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Fastenmonat in der TürkeiWahlkampf schlägt Ramadan

Der Fastenmonat Ramadan wird dieses Jahr anders begangen als sonst. Offizielle Begründung: das Erdbeben. Vermutlich liegt es eher am Wahlkampf.

Mit gespendeten Lebensmitteln zum Fastenbrechen Foto: Erdem Sahin/epa

K ommst du morgen vorbei?“, fragte mich Barış am Abend vor Bayram, dem Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan. Barış gehört das Café, in dem ich gewöhnlich morgens meine Zeitung lese. „Morgen habt ihr doch zu, oder?“ „Nein, nein“, lachte Barış, „wir machen auf.“

Normalerweise ist am ersten Bayramtag in Istanbul immer alles dicht. Die Leute bereiten sich nach vier Fastenwochen auf ihr erstes opulentes Mahl nach der langen Entbehrung vor und haben vorher ordentlich eingekauft. Doch in diesem Jahr scheint nicht nur unser Café von der Regel abzuweichen. Auch Ahmet, der den wichtigsten Zeitungskiosk im Stadtteil Mahalle betreibt, will nicht schließen. „Was soll ich zu Hause?“, fragt er, „ist doch schöner, hier ein paar Leute zu treffen.“

Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es einen regelrechten Hype um das Fasten. Selbst Leute, die eigentlich nicht religiös waren, wollten es mal ausprobieren, und sei es nur „zur Entschlackung des Körpers“, wie eine Nachbarin sagte. Ganz anders in diesem Jahr. Bayram stand ganz im Schatten der bevorstehenden Wahlen. Auch Ramadan schien nicht so wichtig wie früher. Die Cafés und Restaurants waren überall geöffnet und meistens sogar gut besucht. Selbst einige Frauen mit Kopftuch saßen schon mittags vor einem Teller mit dampfender Pasta in den Restaurants der Einkaufszentren. „Das ist die Götterdämmerung der Erdoğan-Ära“, witzelte ein Bekannter.

Auffällig auch, dass die meisten Istanbuler Bezirke in diesem Jahr auf die großen Ramadanzelte verzichtet hatten, an denen sonst Tausende Mahlzeiten zum täglichen Fastenbrechen am Abend verteilt worden waren. Es wurde zwar Essen verteilt, aber in wesentlich bescheidenerem Rahmen als sonst. Die Begründung der Regierung und auch vieler Stadtverwaltungen war, dass alle Ramadanspenden in diesem Jahr ins Erdbebengebiet gehen sollten, wo die Not am größten sei.

Das Erdbeben ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass Ramadan und Bayram in diesem Jahr weniger Aufmerksamkeit erfahren. Die Katastrophe, die Anfang Februar über den Südosten der Türkei hereingebrochen war, bindet alle Energie im Land. Bis heute gibt es große Solidaritätsaktionen für die Überlebenden des Bebens, da blieben die sonstigen Ramadan- und Bayramrituale schon mal auf der Strecke.

Preise auf Rekordniveau

Für die Armen und Bedürftigen in Istanbul und anderen Städten im Westen der Türkei sind das schlechte Nachrichten. Schließlich sind die Preise gerade für Lebensmittel auch während des Ramadans noch einmal kräftig gestiegen, ein Ende ist nicht absehbar. Die Preise für Zwiebeln, das wichtigste Gemüse gerade in der Küche der weniger Begüterten, sind auf einem Rekordniveau.

Schon einmal haben die Zwiebelpreise Erdoğan in Bedrängnis gebracht: vor den Kommunalwahlen von 2019. Deshalb versucht der Präsident nun bei seinen Wahlkampfveranstaltungen, sie im Verhältnis zu den großen politischen Fragen als belanglos darzustellen. Dass die Preise aber dennoch, nicht nur für die Bayramfeierlichkeiten, eine große Rolle spielen, ist Erdoğan natürlich bewusst.

Er hat deshalb ein besonderes Bayramgeschenk angekündigt. Im kommenden Wahlmonat Mai ist das Erdgas für alle Haushalte im Land kostenlos. Auch danach soll Gas zum Heizen und Kochen bis zu einer gewissen Menge im Monat gratis sein. „Offenbar rechnet er selbst nicht mehr mit seiner Wiederwahl“, meint Cafébesitzer Barış dazu, „sonst würde er sich fragen, wie der Staat, der sowieso völlig pleite ist, das bezahlen soll.“

Statt der reinen Freude zum „Zuckerfest“, wie die Feiertage zum Ende des Fastenmonats heißen, weil die Kinder dann mit Süßigkeiten überhäuft werden, herrscht in diesem Jahr eine gespannte Erwartung auf das, was die kommenden Wochen bringen werden. Tatsächlich sind die Cafés an den Feiertagen gut gefüllt. Aber niemand redet über Bayram. Einziges Thema sind die bevorstehenden Wahlen.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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1 Kommentar

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  • Das Gas bezahlen? Solange Schweden nicht in die NATO kommt, kriegt er das Zeug sicher umsonst aus Russland geliefert.