Der Hausbesuch: Endlich wieder singen können

Vom „Ballermodus“ ins Bett – und wieder auf die Bühne? Ein Besuch bei Sonja Trautmann, die an Post-Covid erkrankt ist.

Sonja Trautmann sitzt auf einem Sofa in ihrer Wohnung

Sonja Trautmann, auch Sæm genannt, ist Ärztin und Musikerin Foto: Roland Geisheimer/attenzione

Am Anfang hat sie das Gefühl, ihre ganze Persönlichkeit sei unter dem „Brain Fog“ begraben: kein klarer Gedanke, wie im Fieber. Sæm, wie die 36-jährige Sonja Trautmann genannt wird, ist Musikerin, Ärztin und an Post-Covid erkrankt. Sie erzählt von „Tagen nur mit sich selbst im Dunkeln“. Sie erzählt heute aber auch von den Schallplatten, die sie endlich wieder hören kann, von länger werdenden Spaziergängen, von Hoffnung.

Draußen: Fünf Stufen sind es bis ins Hochparterre. Nur fünf, deswegen ist Sæm hier eingezogen. Vorher hat sie in einer Dachgeschosswohnung gelebt, das ging dann nicht mehr. Jetzt kann sie aus ihrem Fenster in den Hinterhof steigen, quasi nur eine Stufe, der sich bis zum städtischen Gymnasium erstreckt. Im Hochbeet wachsen Radieschen – es ist ein Gemeinschaftsgarten, aber um die Hochbeete kümmert Sæm sich: „Die anderen haben einen Alltag, ich bin zu Hause.“

Drinnen: Auf der Küchenzeile steht der rosa Reiskocher, digital und mit Dämpfeinsatz für Gemüsebeilagen, den sie gekauft hat, damit sie nicht immer Reis mit Frischkäse essen muss. Für aufwendigeres Kochen fehlt die Kraft. Erst zwei Wochen wohnt sie hier, aber das sieht man nicht. Auf dem Holztisch das Missy Magazine, an der Wand kleine Bilder, in der Dusche ein Hocker, zum Ausruhen. Irgendwann, wenn sie wieder öfter rausgehen kann, will sie einen eigenen Hund haben. Bis dahin ist ihr „Sitterhund“ von gegenüber dreimal die Woche bei ihr, der schwarz-weiß gemusterte Mischling bellt, wenn jemand durchs Treppenhaus läuft, und liegt sonst mit ihr auf dem grauen Sessel, von dem aus man auf die Hochbeete schaut.

Vorher: Sæm ist in Hamburg aufgewachsen, zwischen Blankenese und Ottensen, Einfamilienhaus und Waldorfschule. „Ein bisschen bonzig“, sagt sie. Danach ein Medizinstudium in Düsseldorf und der Ruhrgebietsstadt Witten, wo sie bis heute lebt. Nach zwei Jahren Arbeit als Ärztin in einer Psychiatrie folgt eine Stelle an der Universität, nebenbei eine Elektropop-Band, Songs schreiben, ein Festival organisieren, ein Vereinsvorstandsposten, Konzerte, Jiu-Jitsu, Radfahren. „Baller­modus“, nennt sie das rück­blickend, „nicht gesund“. Im ­November 2021 bekommt Sæm das erste Mal Corona. Sie erholt sich nie wieder davon.

Rosa-blühende Hortensien vor einem Backsteinhaus

Draußen: Im Gemeinschaftsgarten verbringt Sæm viele Stunden Foto: Roland Geisheimer/attenzione

Nachher: Als ob die Schwerkraft stärker auf sie wirke, so fühle sich die Fatigue an. Und dann der „Brain Fog“: keine klaren Gedanken, wie im Fieber. Bei Sæm hat Covid-19 die neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS ausgelöst. Auch eine starke Belastungsintoleranz, Herzprobleme und Konzentrationsstörungen gehören zu ihren Symptomen. Ein Formular ausfüllen, zwei Überweisungen machen – dann Übelkeit, Kopfschmerz, „Brain Fog“: So sieht ein Crash aus. In ihrem schlimmsten Crash verlässt Sæm die Wohnung zwei Wochen nicht. Phasen der Erkrankung verbringt sie im Bett, Körperpflege und Essen sind ein Kraftakt. Weil sie nicht mehr gut laufen kann, fährt sie mit dem City-Roller – einem, wo man noch selbst Anschwung geben muss. Aber auch alle E-Roller-Apps hat sie auf dem Smartphone, sodass sie bis zum Stadtpark fahren und dort spazieren kann.

Die Blutwäsche: Ein Jahr nach ihrer Corona-Infektion werden in einer Kardiologiepraxis Auto­antikörper aus Sæms Blut gefiltert – für 17.000 Euro. Zahlen muss sie selbst, die Krankenkasse übernimmt das Verfahren nicht. Es gibt für ME/CFS und Post-Covid noch keine Therapie, die durch Studien abgesichert und zugelassen ist. Sie probiert auch ein Medikament, eigentlich als Antipsychotikum zugelassen, das im „Off-Label-Use“ in geringerer Dosis gegen Entzündungsprozesse im Gehirn wirken soll. Sie kann wieder laufen, der „Brain Fog“ wird weniger, ihre Augen besser. Sæm betont, wie privilegiert man sein muss, um Hilfe zu bekommen: medizinisches Wissen, Geld für die Behandlungen.

