Krise der Grünen: Immer wieder im Frühling
Bei den Grünen schlägt zum dritten Mal ein Skandal im Frühling ein. Die Jahreszeit mag Zufall sein, aber die drei Fälle haben doch etwas gemeinsam.
Einige Gruppen von Menschen blicken dem Frühling, anders als die Mehrheit der Bevölkerung, jedes Jahr mit Schrecken entgegen. Pollen-Allergiker gehören zum Beispiel dazu oder Chirurgen, die in der Nähe beliebter Motorradrouten tätig sind. Ein weiterer Menschenschlag dürfte so langsam ähnliche Ängste entwickeln: die Mitglieder der grünen Partei.
Ab dem dritten Mal ist es schließlich eine Tradition: Wenn die Tage länger werden und die Blumen blühen, schlägt bei der Öko-Partei ein Skandal ein. Die Fehltritte können nicht mit den ganz großen Affären der bundesrepublikanischen Geschichte mithalten, es geht nicht um kaputte Starfighter oder schwarze Kassen. Und noch nicht mal um dubiose Geschäfte mit Pipelines in der Ostsee.
Es sind aber zumindest individuelle moralische Fehler von überdurchschnittlicher Relevanz, über die einzelne Grünen-Politiker mittlerweile in einer gewissen Regelmäßigkeit stolpern – zum Schaden der ganzen Partei.
Im Frühjahr 2021 war es Annalena Baerbock, die als Spitzenkandidatin erfolgversprechend ins Rennen um das Kanzleramt gestartet war, bevor ein geschönter Lebenslauf und Plagiate in ihrem Buch publik wurden. Bis zur Bundestagswahl im Herbst erholten sich die Grünen davon nicht mehr.
Im Frühjahr 2022 war es die damalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel, die davon eingeholt wurde, dass sie im Sommer zuvor als Landesministerin in Rheinland-Pfalz das Katastrophen-Management rund um die Ahrtal-Flut nicht ernst genommen hatte. Nachdem sie in der Causa auch noch eine Anfrage der Bild-Zeitung wahrheitswidrig beantwortet hatte, verlor sie ihr Amt.
Im Frühjahr 2023 ist es schließlich Patrick Graichen, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, der die Klappe gehalten hat, als sich sein Trauzeuge um einen Spitzenjob bewarb. Graichen hat geschwiegen, statt die Freundschaft offenzulegen und sich aus dem Besetzungsverfahren zu verabschieden. Längst ist daraus eine ausgewachsene Affäre für Vizekanzler Robert Habeck geworden – mit allem, was in solchen Fällen zum Repertoire gehört: Befragung im Bundestagsausschuss, Presse-Meute vor der Tür, Krisen-Interview in den Tagesthemen.
Dass es schon wieder im Frühling passiert, ist vermutlich Zufall. Einen entscheidenden Zusammenhang zwischen den drei Fällen gibt es dennoch: Die in den vergangenen Jahren rasant gewachsene Partei ist chronisch damit überfordert, ihr Spitzenpersonal vor eigenen Fehlern zu bewahren. Und da auch Grüne moralisch nicht so rein sind, wie es das selbst gepflegte Stereotyp vermuten lässt, geht eben stetig etwas schief.
2021 wagten sich die Grünen als Partei mit Annalena Baerbock zum ersten Mal überhaupt an einen Kanzlerinnenwahlkampf. Alles war neu – und das Team viel zu klein. Die Strukturen in der Parteizentrale waren nicht im gleichen Tempo gewachsen wie die Mitgliederzahlen und die eigenen Ziele.
Die Grünen waren nicht in der Lage, die eigene Kandidatin genau zu durchleuchten, alle Schwachstellen zu identifizieren, auf alle Angriffspunkte vorbereitet zu sein. Erschwerend kam hinzu, dass die damalige Parteichefin intern als perfekt galt. Man kam gar nicht auf die Idee, dass an ihr irgendwas nicht stimmen könnte.
Bei Anne Spiegel unterlief der Partei der Fehler ein halbes Jahr später: Aus dem kräftezehrenden Wahlkampf waren die Grünen nahtlos in kräftezehrende Koalitionsverhandlungen geschlittert. Als anschließend die Kabinettsbildung anstand, war das gleiche kleine und jetzt auch noch ausgelaugte Team zuständig. Ordentlich durchleuchtet wurde auch Spiegel nicht. Andernfalls hätte man das Risiko erkannt, sie in Rheinland-Pfalz belassen oder ihr zumindest eine ordentliche Verteidigungsstrategie in die Schublade gelegt.
Im gleichen Zug legten die Grünen das Fundament für die Affäre Graichen. Sie holten den Energie-Experten als Staatssekretär in die Regierung – einen Mann aus einer Denkfabrik, der zwar schon mal elf Jahre im Bundesumweltministerium gearbeitet hatte, aber keine Erfahrung mit politischen Ämtern mitbrachte. Das kann man machen, Expertise von außen bereichert die Politik. Hilfreich wäre es dann aber, das fehlende Gespür für politische Fallstricke anderweitig auszugleichen: durch dahingehend erfahrene Mitarbeiter, durch enge Aufsicht, durch ausführliche Briefings.
