Reform des EU-Asylsystems: Die Grünen und ihre Grenzen
Der Umgang mit Geflüchteten in der EU und die Neuausrichtung der Migrationspolitik drohen zur Zerreißprobe zu werden. Die Grünen stecken mittendrin.
Doch viel spricht gerade dafür, dass die Partei sich daran nicht mehr gebunden fühlt. Denn das, was ihr eigenes Programm so klar ablehnt, steht am kommenden Donnerstag auf der Tagesordnung der EU-Innenminister. Und wie es derzeit aussieht, zieht die Ampelkoalition mit.
Die EU-Minister:innen wollen sich auf eine gemeinsame Linie für die seit Jahren ausstehende Reform der Asylpolitik einigen. Die Kommission drängt auf die dazu nötigen Verhandlungen mit dem Parlament. Sie will das Thema unbedingt bis zum kommenden Februar, vor der nächsten EU-Wahl, abgeräumt haben. Und angesichts der hohen Asylzahlen machen auch viele der EU-Innenminister:innen Druck.
Im Kern liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch. Der erste: Asyl-Schnellverfahren in de facto Internierungslagern, direkt an den Außengrenzen. Die Idee stammt von Deutschlands Ex-CSU-Innenminister Horst Seehofer. Die EU-Kommission griff sie auf und legte 2020 ein Konzept vor. Doch seitdem stocken die Verhandlungen dazu. Anfang Mai sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dann, die Ampel habe sich darauf geeinigt, dass „an den Grenzen schon Asylverfahren stattfinden können“.
Was ist aus der Ablehnung der Grünen geworden?
Dabei waren die Grünen, als Seehofer 2018 seine Pläne für die Reform des EU-Asylsystems präsentierte, entsetzt: Seehofer lege die „Axt an Europa und unseren Rechtsstaat an“, schrieb damals Annalena Baerbock in der FAZ. Statt der „völlig überfüllten, geschlossenen Lager, wie derzeit auf Lesbos, wo Menschen in leichten Zelten hausen und Kinder im Dreck spielen“ müssten Flüchtlinge „nach einem ersten Screening fair und schnell auch auf die anderen europäischen Länder verteilt werden, wo dann die Asylverfahren laufen.“ Die bayrische Grünen-Chefin Katharina Schulze nannte Seehofers Migrationspolitik „verantwortungslos, schädlich, und sie funktioniert auch nicht.“ Claudia Roth fand, der Vorschlag sei „rechtsstaatlich nicht hinnehmbar“.
Ein faires und gründliches Asylverfahren sei „kein Almosen, sondern rechtsstaatlicher Anspruch und Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts“. Eine individuelle Prüfung, wie sie das Flüchtlingsrecht explizit voraussetzt, sei „an den EU-Außengrenzen, wo die Mitgliedstaaten ohnehin komplett überfordert sind, nicht vorstellbar“, so Roth. Damals. Was ist aus dieser Ablehnung geworden? Der heutige Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour sagte Anfang Mai im ZDF, es gebe keine Zustimmung der Grünen „um jeden Preis“. Er nannte „verbindliche Verteilmechanismen“ als Voraussetzung. Später bekräftige Nouripour dies.
An der menschenrechtlichen Fragwürdigkeit der Schnellverfahren und daran, dass sie „Massenhaftlager“ bedeuten, würde ein Verteilmechanismus nichts ändern. Vor allem aber: Einen solchen Mechanismus wird es nicht geben. Die Kommission hat ihn nie geplant, weil klar ist, dass Länder wie Polen oder Ungarn nicht zustimmen würden. „Eine verpflichtende Umsiedlung war, ist und wird nicht Teil des Vorschlags sein“, sagt Maria Malmer Stenergard, die schwedische Migrationsministerin. Ihr Land hat derzeit die Ratspräsidentschaft inne und koordiniert die laufende Abstimmung im Rat. „Verpflichtende Solidarität ist eine andere Sache“, twitterte Stenergard. Länder, die keine Asylbewerber aufnehmen wollen, sollen mit Geld oder dem „Aufbau von Kapazitäten“ Solidarität zeigen.
Dieser „Solidaritätsmechanismus“ ist das zweite Element des Kommissionsvorschlags. Das Prinzip: Wer den überlasteten Außengrenzen-Staaten keine Flüchtlinge abnimmt, soll stattdessen zahlen müssen. Wie viel das nach den Vorstellungen der Kommission genau sein soll – das sickerte vor Kurzem erstmals durch: 22.000 Euro pro nicht aufgenommenem Flüchtling. Das Geld kann auch für Grenzschutz-Ausgaben verwendet werden – sogar mit Zahlungen für die libysche Küstenwache wäre die Verpflichtung erfüllt. Dabei gab es für die Außengrenzen-Staaten in der Vergangenheit genug Geld. Griechenland etwa bekam für die Flüchtlingsversorgung mehr als jeder andere Staat der Welt.
