Verdacht auf kriminelle Vereinigung: Selbstanklage für den Klimaschutz
Laut Staatsanwaltschaft Neuruppin sind dort 426 Selbstanzeigen eingegangen. Der Grund? Unterstützung der Letzten Generation.
Am Mittwoch bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft den Eingang von 426 Selbstanzeigen, die über die Webseite der Letzten Generation eingereicht werden können. 950 Menschen haben zudem eine Petition mit dem Titel „Werde Teil der kriminellen Vereinigung Letzte Generation“ unterschrieben. Die Gruppe spricht von 1.332 Selbstanzeigen. Der Inhalt der Selbstbezichtigungen würde geprüft, so die Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus wolle man keine Angaben machen.
Ziel sei es, die Ermittlungen „ad absurdum“ zu führen, heißt es in der Petition. Und weiter: „Sie können nicht gegen alle ermitteln!“ In der linken Szene ist der Paragraf 129 berüchtigt, unter anderem, weil er so weit gefasst ist. So heißt es darin: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.“ Schon die einfache Unterstützung der Gruppe kann deshalb theoretisch Ermittlungen rechtfertigen.
Davor warnt auch die Letzte Generation. Zwar sei eine Anzeige oder gar eine Verurteilung „sehr unwahrscheinlich“, da der Vorwurf „in der Regel hauptsächlich zur Einschüchterung“ erhoben werde. Zumindest „denkbar“ sei allerdings, dass die Selbstanzeige etwa eine Hausdurchsuchung oder Überwachungsmaßnahmen zur Folge hat. Schon ein Anfangsverdacht nach Paragraf 129 erlaubt Ermittler:innen, etwa das Abhören von Telefonen oder die Beschattung von Aktivist:innen richterlich zu beantragen.
Konservatives Ablenkungsmanöver
Auch Anwalt Lukas Theune, der einen beschuldigten Aktivisten vertritt, bezweifelt, dass die Selbstanzeigen juristische Folgen haben – damit zu rechnen sei aber, dass die Polizei die bereitgestellten Daten sammelt. Auch bezweifelt Theune, dass es überhaupt zu einer Anklage in dem Fall kommt.
„Offensichtlich liegen die Voraussetzungen für den Paragrafen 129 nicht vor“, sagte er der taz. Das ganze Verfahren sei ein „konservatives Ablenkungsmanöver“: „Statt über Klimaschutz zu reden, können konservative Politiker:innen sich nun über die angebliche kriminelle Vereinigung Letzte Generation echauffieren“, so Theune.
Diese Einschätzung teilt auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), dessen Geschäftsführer Theune ist. In einer gemeinsamen Stellungnahme mit weiteren Vereinen progressiver Jurist:innen ist von einer „unwürdigen“ Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots die Rede. „In ihrer Gesamtheit erwecken diese Maßnahmen den Eindruck einer Instrumentalisierung des Ordnungs- und Strafrechts für die Delegitimierung und Einschüchterung von unliebsamem Protest“, heißt es in der Mitteilung.
276 Straßenblockaden
Laut RAV trifft es „schon im Ansatz nicht zu“, dass es sich bei friedlichen Sitzblockaden oder auch dem Zudrehen von Pipelines um „schwere Straftaten“ handelt, von denen „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht“ – das aber erfordert der Paragraf. Bewertet werden müsse auch der Kontext der Taten.
Dieser aber könne wegen der Dringlichkeit der Klimakrise „nicht deutlicher gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung sprechen“. Überhaupt sei fraglich, ob Sitzblockaden strafbar seien. Ein Berliner Amtsrichter hatte kürzlich einen Strafbefehl gegen einen Aktivisten der Letzten Generation abgeschmettert. Medienberichten zufolge soll diese Entscheidung allerdings inzwischen aufgehoben worden sein.
In jedem Fall wächst durch die Selbstanzeigen der Berg an juristischen Verfahren, mit dem sich die Behörden im Zusammenhang mit der Letzten Generation herumschlagen müssen. Laut Berliner Polizei sind 2022 2.200 Strafanzeigen und 600 Bußgeldbescheide ausgestellt worden. Insgesamt habe es 276 Straßenblockaden gegeben.
Update: Der Artikel wurde am Mittwoch, den 28. Dezember 2022, um die aktuellen Angaben der Staatsanwaltschaft Neuruppin ergänzt.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen