Theaterstück „Ministerium für Einsamkeit“: Die verdrängte Epidemie
In westlichen Gesellschaften wird Einsamkeit zu einem Gesundheitsproblem. Das Hamburger Schauspielhaus setzt dem eine Performance entgegen.
Einsamkeit klingt wie ein Klebeband, das man mit einem Ruck von seiner Rolle reißt. Wie eine Säge im Einsatz, wie Baustellen-Gehämmer und wie „Eleanor Rigby“ von den Beatles. Der Beat der Einsamkeit ist der Zeiger auf der Uhr, der sich nach vorne bewegt. Jeden Tag, jede Sekunde.
Der Ort dieser Einsamkeit ist die Immanuel-Kirche im Hamburger Stadtteil Veddel: Die Kirchenbänke sind rausgeräumt, eine Zwei-Zimmer-Wohnung ist aufgebaut: Schlafzimmer, Küche, spartanisch eingerichtet, gedeckte Farbtöne. Auf dem Bett liegt ein Mann in braunen Klamotten. Die Zuschauer*innen stehen auf der Empore und blicken auf ihn hinab wie das Zoo-Publikum bei Hagenbecks auf die Paviane.
Die Wohnung in der Kirche ist die erste von drei Stationen des Stücks „Ministerium für Einsamkeit“, das das Hamburger Schauspielhaus als Koproduktion zwischen Profis und Laien auf der Veddel zeigt. Das Stück gehört zum 2014 begonnenen Langzeit-Projekt „New Hamburg“. Die Idee ist, mit den finanziellen Mitteln und dem Know-How der Großinstitution Schauspielhaus Kulturangebote auf der Veddel zu initiieren, um Begegnungen zwischen den Menschen anzustoßen.
Warum auf der Veddel? Weil es sich dabei um einen der ärmsten Hamburger Stadtteile handelt. Die rund 4.500 Bewohner*innen stammen aus rund 50 Nationen. Das Sich-Öffnen und Aufeinander-Zugehen vor dem Hintergrund finanzieller Probleme ist kein Selbstläufer.
Eine soziale Krise, deren Ausmaß zunimmt
Das Konzept, durch Kultur Begegnungen zu fördern, ist klassische soziokulturelle Arbeit, die Umsetzung ist allerdings oft anders, als man es etwa von Stadtteilkulturzentren kennt: Das Schauspielhaus ist einfach ein anderer Player mit seinen vergleichsweise üppigen Geldmitteln, seinem hervorragend ausgebildeten Personal und seinem Hochkultur-Renommee.
Beim Stück „Ministerium für Einsamkeit“ hat das Team um Regisseur Peter Kastenmüller eine Recherche zum Thema Einsamkeit unternommen. Ausgangspunkt ist der britische Umgang damit: Dort wurde die konservative Politikerin Mims Davies im Jahr 2018 Junior Minister für Sport, Zivilgesellschaft und – Einsamkeit.
Mittlerweile haben sich der Ressortzuschnitt und die Leitung mehrfach geändert, aktuell ist für das Thema Einsamkeit Stuart Andrew zuständig, auch er gehört zu den Tories. Die Einsamkeit hat es nicht mehr in seine Ressortbezeichnung geschafft: Andrew ist Staatssekretär für Sport, Tourismus und Zivilgesellschaft.
Das Problem ist groß, nicht nur in Großbritannien. Der Mann, der nun in der Veddeler Kirche auf seinem Bett liegt und an die Decke starrt, ist Teil einer sozialen Krise. Deren Ausmaß nimmt so stetig zu, dass zum Beispiel Kim Samuel, Autorin und Gründerin eines eigenen „Centre for Social Connectedness“ von einer „Epidemie der Einsamkeit“ spricht. Es gibt Studien, die die gesundheitlichen Folgen der Einsamkeit untersuchen und zu heftigen Ergebnissen kommen: Einsamkeit befördert Übergewicht, Depressionen, Herzinfarkte und Alzheimer. Einsamkeit sei so gesundheitsschädlich wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag, ist auch in der Immanuelkirche zu hören.