Mittragen, was dem eigenen Programm widerspricht
Nouripours Bedingung wird also nicht erfüllt. Was das für die Haltung der Partei zu der Frage bedeutet, wüsste man gern. Doch seit Wochen weigert Nouripour sich, auf taz-Anfragen zu antworten. Erst sagt seine Sprecherin, es werde „leider zeitlich nicht klappen“, in der Woche drauf heißt es, man habe „erstmal keine Kommunikation zu dem Thema geplant“. Am Donnerstag schreibt die Partei, man werde die Anfrage „leider nicht kommentieren“. Warum? Keine Reaktion mehr.
Der wahrscheinlichste Grund ist: Die Grünen werden bei dem Thema mittragen, was ihrem eigenen Programm widerspricht. Die wohlwollendste Deutung: Mit dem Kampf um Habecks Wärmewende sind die Kräfte der Partei offenbar aufgezehrt. Eine andere Front mutet sie sich nicht zu. In der Bundestags- und EU-Fraktion, an der Basis, bei der Grünen Jugend und bei der Heinrich-Böll-Stiftung gibt es daran viel Kritik. Die Parteispitze ficht das offensichtlich nicht an. Von Grünen-Abgeordneten heißt es, man hoffe, die Sache bleibe im Ministerrat hängen und scheitere am Widerstand anderer Staaten.
Doch das ist keineswegs sicher. Zwar sind Spanien und Griechenland wegen Wahlen oder laufender Regierungsbildung gerade etwas blockiert. Polen, Ungarn und Tschechien lehnen jede Form der verpflichtenden Flüchtlingsaufnahme strikt ab. Und die ersatzweise verpflichtende Zahlung auch. Der Ständige Vertreter Polens bei der EU, Andrzej Sadoś, nennt diese eine „Strafe“.
Die Kommission aber will unbedingt einen Erfolg vor der Wahl – und dazu braucht der Rat das Verhandlungsmandat. Eine Vertreterin der schwedischen EU-Präsidentschaft bestätigte der taz, dass noch im Juni ein Kompromiss erzielt werden soll. In Brüssel ist zu hören, dass dieser möglicherweise mit qualifizierter Mehrheit, also auch gegen die Stimmen von Polen und Ungarn, beschlossen werden könnte.
Massive Asylrechtsverschärfungen geplant
Noch aber wird im Ausschuss der ständigen Vertreter am Kompromissvorschlag gearbeitet. Deutschland hatte darauf gedrängt, Familien mit Kindern unter 18 Jahren von den Asyl-Schnellverfahren auszunehmen. Die Kommission hatte eine Altersgrenze von 12 Jahren vorgeschlagen. In der Kompromissversion, die der taz vorliegt, heißt es, dass Familien mit Kindern unter 12 nicht automatisch von den Asyl-Schnellverfahren ausgenommen werden.
Manche EU-Staaten glauben, dass Flüchtlinge sich sonst unterwegs unbegleitete Minderjährige suchen, um der Internierung zu entgehen. Auch unbegleitete Minderjährige sollen das Grenzverfahren durchlaufen, wenn sie als „Gefahr für die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung“ eingestuft werden. Der Kompromissvorschlag soll noch vor dem Minister:innentreffen in einer Probeabstimmung getestet werden.
„Der Innenministerrat ist bereit, massive Asylrechts-Verschärfungen auf EU-Ebene zu beschließen, die de facto das Recht auf Asyl abschaffen“, sagt die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst. „Damit ist der EU-Migrationspakt, der eigentlich ein solidarischer Neustart der europäischen Migrationspolitik sein sollte, ein Geschenk an Orban und Co, die seit Jahren massiv Stimmung gegen Schutzsuchende machen.“
Die Kommission schafft derweil Fakten. Schon seit Jahren wird eine Vorform der Grenzverfahren in Griechenland getestet. Auch mit Rumänien und Bulgarien wurden Vereinbarungen für Pilotprojekte für „beschleunigte Asylverfahren, effektive Abschiebungen und verstärkte Kooperation mit Nachbarstaaten“ getroffen.
Mitarbeit: Elina Pahnke, Tim Kemmerling
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