Streiks in Großbritannien: Im Kittel auf die Straße
In Großbritannien streiken 100.000 Pflegekräfte für höhere Gehälter. Konservative haben das Gesundheitssystem lange vernachlässigt.
Die Pflegekräfte fordern eine Gehaltserhöhung von 19 Prozent, nicht nur wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten, sondern auch, um damit nicht vorgenommene Gehaltserhöhungen des letzten Jahrzehnts auszugleichen, so Pat Cullen, die Vorsitzende des Royal College of Nursing (RCN), der Gewerkschaft der britischen Krankenpfleger:innen.
Schottische Krankenpfleger:innen fehlen beim Streik, weil sie eine Gehaltserhöhung von 7,5 Prozent akzeptiert hatten. Diejenigen, die in dem Sektor am schlechtesten verdienten, erhalten 11,24 Prozent mehr. Auch eine Reduzierung der Arbeitszeit von 37,5 Stunden auf 36 Stunden wurde vereinbart.
Die britische Gesundheitsministerin Maria Caufield sagte, es gäbe keinen realistischen Weg, den Forderungen der Krankenpfleger:innen nachzukommen. Die britische Regierung hatte nur eine Erhöhung von 3 Prozent genehmigt. Diese wurde vom NHSPRB empfohlen, ein Gremium, das über die Gehälter der NHS-Mitarbeiter berät. Caufield wies darauf hin, dass andere Angestellte des öffentlichen Dienstes gar keine Gehaltserhöhung bekämen.
Doch bei einer Inflationsrate von 10,7 Prozent würden Krankenpfleger:innen selbst mit einer Gehaltserhöhung von 3 Prozent weniger als noch vor einem Jahr verdienen. Ein ehemaliger Vorsitzender des NHSPRB gab inzwischen an, dass die Empfehlungen von Juli 2022 nicht mehr korrekt seien und eine Neuberechnung gerechtfertigt sei.
Rekord-Wartezeiten in der Notaufnahme
Das britische Gesundheitssystem wurde über die Jahre der konservativen Austeritätspolitik stark vernachlässigt, dazu gehören auch Gehälter. Erst Ex-Premier Boris Johnson änderte das. Während es Pflegekräften am Verdienst mangelt, verbucht das NHS nicht zuletzt wegen der Pandemie einen Rückstau von 7 Millionen ausstehenden ärztlichen Behandlungen und lange Wartezeiten bei Notdiensten und in der Notaufnahme.
Um den Streik durchzuführen, wurden spezielle Vereinbarungen getroffen, damit trotz laut Regierungsangaben 70.000 nicht stattfindender Termine wenigstens die Krebsbehandlung, die Intensivpflege und Notfallbehandlung durchgeführt werden konnten.
Krankenpfleger:innen sind aber nicht die Einzigen, die derzeit streiken. Unter ihnen befinden sich Postangestellte der Royal Mail, Angestellte in den Not- und Rettungsdiensten, der Bahnunternehmen und des Grenzschutzes sowie Rechtsanwälte. Zuletzt schlossen sich auch Angestellte von Arbeitsämtern und Fahrschullehrer:innen an. Die Streiks führen schon jetzt zu Verkehrschaos und fehlenden Lieferungen mitten in der Weihnachtszeit. Die Situation wird im Dezember anhalten.
Nun wird allerdings die bisher geschlossene Front innerhalb der konservativen Fraktion porös. Bis zum frühen Nachmittag hatten sich zwei Abgeordnete für mehr Geld für Krankenpfleger:innen ausgesprochen, darunter auch der ehemalige Parteivorsitzende Jake Berry.
Streiks dieser Dimensionen erinnern an den „Winter of Discontent“ 1979, als James Callaghan von der Labourpartei Verdienstgrenzen setzte, was zum Sturz seiner Regierung führte, und an die berühmten Streiks der Kohlegrubenarbeiter unter Ex-Premier Margaret Thatcher in den Jahren 1984 und 1985.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!