Neues Lieferkettengesetz: Lücken im Gesetz

Ausgerechnet Deutschland will zertifizierte Unternehmen nicht für Fahrlässigkeit haften lassen. Doch auch die Zertifikate selbst sind problematisch.

Eine Textilfabrik in Bangladesch mit ArbeiterInnen an der Nähmaschine

Durchschnittlich 95 US-Dollar verdienen NäherInnen in Bangladesch Foto: Habibur Rahman/dpa

Anfang des Jahres ist das Lieferkettengesetz in Deutschland in Kraft getreten – ein wichtiger Schritt, um Menschenrechte in globalen Lieferketten zu schützen. Aber das Gesetz hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Ihm fehlt eine Regelung, nach der Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haften, die sie durch Missachtung ihrer Sorgfaltspflichten verursacht haben.

Das in der Europäischen Union geplante Lieferkettengesetz, das 2023 in die entscheidende Phase der Verhandlungen kommt, soll laut Entwurf der EU-Kommission weitergehen und Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haftbar machen. Doch ausgerechnet Deutschland setzt sich für eine massive Verwässerung ein. Die Bundesregierung plädiert nämlich dafür, dass Unternehmen, die zertifiziert sind, von der Haftung für Fahrlässigkeit ausgenommen werden.

Sozialaudits, Prüfungen der Richtlinien und Norm­anforderungen, und Zertifizierungssyste­me haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen; jedoch zeigt sich immer wieder, dass Audits für Zertifizierungen nicht selten gravierende Probleme übersehen oder missachten. So können sich Unternehmen mit Zertifizierungen und Siegeln schmücken, obwohl sie sich fahrlässig oder unverantwortlich verhalten.

Ein Fall aus Brasilien illustriert dies: Am 25. Januar 2019 brach der Staudamm einer Eisenerzmine in Brumadinho, mehrere Millionen Kubikmeter giftiger Minenschlamm töteten mindestens 270 Menschen. Nur vier Monate zuvor hatte das brasilianische Tochterunternehmen des deutschen Zertifizierers TÜV SÜD den Damm für stabil erklärt. Das Bergbauunternehmen hatte die Prüfer unter Druck gesetzt, die Sicherheit des Staudamms trotz offensichtlicher Risiken zu bescheinigen. Das ergab eine Untersuchung durch den brasilianischen Kongress.

Schlupfloch „Safe Harbour“

Ende 2022 hat sich der Ministerrat der Europäischen Union auf eine gemeinsame Position für das EU-Lieferkettengesetz geeinigt. Deutschland hatte sich im Vorfeld für eine „Safe Harbour“-(Sicherer Hafen)-Klausel eingesetzt. Diese würde die zivilrechtliche Haftung für Unternehmen abschwächen, die sich an freiwilligen Branchen- oder Industrieinitiativen beteiligen. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe bei den anderen EU-Staaten und wurde schließlich abgelehnt.

Damit ist das Thema indes nicht vom Tisch: In einer vertraulichen Protokollnotiz hat die Bundesregierung angemerkt, dass sie weiter an ihrer Forderung festhält und beabsichtigt, dem Gesetz in den entscheidenden Verhandlungen am Ende des EU-Gesetzgebungsprozesses nicht zuzustimmen, wenn es keine „Safe Harbor“-Regelung beinhaltet. Damit stellt die Bundesregierung die Interessen von Unternehmen über die der Opfer von Rechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten – und bricht Wort mit dem Bekenntnis des Koalitionsvertrags zu einem wirksamen Lieferkettengesetz.

Die zivilrechtliche Haftung ist ein wichtiges Mittel, mit dem Betroffene vor nationalen Gerichten in Europa ihr Recht einklagen können und mit dem Katastrophen, wie sie in Brasilien geschehen ist, verhindert werden können. Aber sie muss auch für Unternehmen gelten, die auditiert und zertifiziert sind. Audits haben oft massive Mängel: Sie werden innerhalb weniger Tage vorgenommen, sind oft oberflächlich und geben keine Gelegenheit zu vertieften Untersuchungen oder vertraulichem Kontakt mit Betroffenen.

Wenn Firmen die Audits selbst bezahlen, besteht die Gefahr, dass „wohlgesonnene“ Prüfer den Auftrag bekommen. In einigen Fällen haben Firmen darauf gedrängt, dass Auditberichte geschönt und Informationen über unternehmerisches Fehlverhalten weggelassen wurden. Hunderte von Menschen sind bei vermeidbaren Katastrophen an Arbeitsplätzen ums Leben gekommen, an denen zuvor Sozialaudits und Zertifizierungen vorgenommen wurden.

Der Dammbruch in Brumadinho in Brasilien ist nur ein Beispiel. Ein Fabrikbrand bei Ali Enterprises in Pakistan im Jahr 2012 und der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes in Bangladesch im Jahr 2013 sind weitere Beispiele für verheerende Tragödien an Standorten, die geprüft oder zertifiziert wurden. Kinderarbeit und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen werden ebenfalls von Audits sehr häufig nicht aufgedeckt – unter anderem weil Audits oft nur ein paar Tage lang sind.

160 Millionen Kinder arbeiten

Weltweit arbeiten 160 Millionen Kinder, darunter 79 Millionen unter extrem gefährlichen Bedingungen, den sogenannten schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Zum Beispiel haben sich internationale Tabakfirmen in Simbabwe, wo Human Rights Watch 2018 Kinderarbeit und andere Missstände im Tabakanbau dokumentiert hat, auf sehr kurze und oberflächliche menschenrechtliche Prüfungen vor Ort verlassen.

Im Goldsektor sind Goldschmelzen in der Vergangenheit für ihre menschenrechtliche Sorgfalt zertifiziert worden, obwohl sie das Metall aus Minen bezogen haben und in Ghana ohne nennenswerte Prüfung des Risikos besonders bei der dort weit verbreiteten Kinderarbeit. Kinder arbeiten in Ghanas Goldminen oft mit giftigem Quecksilber und tragen ex­trem schwere Lasten, die nicht selten zu gravierenden Gesundheitsschäden führen.

Es braucht ein robustes europäisches Lieferkettengesetz, das Unternehmen dazu verpflichtet, Menschenrechte entlang ihrer gesamten Lieferkette zu respektieren. Ein Gesetz, das die Unternehmen zur Rechenschaft zieht, wenn sie dieser Verantwortung nicht nachkommen. Ohne wirksame Haftungsregelung wird das nicht funktionieren.

Deutschland sollte sich seiner besonderen menschenrechtlichen Verantwortung als größte Volkswirtschaft in der EU stellen und in Brüssel für ein Gesetz eintreten, mit dem Opfer von Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten ihre Rechte geltend machen können.

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ist Lieferkettenexpertin und stellvertretende Direktorin für Kinderrechte bei Human Rights Watch.

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