Die Umzüge: Zweimal zieht sie um, nachdem sie erkrankt ist. Einmal aus der Wohnung, die über ihrem Lieblingscafé liegt, in dem alle anderen weiter ein und ausgehen, nur Sæm nicht. Davor eine Baustelle, den Lärm hält sie nicht aus. Ihre „unüberlegte Idee“: eine Wohngemeinschaft zu zweit – im fünften Stock. Damals denkt sie noch, sie komme aus der Reha zurück und sei wieder gesund. Die Treppen werden zu viel, das WG-Leben auch. „Ich habe so viel Raum eingenommen mit meiner Erkrankung, ich war ja immer zu Hause.“ Dann wird die Wohnung im Hochparterre frei, ein Zimmer, Küche, Bad, mit Gemeinschaftsgarten, ohne viele Stufen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Pausen: Neben den Radieschen im Hochbeet wachsen von Schnecken angefressene Erdbeerpflanzen, von den Früchten sieht man noch nichts. Selbst Samen­ ziehen hat Sæm nicht geschafft, sondern die Setzlinge im Supermarkt gekauft. 25 Minuten etwas machen, dann eine Pause. So gelingt ihr jetzt der Alltag. Pause heißt: kein Hörbuch, keine Musik, sondern nur liegen, im Dunkeln. Etwas machen heißt: Essen zubereiten, am Laptop oder im Garten arbeiten, eine Schallplattenseite hören, lesen – endlich wieder. Als erstes „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, für ihren feministischen Lesekreis.

Der Puls: Sæm hofft, irgendwann wieder länger als 25 Minuten am Stück arbeiten zu können, vielleicht sogar von zu Hause aus als ärztliche Beratung am Telefon – für Post-Covid-Patient*innen. Sie schaut auf die Smartwatch an ihrem Handgelenk, die ihren Puls misst. Bei einer Herzfrequenz über 106 muss sie eine Pause machen – „und das ist schnell erreicht“. Aber heute ist ihr Puls ruhig, nur ein paar Mal sind die Linien auf dem kleinen Bildschirm, der ihr Stresslevel anzeigt, im roten Bereich. Die Uhr zählt auch ihre Schritte: Vor der Blutwäsche waren es vielleicht 2.000 Schritte am Tag, danach um die 7.000. Und gestern 11.000, durch den ganzen Stadtpark ist sie mit dem „Sitterhund“ gelaufen, ohne City-Roller.

Die Kommentare: In den Musikvideos ihrer Band läuft Sæm durch Wälder, tanzt auf Hügeln, mit durchgehenden Pferden. Das letzte wurde zwei Monate vor ihrer Corona-Infektion gedreht. Erst nach der Blutwäsche erträgt sie es wieder, sich selbst im Video zu sehen, und teilt auf Instagram ihre Erkrankung. Viele lernen von ihr. Andere schreiben, dass es Post-Covid nicht gebe, sie und die anderen Erkrankten nur faul seien, nicht arbeiten wollen, in die Psychiatrie gehören. „Dass wir zu Hause bleiben, ist eine Provokation für Menschen“, sagt Sæm. „Wir sind nicht produktiv.“ Das mache die Leute aggressiv, vielleicht auch neidisch. Dabei verzweifle man am Zuhause­bleiben. Und dann die Kommentare, die es gut meinen: „Geh doch mal mehr raus, trink mehr Wasser, mach doch mal Yoga und eine Psychotherapie.“ Das hört Sæm oft. „In einem Crash muss ich einfach liegen“, sagt sie und knipst das Küchenlicht aus, wegen der Reizempfindlichkeit.

Eine Glühbirne hängt von der Decke, ein Wandregal und das Bild von einem Nadelbaum hängen an einer weißen Wand

Drinnen: Die helle Wohnung im Hochparterre ist nach zwei Umzügen ihr neues Zuhause Foto: Roland Geisheimer/attenzione

Die Sichtbarkeit: Sæm kann wieder 11.000 Schritte an einem guten Tag gehen, aber ­je­de*r­ Vierte mit ME/CFS verlässt die eigenen vier Wände gar nicht mehr. Was bedeutet das für öffentliche Sichtbarkeit, Forschungsgelder, Aufklärung? „Wir finden trotzdem Wege“, erzählt Sæm: online, aber auch ­liegend vor dem Bundestag wie zuletzt am 12. Mai, sie ist per Zoom zugeschaltet. Wenige Tage später kündigen die Gesundheitsminister der G7-Länder eine Forschungsinitiative zu Long Covid an.

Die Musik: Seit drei Monaten kann Sæm wieder singen. Und dann, Ende April: das erste Mal wieder Bühne, für einen einzigen Song im Duett mit der Indie-Pop-Sängerin Lota. Nach dem Soundcheck legt sie sich einige Stunden hin, nach dem Konzert den ganzen Tag. Aber am Mikrofon erinnert sie sich an den Text, trotz der Angst. „Sæm ist zurück“, sagt später ein Freund zu ihr. Ganz zurück will sie aber nicht, kein „Ballermodus“ mehr, kein Ausbrennen. Ihre Band hat sie aufgegeben. Wie gehen Behinderung und Künstlerin sein zusammen?

Die Sache mit der Hoffnung: Irgendwann im Sommer soll ein Song von Sæm erscheinen, „ohne Deadline, ohne Baller­modus“. „In hope for resurrection“ heißt es im Refrain – in Hoffnung auf Auferstehung. Denn Grund zur Hoffnung hat Sæm. Nicht, dass sie geheilt wird, dass alles weggeht. Zu viel Hoffnung, das sei „tricky“. Stattdessen eine gute Dosis. Aber so viel, dass sie im Tierheim schon mal nach Hunden schaut, vielleicht wird es ein Dackel.

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