Gefangenenaustausch Russland-Ukraine: Schuldig und dennoch frei
Die Ukraine tauscht einen verurteilten Kriegsverbrecher aus, der Charkiw bombardiert hat. Eine Rekonstruktion und diplomatische Hintergründe.
D ie russische Luftwaffe fühlt sich in den ersten Märztagen letztes Jahr im Luftraum über Charkiw sicher. Jeden Tag fliegt sie Angriffe auf die Stadt und auf umliegende Orte. Die meisten Details über die Ereignisse an einem dieser Tage, dem 6. März 2022, sind durch das Gerichtsurteil gegen den russischen Kampfpiloten Maxim Krishtop bekannt. Es wurde ein Jahr später, am 2. März 2023, im Namen der Ukraine verkündet.
Die Verhandlung war nicht öffentlich, doch alle Gerichtsentscheidungen können in der Ukraine in einem öffentlich einsehbaren Register gelesen werden. Dieser Text hier ist eine Nachzeichnung der Ereignisse anhand der Registerunterlagen. Sie zeigen, wie viel menschliches Leid hinter jedem einzelnen Angriff steckt, von denen man seit weit mehr als einem Jahr täglich erfährt.
Maxim Krishtop war im März 2022 im Rang eines Oberleutnants und stellvertretender Kommandeur des 47. Luftwaffenregiments der Streitkräfte der Russischen Föderation. Sein Befehlshaber war der Kommandeur der 6. Armee, Generalmajor Oleg Makowezkij.
Dieser gab eine ganze Reihe von Befehlen zum Einsatz schwerer Waffen gegen zivile Ziele und Städte in der Region Charkiw, darunter auch auf seinen eigenen Geburtsort, die Stadt Tschuhujiw.
500 Kilogramm schwere Flugabwurfbomben
Nach Unterlagen, die dem ukrainischen Gericht vorlagen, war es auch Makowezkij, der dem Kommandeur des 47. Luftwaffenregiments, Alexei Loboda, den Befehl erteilte, den Fernsehturm von Charkiw zu zerstören. Loboda selbst befahl dann die Bombardierung Charkiws durch zwei Jagdbomber mit 16 jeweils 500 Kilogramm schweren Flugabwurfbomben.
Der Charkiwer Fernsehturm gilt als Objekt der zivilen Infrastruktur, das nicht für militärische Zwecke genutzt wird. Weder auf dem Turm selber noch in seiner Umgebung werden Waffen, Kriegsgerät oder andere militärische Ausrüstung gelagert. Auch Angehörige der ukrainischen Streitkräfte, anderer militärischer Formationen oder der Strafverfolgungsbehörden der Ukraine sind dort nicht stationiert.
Maxim Krishtop, russischer Pilot
Am 6. März 2022 gegen 14 Uhr Kyjiwer Zeit gab der Regimentskommandeur Alexei Loboda den Befehl von General Makowezkij an Oberleutnant Krishtop sowie einen weiteren Piloten und zwei Navigationsoffiziere weiter. Krishtop wusste, dass es sich bei den Objekten, die er zerstören sollte, um zivile handelte. Trotzdem verweigerte er den Befehl nicht. Gegen 17.30 Uhr Kyjiwer Zeit startete der Oberleutnant zusammen mit einem weiteren Flugzeug vom Militärflugplatz „Baltimore“ in der russischen Stadt Woronesch (siehe Karte) in Richtung Ukraine. Eine halbe Stunde später überquerte er die russisch-ukrainische Grenze; um 18.09 Uhr warf er acht FAB-500-Bomben über dem Charkiwer Fernsehturm ab und setzte ihn so außer Betrieb.
