piwik no script img

Aktivist über die Dichterin Semra Ertan„Von Fremdenfeindlichkeit erzählt“

Am Samstag wird in Kiel ein Platz nach der Poetin und Aktivistin Semra Ertan benannt, die sich wegen des wachsenden Rassismus 1982 verbrannt hat.

Da hatte sie die ersten Gedichte schon geschrieben: Semra Ertan füttert Kieler Enten, 1974 Foto: Lothar Viehöfer
Alexander Diehl
Interview von Alexander Diehl

taz: Herr Viehöfer, ist der kommende Samstag ein guter Tag für Kiel – und wenn ja, warum?

Lothar Viehöfer: Es ist ein guter Tag, auf jeden Fall. Wir haben den langen Weg durch die Instanzen durchgehalten, und es wird eine Platzbenennung nach Semra Ertan geben. Das ist ja nicht selbstverständlich: Fast alle Straßennamen in Kiel beziehen sich auf Einheimische, auf Männer. Hier haben wir es endlich einmal mit einer Migrantin zu tun, mit einer Frau und mit einer Schriftstellerin – die auch in Kiel gelebt hat.

Wie lange war denn der Vorlauf? Also, wie lange haben Sie durch die Instanzen gehen müssen?

Insgesamt waren es etwa zwei Jahre. Ich habe unser Anliegen immer wieder vor dem Ortsbeirat vorgetragen, und dann ging das Ganze weiter in die Kommission für historische Stadtmarkierungen. Die hat eine Handlungsempfehlung an den Kulturausschuss gegeben, dann war der Bauausschuss involviert, und zum Schluss dann, das war am 16. März, die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel – und der Antrag ging überall ohne Gegenstimmen durch.

privat
Im Interview: Lothar Viehöfer

promovierter Psychologe, Erwachsenenbildner, aktiv im Forum für Migrantinnen und Migranten der Landeshauptstadt Kiel und beim runden Tisch gegen rechte Ecken im Stadtteil Friedrichsort.

Wie präsent ist denn Semra Ertan heute noch? Mussten Sie da immer auch ein bisschen Erinnerungsarbeit betreiben?

Wir haben einen Flyer in hoher Auflage hier im Stadtteil Friedrichsort verteilt, zweisprachig, um Semra Ertan bekannt zu machen. Ich habe hier ältere Mitbürger getroffen mit türkischem Hintergrund, da konnten sich einige wenige noch an Semra Ertan erinnern – es ist ja alles sehr lange her. Ich selbst habe Semra 1974 zum ersten Mal getroffen, also fast vor einem halben Jahrhundert. Also: Nein, sie ist im Moment nicht präsent – und das wollen wir ja gerade mit dieser Platzbenennung ändern.

Sie haben die reale Person kennengelernt, weniger die Verfasserin von Gedichten?

Sie war damals ein gern gesehener Gast in unserem Mietshaus, in dem hauptsächlich Studenten und studentische Wohngemeinschaften lebten. Sie hat uns viel erzählt aus Mersin, ihrer Heimatstadt in der Türkei. Sie hat uns auch erzählt von der Fremdenfeindlichkeit, die ihr damals in Westdeutschland entgegen geblasen ist. Damals war sie 17 Jahre alt. Heute wissen wir, dass sie da schon die ersten Gedichte geschrieben hatte. Wir haben dann später, 1979, angefangen in der Bürgerinitiativzeitung Spökenkieker, bei der ich als Redakteur mitgearbeitet habe, erste Gedichte von ihr zu veröffentlichen.

Was war der Spökenkieker?

Das war eine von über 20 Initiativen herausgegebene Zeitung, wo es um Hausbesetzungen ging, um Arbeitslosigkeit, um Straßenbahnpreise, um Umweltzerstörung – und eben immer wieder auch um Rassismus in Deutschland. Da passten die Gedichte von Semra einfach gut hinein. Das war alles vor ihrer Selbsttötung, und diese Gedichte wurden dann lange Zeit nicht angerührt; die Familie hat erst vor drei Jahren diese Kiste geöffnet, und inzwischen ist daraus ein großartiges Buch entstanden, das jetzt gerade in der zweiten Auflage erschienen ist.

Der Termin

Einweihung Semra-Ertan-Platz: Sa, 8. 7., 13 Uhr, Kiel-Friedrichsort, An der Schanze/Ecke Falckensteiner Straße

Haben Sie selbst ein Lieblingsgedicht von ihr?

Ja, klar. Mein Lieblingsgedicht ist „Unheimlich glücklich“. Ihre Gedichte sind alle zweisprachig erschienen, und dieses, hätte ich gedacht, lässt sich nicht übersetzen, aber auch davon gibt es eine türkische Fassung. Ich habe sogar mehrere Lieblingsgedichte, vor allem das Gedicht, das den Buchtitel gestiftet hat, „Mein Name ist Ausländer“. Im Spökenkieker druckten wir es unter dem Titel ab „Sie haben mich verkauft“. Das war kurz nach Semras Tod.

Was genau wird nun am Samstag passieren?

Es wird eine etwa eineinhalbstündige Veranstaltung werden, reden werden unter anderem Semras ältere Schwester, Zühal Bılır-Meier, aber auch ihre Nichte, Cana Bılır-Meier. Auch der Ortsbeiratsvorsitzende wird sprechen und Reyhan Kuyumcu, die stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein. Und ich selbst werde auch noch einmal das Wort ergreifen. Zwischendurch gibt es musikalische Darbietungen und vor allen Dingen natürlich Gedichtlesungen in Deutsch und auf Türkisch.

Hilfe bei Suizidgedanken

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie da­rüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 08 00/11 1 0  111 oder 08 00/11 1 0  222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen

Für eine Ehrung Semra Ertans im öffentlichen Raum engagieren sich ja auch in Hamburg Menschen, wo sie zuletzt gelebt hat – aber sich auch das Leben genommen. Vor dem Hintergrund Ihres Erfolgs in Kiel: Was würden Sie den Ak­ti­vis­t:in­nen in Hamburg raten?

Die Hamburger Initiative wird mit einer Delegation hier in Friedrichsort dabei sein. Wir wiederum hatten im Mai ein Grußwort nach Hamburg geschickt, ich habe vor zwei Jahren auch selbst dort gesprochen. Die Hamburger Initiative hat, soweit ich weiß, viel mehr Gegenwind aus der Politik auszuhalten. Ein Rat? Wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass wir nicht die schwierige Umbenennung einer Straße oder eines Platzes verlangen – sondern hier ist es eine Erstbenennung. Ein Ort, nur einen Steinwurf weit entfernt von dem Haus, in dem Semra Ertan damals mit ihrer Familie gelebt hat.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare