nach Deutschland und landete in Schleswig-Holstein. Doch nach den Regeln des Dublin-Abkommens ist innerhalb Europas das Land zuständig, in dem der erste Asylantrag gestellt wird. „Damit soll die Sekundärwanderung innerhalb Europas gesteuert oder begrenzt werden“, heißt es auf der Homepage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Dass direkt aus einer Klinik abgeschoben wird, ist selten, kommt aber vor: So wurde der Jordanier Mohammed K. im September vergangenen Jahres aus dem Uniklinikum Leipzig abgeholt und in die Dresdner Abschiebehaftanstalt gebracht. Er hatte sich zuvor selbst verletzt und mit Suizid gedroht, berichtete die taz. Die Gewerkschaft Ver.di berichtet über eine Schwangere mit Diabetes, die aus der Uniklinik Mainz nach Italien abgeschoben wurde: „Nervenaufreibende Situationen für die Betroffenen und nicht zuletzt belastend und herausfordernd für Beschäftigte der Krankenhäuser.“

Sozialministerium hatte rechtlich nichts zu beanstanden

„Nachdem wir als Ministerium von der Rückführung von Mariem F. durch das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge erfahren haben, haben wir rechtlich nichts zu beanstanden gehabt“, teilt eine Sprecherin der Sozial- und Integrationsministerin Aminata Touré mit. Eine Behandlung sei vielmehr Grund, die Reisefähigkeit der betroffenen Person besonders sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten. „Das ist in diesem Fall passiert. Ein Arzt war anwesend und hat die Frau auch nach Schweden begleitet.“

Auch wenn die Verantwortung beim Bund liegt, können die Bundesländer den Ablauf einer Abschiebung beeinflussen. Denn die „Planung des Überstellungstermins“ liegt bei den örtlichen Ausländerbehörden, heißt es auf der Homepage des BAMF. Diese Behörden sind an die Landkreise angedockt und damit Landesrecht unterstellt. Nach der nächtlichen Abschiebung aus Rickling brauche es eine über den Einzelfall hinaus wirksame Klärung, die Pa­ti­en­t*in­nen und Beschäftigte in Kliniken Sicherheit gebe, sagte die Flüchtlingsbeauftragte Jochims.

Tatsächlich habe das Ministerium „diesen Fall zum Anlass genommen, um unseren aktuellen Rückführungserlass zu überprüfen“ und arbeite „mit Hochdruck“, daran, ihn zu ändern, so die Sprecherin auf taz-Anfrage. Das Ziel sei, vulnerable Gruppen mehr zu schützen. Da der Landtag einer solche Änderung nicht zustimmen muss, sei ein Ergebnis in Kürze zu erwarten.

Als Vorbild könnten Erlasse aus Thüringen und Rheinland-Pfalz gelten. In beiden Bundesländern gilt seit 2019 ein Verbot für Abschiebungen aus einer Klinik. Auslöser waren jeweils Fälle, die für Proteste und Kritik gesorgt hatten. Für Mariem F. kommt diese Regelung allerdings zu spät: Laut NDR sitzt sie nun in Südschweden in Abschiebehaft.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

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