Schon um 18.10 Uhr wurde Krishtops Flugzeug von Soldaten der ukrainischen Nationalgarde abgeschossen. Der Pilot wurde aus dem Flugzeug herausgeschleudert und später, gegen 2 Uhr morgens, am Boden von ukrainischen Gardisten festgenommen. Gleich darauf ermöglichte man Krishtop seine Frau anzurufen. In einem Youtube-Video kann man dieses Gespräch anhören. „Hallo! Ich bin noch am Leben, aber in Gefangenschaft“, sagt der Pilot ruhig am Telefon. „Bestell unseren Leuten, dass sie nicht auf friedliche Städte, auf zivile Objekte schießen sollen, damit dieser Krieg beendet wird.“
Die ukrainischen Soldaten, die ihm das Telefon gegeben hatten, baten darum, dass Krishtops Angehörige auf die Straße gehen und ein Ende der Invasion in der Ukraine fordern sollten. Sie nahmen wohl an, dass auch die Bürger Russlands keinen Krieg wollten. Krishtops Frau stimmte dem sogar zu – Anti-Kriegs-Kundgebungen gab es aber keine in Russland. Gefragt, wer ihm befohlen habe, Städte zu bombardieren, antwortete Krishtop: „Der Befehlshaber, General Oleg Wladimirowitsch Makowezkij. Er hat die Koordinaten geschickt.“ In einem anderen Video beteuert der russische Pilot, dass er nicht gesehen habe, wo er die Bomben abwarf, sondern „nur nach den angegebenen Koordinaten gearbeitet habe“.
Am 11. März 2022 fand in Kyjiw eine Pressekonferenz mit drei russischen Piloten in ukrainischer Gefangenschaft statt. Sie wurde live aus dem Interfax-Ukraine-Pressezentrum auf Youtube übertragen. Einer der Piloten war damals Maxim Krishtop. Er erklärte, diese Pressekonferenz sei auf Initiative der Piloten selber zustande gekommen – um „zu versuchen, den Krieg so bald wie möglich zu beenden“. Krishtop betonte, sie seien nicht von ukrainische Regierungsvertretern genötigt oder mit Gewalt dazu gebracht worden, vor die Presse zu treten.
Im Laufe der Pressekonferenz stellte sich heraus, dass Maxim Krishtop bereits im Januar 2022 durch seinen Regimentskommandeur Alexei Loboda von der bevorstehenden Invasion in die Ukraine erfahren hatte. Bereits im Januar 2022 wurde Flugmunition zum Militärflugplatz in Woronesch gebracht und die Piloten begannen mit Übungen. Offiziell galten diese Übungen als Teil des belarussisch-russisches Manöver „Unions-Entschlossenheit – 2022“.
In Wirklichkeit aber war es die Vorbereitung auf den russischen Großangriff. Den Befehl zur Invasion erhielt das Regiment am 23. Februar 2022, abends zwischen 18 und 20 Uhr. Regimentskommandeur Alexei Loboda ordnete dann Angriffe auf ukrainisches Staatsgebiet für den Folgetag an.
Seinen ersten Angriffsflug absolvierte Maxim Krishtop gleich an Tag eins des Großangriffs, als er drei Tonnen hochexplosive Bomben südlich der ukrainischen Stadt Balaklija abwarf (der Autor dieses Textes befand sich damals ganz in der Nähe dieses Ortes, Anm. d. Red.).
Ungelenkte Bomben auf Charkiw
Krishtops zweiter Flug fand am 3. März 2022 statt, der Pilot warf drei Tonnen Bombenmaterial über dem ostukrainischen Isjum ab. Der dritte Flug war dann der am 6. März mit vier Tonnen Bomben über Charkiw, bei dem Krishtop abgeschossen wurde. Ihm zufolge wurde Charkiw mit 250 und 500 Kilogramm schweren Freifallbomben mit einem Aufprallradius von 60 Metern beschossen. Der Pilot gab an, dass es möglich gewesen sei, ein Laser-Leitsystem und gelenkte Munition in den Su-34-Jagdbombern zu verwenden. Dazu habe es aber keine Anweisung gegeben, weshalb über Charkiw eben ungelenkte Bomben abgeworfen wurden.
Auf einem Video bei Telegram kann man sich den Abschuss von Krishtops Maschine durch zwei Raketen ansehen. Die Aufnahme wurde durchs Fenster eines mehrstöckigen Wohnhauses gemacht, vermutlich im Charkiwer Stadtteil Oleksiyivka, aus einer Entfernung von etwa drei bis vier Kilometern. Deutlich erkennt man auf den Aufnahmen, dass die Flughöhe dem Piloten erlaubte zu erkennen, dass er seine Bomben über einem zivilen Objekt, nur 100 Meter entfernt von einem städtischen Wohngebiet, abwarf.