Das Resultat zeigt: All das ist zumindest nicht im ausreichenden Maß geschehen – was mit daran liegen könnte, dass für Habeck und seine Leute auf den kräftezehrenden Wahlkampf und die kräftezehrenden Koalitionsverhandlungen auch noch nahtlos eine kräftezehrende Energiekrise folgte.
Das Tröstliche für Anhänger der Grünen: Es ist eine Lernkurve zu beobachten, auch wenn sie nicht exponentiell nach oben verläuft und sich im Moment sogar wieder nach unten wenden könnte. Als vor zwei Jahren Baerbocks Plagiate publik wurden, reagierte die Partei zunächst mit einer abenteuerlichen Abwehrstrategie: Es gebe keine Plagiate, sondern nur eine perfide „Dreckskampagne“ aus „Angst vor einer grünen Kanzlerin“ und zur „Ablenkung vom Klimawandel“. Ein paar Tage später mussten die Grünen dann kleinlaut zurückrudern. Dass sie sich die eigene Fehlbarkeit nicht früher hatten eingestehen können, war am Ende das Schlimmste an der ganzen Geschichte.
Schon ein Jahr später war im Fall Anne Spiegel der Lerneffekt zu bestaunen: Nachdem die Ministerin die Bild belogen hatte, sahen die Grünen sofort ein, dass da nicht mehr viel zu machen war. Sie lamentierten nicht über eine miese Springer-Kampagne, sondern entzogen Spiegel die Unterstützung. Das war menschlich hart, aber politisch klug. Nach ein paar Tagen war die Nachfolgerin im Amt und die Affäre vergessen.
In der Affäre Graichen war das Krisenmanagement zu Beginn ebenfalls nicht so schlecht. Erst mal haben die Grünen die Füße still gehalten, den Fehler analysiert, ihn dann eingestanden und das Besetzungsverfahren neu aufgerollt. Nur gegen Graichens Rauswurf, der die Sache vermutlich abgebunden hätte, entschied sich Habeck.
Aus der Sache heraus lässt sich das sowohl verteidigen als auch kritisieren. Es sind schon Leute für weniger gegangen, aber auch schon Leute für mehr geblieben. Den Ausschlag in Richtung Nachsicht gab im konkreten Fall wohl die zentrale Rolle, die die Grünen Graichen für die Umsetzung der Energiewende zuschreiben: Glaubt man dem, was sie so erzählen, gibt es im ganzen Land keinen Zweiten, der den Job auch nur annähernd so gut erledigen könnte wie er. Noch nicht mal in seiner Familie.
Im Ergebnis aber haben sich die Grünen durch das Festhalten an Graichen in ein Dilemma manövriert. Die Kritik reißt ja nicht ab. Den Staatssekretär jetzt aber noch rausschmeißen? Das würde Habeck als Deppen dastehen lassen, der erst immensen öffentlichen Druck braucht, um einen Irrtum einzusehen.
Stattdessen haben sich große Teile der Partei inklusive Vizekanzler zum Gegenangriff entschlossen. Das Schuldeingeständnis ziehen sie zwar nicht zurück, parallel klagen sie aber über eine Kampagne, die CSU, Bild und Gaslobby gegen die Grünen betrieben. Der Geist von 2021 weht wieder.
Der Konter ist einerseits verständlich: Eine Kampagne gibt es ja wirklich. Die Berichterstattung im Fall Graichen dreht sich längst nicht mehr nur um das eigentliche Fehlverhalten. Es geht mittlerweile schon als Skandal durch, dass Klimaschutz-Experten Klimaschutz-Experten kennen und das Klima schützen wollen. Ausgerechnet CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt dichtet inzwischen Mafia-Parallelen herbei, nennt Habeck den „Paten des Graichen-Clans“.
All das unwidersprochen stehen zu lassen, würde sowohl den Grünen als auch ihrer Sache schaden. Andererseits: In den Abendnachrichten darüber zu jammern, wie gemein doch alle sind, und auf Twitter anzumerken, dass andere Parteien eine viel dickere Skandal-Akte haben – das wirkt nicht sonderlich souverän. Damit kann man die eigenen Reihen schließen. Mehr nicht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wie die Grünen es also auch anstellen: Aus der Affäre Graichen kommen sie fürs Erste nicht raus. Und anders als 2022 bei Spiegel, dafür ähnlich wie 2021 bei Baerbock, kostet sie der Skandal politisches Kapital, das sie an anderer Stelle besser gebrauchen könnten: Damals fehlten Zeit, Nerven und Vertrauen für den Wahlkampf. Jetzt fehlen sie für das Ringen um das Gebäudeenergiegesetz, das den Klimaschutz beim Heizen voranbringen soll, aber seit Monaten selbst aus der eigenen Koalition heraus heftig beschossen wird.
Immerhin: Hält sich die Ampel an ihren Zeitplan, wird dieser Streit bis zum Sommer ausgefochten sein. Bis dahin könnte sich auch die Aufregung um den Fall Graichen gelegt haben, vielleicht ist die Sache dann ausgesessen. Womöglich können die Grünen danach zur Abwechslung sogar mal wieder ein paar ruhige Monate genießen. Eines ist aber sicher: Das Frühjahr 2024 kommt trotzdem.
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