Ein gesellschaftliches Problem, das auf die Agenda drängt – nicht zuletzt, weil es teuer kommt, es zu ignorieren. Eine Idee, das Problem zu bekämpfen, ist im Theaterstück in der Immanuelkirche die Musik. Musik und Klänge sollen messbar positive Auswirkungen auf Körper und Gefühle haben. Also probiert der einsame Mensch in seiner Wohnung verschiedene Klänge aus – unter Aufsicht einer Vertreterin des „Ministeriums für Einsamkeit“, die so farblos aussieht, wie er selbst.
Helfen Musik und Klänge wirklich? Bei den Beatles kann man sich das vorstellen, beim Klebeband-Abriss-Sound weniger. Der ist gedacht als Holzhammer-Methode, „emotionale Knoten aufzulösen“ sowie „desperate Zustände“ zu verändern: So steht es auf der Info-Tafel zu dieser ersten Station des Stücks.
Machen soziale Medien einsam? Vielleicht.
Seine zweite Station: ein leer geräumtes Schaufenster, in dem sieben jugendliche Performer*innen leibhaftig oder auf einem live bespielten Video-Screen Gedanken zum Thema Einsamkeit präsentieren. Sie fragen sich etwa, was sie einsam macht und landen dabei schnell bei Handys und sozialen Medien. Das Internet ist ein wesentlicher Ort ihres Lebenswirklichkeit, ein Großteil ihres Auftritts findet auf der Leinwand statt.
Machen soziale Medien einsam? Vielleicht. Oder: irgendwie schon. Sogar ziemlich sicher. Klar ist nur, dass eine Face-to-Face-Begegnung nicht durch soziale Medien ersetzbar ist, und es insbesondere jungen Leuten kaum möglich ist, sich den sozialen Medien zu verweigern. Sie müssen beides hinkriegen: das Virtuelle und das Echte. Das macht es nicht leichter.
Für die Erwachsenen gibt es als dritte Station der Inszenierung ein Selbsthilfe-Seminar in der Veddeler Außenstelle der Arbeiterwohlfahrt: 14 Millionen Einsame gebe es allein in Deutschland, referiert ein Dozent, „es ist schlimm, einsam zu sein, aber es ist dumm, nichts dagegen zu tun. Möchte an dieser Stelle schon jemand sich mitteilen? Nein?“ Und dann teilt sich jemand mit und spricht über Scheidung und verlorene Freunde und dann machen alle einen Test, der ihnen eine Zahl liefert, die aussagen soll, wie einsam sie sind.
Kein Grund zum Schämen
So ganz ernst gemeint ist das nicht, aber im Kern will die Inszenierung schon ein reales Problem thematisieren – und sie fordert, dass dieses Problem von einer staatlichen Stelle angegangen wird: Am Ende steht die Gründung eines Ministeriums für Einsamkeit. Als Empowerment und Sieg der Betroffenen, weil natürlich schon der gemeinsame Kampf für so ein Ministerium hilft, die Einsamkeit zu besiegen.
„NEW HAMBURG: Ministerium für Einsamkeit.“ Nächste Termine: 28. + 31. 5., 19.30 Uhr, Hamburg, Immanuelkirche, Wilhelmsburger Straße 73
Nicht beantwortet wird die Frage, was ein Ministerium für Einsamkeit konkret leisten sollte. In Großbritannien sehen die jeweils zuständigen Politiker*innen ihre Aufgabe darin, das Problem im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Andere Ministerien sollen die Einsamkeits-Auswirkungen bei ihren Entscheidungen mitbedenken, etwa wenn die Preise für den Nahverkehr zur Debatte stehen, die Schließung eines Jugendclubs oder die Planungen von Wohngebieten.
Abgesehen davon geht es darum, der Einsamkeit das Schambesetzte zu nehmen. Einsamkeit soll als etwas Normales gelten, das jeden früher oder später betrifft. Darüber zu reden, hilft schon. Theaterstücke darüber zu machen erst recht.
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