Die taz konnte mit einem Kämpfer der ukrainischen Nationalgarde sprechen, der aus einer Flugabwehrlenkwaffe die erste Rakete abschoss, die das Cockpit traf. Der 37-jähriger Stabsfeldwebel mit dem Spitznamen „Tocha“ rekonstruierte in dem Gespräch die Ereignisse dieses Abends. „Wir hatten erfahren, dass aus Richtung der russischen Stadt Belgorod Flugzeuge kommen würden. Gegen 18.30 Uhr sah unser Beobachter etwas durch seine Wärmebildkamera, das er zunächst für eine Drohne hielt. Die anderen Jungs neben mir waren aber sicher, dass es ein Flugzeug sei. Ich schoss sofort eine Rakete ab und sie traf das Cockpit des russischen Bombers. Wenige Minute später wurde noch eine zweite Rakete abgeschossen“, erinnert sich der Soldat.
Kein strategisches Militärziel
Der Pilot und der Navigator wurde aus der Maschine geschleudert. Der Navigator starb sehr wahrscheinlich an den Verletzungen. „Tocha“ glaubt Krishtop nicht, dass dieser nicht wusste, was das genaue Ziel seiner Bombenabwürfe gewesen war. „Wenn er sagt, er habe nur nach den angegebenen Koordinaten gearbeitet, dann ist das einfach gelogen. Aus dieser Flughöhe kann man Häuser, kann man die ganze Stadt erkennen. Da ist kein strategisches Militär-Objekt. Man sieht gut, dass da überall nur Wohnhäuser stehen. Wir unsererseits konnten das Flugzeug ja auch sehr klar erkennen. Es flog langsam, vielleicht mit 200 km/h und bereitete sich auf den Bombenabwurf vor. Dabei muss man langsam fliegen, um präzise zielen zu können“, erklärt „Tocha“.
Am Morgen des 7. März 2022 wurde Krishtop festgenommen und auf eine Charkiwer Polizeiwache gebracht. Dort verhörte ihn der Chef der Hauptdirektion der nationalen Polizei der Ukraine im Gebiet Charkiw, Wolodymyr Timoschko. Im taz-Interview sagt Timoschko, man habe den Piloten nach international geltenden Regeln und Konventionen behandelt.
Er habe Krishtop dann von seinem Kind erzählt, das sich wegen der anhaltenden russischen Luftangriffe in einem Schutzkeller verstecken musste. „Ich habe gesagt, das meine Tochter drei Tage lang nichts essen konnte und sich aus Angst vor den Flugzeugen immer wieder übergeben musste.“ Krishtop habe zugehört – und dann gesagt, es sei eben ein Befehl gewesen, erinnert sich Timoschko.
Er habe dann seine Frau angerufen und ihr erzählt, dass vor ihm vielleicht der Pilot sitze, der seine Tochter so verängstigt habe. „Dann habe ich ihr das Telefon gegeben und sie hat Krishtop gefragt, warum sie, die Russen, so etwas tun. Er hat nicht geantwortet. Sie hat erzählt, dass ihre Oma und ihr Opa in Russland geboren wurden und dort auch lange gelebt haben. Der Opa meiner Frau ist Ordensträger, Grenzschutzoffizier und Kriegsveteran. Das hat sie ihm erzählt und ihn gefragt, ob auch in seiner Familie Kriegsveteranen seien. Er hat das bejaht. Sie hat zu ihm gesagt, vielleicht hätten die zusammen mit ihrem Opa gekämpft, vielleicht kennen sie sich sogar. Und in dem Moment hatte er Tränen in den Augen“, erzählt Polizeichef Timoschko.
Für weiteren Gefangenenaustausch mit Russland
Das Verhör mit Krishtop dauerte dann noch etwas 30 bis 40 Minuten. „Ehrlich gesagt, erst da habe ich plötzlich begriffen, dass die polizeilichen Ermittler in all den Tagen zuvor auch die Toten der Bombenangriffe untersucht hatten.“ Und doch ist Timoschko der Meinung, dass die Ukraine weiterhin gefangene russische Piloten, Artilleristen und Raketenschützen austauschen solle.
Das Dserschinski-Bezirksgericht von Charkiw hat den Kampfpiloten Maxim Krishtop am 2. März 2023 für schuldig befunden, ein Verbrechen nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch begangen zu haben, namentlich Verstoß gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Er wird zu einer zwölfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Aber schon vier Tage später, am 6. März 2023, ergeht ein weiteres Urteil im Fall Maxim Krishtop. Das Gericht folgt dem Antrag der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, den russischen Piloten von der Verbüßung seiner Haftstrafe zu befreien – und auszutauschen. Am 10. April 2023 gibt der Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, Andrij Jermak, bekannt, dass 100 Kriegsgefangene aus Russland in die Ukraine gebracht würden. Darunter ist auch Maxim Krishtop.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine
Seit dem großangelegten Gefangenenaustausch im Herbst 2022 wird hinter den Kulissen weiterverhandelt
Von Gemma Teres Arilla
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde und wird zwischen Kyjiw und Moskau in zwei Bereichen unter Vermittlung der Vereinten Nationen (UNO) und der Türkei verhandelt: wegen des Schwarz-Meer-Getreideabkommens und zum Thema Gefangenenaustausch. Dass Kriegsgefangene ausgetauscht werden – diese Tatsache verhindert eben zum Teil die Vollstreckung jeglicher gefällter Urteile.
Im vergangenen September, kurz nach der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigten Teilmobilmachung, fand ein großer Gefangenenaustausch statt. Es handelte sich um ukrainische Kriegsgefangene, die in der südukrainischen, von russischen Streitkräften besetzten und symbolträchtigen Hafenstadt Mariupol gekämpft hatten und als Verteidiger der Fabrik Asowstal gefeiert wurden. Sie erzählten von Missbrauch und Folter.
„Schuldig gesprochen“ wegen Kriegsverbrechen
Wäre es nicht zum Gefangenenaustausch gekommen, hätte Moskau sie vor Gericht verurteilen lassen. Das geschah zum Beispiel jetzt im März, als drei ukrainische Kriegsgefangene, darunter der Menschenrechtsverteidiger Maxim Butkewitsch, von „Obersten Gerichten“ in den von Russland besetzten Regionen Luhansk und Donezk wegen Kriegsverbrechen „schuldig gesprochen“ und zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.
Trotzdem: Seit dem großangelegten Gefangenenaustausch im September 2022, der von vielen Experten als eine Art „Wendepunkt“ beschrieben wird, wird hinter den Kulissen weiterverhandelt. Zusammen mit der Türkei schalteten sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate ein. Zitiert von der Agentur ukrinform.ua, sprach der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinets jüngst von 2.105 Menschen, die seit Februar 2022 aus russischer Gefangenschaft befreit wurden. Laut der Plattform slovoidilo.ua sind seit März 2022 wohl 39-Mal erfolgreich zwischen Russland und der Ukraine Gefangene ausgetauscht worden.
100 gegen 100 Soldaten
Diese Aktionen werden nicht immer sofort öffentlich gemacht – wie die letzten gelungenen Mitte April zum orthodoxen Osterfest, als 100 gegen 100 Soldaten ausgetauscht wurden, oder im Februar, als ebenfalls 100 gegen 100 Soldaten sowie der erste stellvertretende Bürgermeister von Enerhodar getauscht wurden. In Enerhodar liegt das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja, das seit März 2022 von Russland besetzt wird.
Sowohl die Ukraine als auch die Russische Föderation sind Vertragsparteien der Dritten Genfer Konvention, in der die Anforderungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen festgeschrieben sind. Im November 2022 führte die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine (HRMMU) je 159 Interviews mit Kriegsgefangenen, die von den russischen Streitkräften festgenommen worden waren, und 175 Interviews mit Kriegsgefangenen der ukrainischen Streitkräfte.
Die Organisation äußerte sich besorgt über verschiedene Formen von Missbrauch auf beiden Seiten. Matilda Bogner, Leiterin der Mission, betonte jedoch, dass die Ukraine den Zugang zu russischen Kriegsgefangenen in den Inhaftierungslagern gewährt hatte, Russland jedoch die Zusammenarbeit mit der HRMMU blockiere. Deshalb konnten diese Interviews erst nach Freilassung der ukrainischen Gefangenen geführt werden – und nicht vor Ort in den russischen Lagern.
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