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Verdacht auf kriminelle VereinigungSelbstanklage für den Klimaschutz

Laut Staatsanwaltschaft Neuruppin sind dort 426 Selbstanzeigen eingegangen. Der Grund? Unterstützung der Letzten Generation.

Sie sehen: Mit­glie­der:in­nen einer angeblich kriminellen Organisation Foto: Paul Zinken/dpa

Berlin taz | Infolge der Ermittlungen gegen die Gruppe Letzte Generation wegen des Verdachts auf Gründung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 Strafgesetzbuch haben etliche Menschen Selbstanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Neuruppin eingereicht. Diese wirft den Ak­ti­vis­t:in­nen vor, Pipelines der PCK-Raffinerie in Schwedt zugedreht zu haben.

Am Mittwoch bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft den Eingang von 426 Selbstanzeigen, die über die Webseite der Letzten Generation eingereicht werden können. 950 Menschen haben zudem eine Petition mit dem Titel „Werde Teil der kriminellen Vereinigung Letzte Generation“ unterschrieben. Die Gruppe spricht von 1.332 Selbstanzeigen. Der Inhalt der Selbstbezichtigungen würde geprüft, so die Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus wolle man keine Angaben machen.

Ziel sei es, die Ermittlungen „ad absurdum“ zu führen, heißt es in der Petition. Und weiter: „Sie können nicht gegen alle ermitteln!“ In der linken Szene ist der Paragraf 129 berüchtigt, unter anderem, weil er so weit gefasst ist. So heißt es darin: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.“ Schon die einfache Unterstützung der Gruppe kann deshalb theoretisch Ermittlungen rechtfertigen.

Davor warnt auch die Letzte Generation. Zwar sei eine Anzeige oder gar eine Verurteilung „sehr unwahrscheinlich“, da der Vorwurf „in der Regel hauptsächlich zur Einschüchterung“ erhoben werde. Zumindest „denkbar“ sei allerdings, dass die Selbstanzeige etwa eine Hausdurchsuchung oder Überwachungsmaßnahmen zur Folge hat. Schon ein Anfangsverdacht nach Paragraf 129 erlaubt Ermittler:innen, etwa das Abhören von Telefonen oder die Beschattung von Ak­ti­vis­t:in­nen richterlich zu beantragen.

Konservatives Ablenkungsmanöver

Auch Anwalt Lukas Theune, der einen beschuldigten Ak­ti­vis­ten vertritt, bezweifelt, dass die Selbstanzeigen juristische Folgen haben – damit zu rechnen sei aber, dass die Polizei die bereitgestellten Daten sammelt. Auch bezweifelt Theune, dass es überhaupt zu einer Anklage in dem Fall kommt.

„Offensichtlich liegen die Voraussetzungen für den Paragrafen 129 nicht vor“, sagte er der taz. Das ganze Verfahren sei ein „konservatives Ablenkungsmanöver“: „Statt über Klimaschutz zu reden, können konservative Po­li­ti­ke­r:in­nen sich nun über die angebliche kriminelle Vereinigung Letzte Generation echauffieren“, so Theune.

Diese Einschätzung teilt auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), dessen Geschäftsführer Theune ist. In einer gemeinsamen Stellungnahme mit weiteren Vereinen progressiver Ju­ris­t:in­nen ist von einer „unwürdigen“ Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots die Rede. „In ihrer Gesamtheit erwecken diese Maßnahmen den Eindruck einer Instrumentalisierung des Ordnungs- und Strafrechts für die Delegitimierung und Einschüchterung von unliebsamem Protest“, heißt es in der Mitteilung.

276 Straßenblockaden

Laut RAV trifft es „schon im Ansatz nicht zu“, dass es sich bei friedlichen Sitzblockaden oder auch dem Zudrehen von Pipelines um „schwere Straftaten“ handelt, von denen „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht“ – das aber erfordert der Paragraf. Bewertet werden müsse auch der Kontext der Taten.

Dieser aber könne wegen der Dringlichkeit der Klimakrise „nicht deutlicher gegen die Annahme einer kriminellen Vereinigung sprechen“. Überhaupt sei fraglich, ob Sitzblockaden strafbar seien. Ein Berliner Amtsrichter hatte kürzlich einen Strafbefehl gegen einen Aktivisten der Letzten Generation abgeschmettert. Medienberichten zufolge soll diese Entscheidung allerdings inzwischen aufgehoben worden sein.

In jedem Fall wächst durch die Selbstanzeigen der Berg an juristischen Verfahren, mit dem sich die Behörden im Zusammenhang mit der Letzten Generation herumschlagen müssen. Laut Berliner Polizei sind 2022 2.200 Strafanzeigen und 600 Bußgeldbescheide ausgestellt worden. Insgesamt habe es 276 Straßenblockaden gegeben.

Update: Der Artikel wurde am Mittwoch, den 28. Dezember 2022, um die aktuellen Angaben der Staatsanwaltschaft Neuruppin ergänzt.

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13 Kommentare

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  • Wie die Klimaaktivisten auch vorgehen, sie können es den meisten in keinem Fall recht machen. Man sieht es an einem aktuellen Artikel eines Nachrichtenmagazins, das für Werbung mit dem Slogan "Fakten, Fakten, Fakten" bekannt ist. Die Fakten: Eine Psychologin war undercover bei einem Seminar der LG dabei und musste entsetzt feststellen, dass da ja Methoden wie bei einer Sekte angewandt werden. Es geht dabei um Visualisierungstechniken zur Vorbereitung auf Blockaden, wie man sie in anderem Zusammenhang bei Seminaren zum (Selbst)management, die der Leserschaft des betreffenden Magazins hinlänglich bekannt sein dürften. Dann werden da außerdem noch - man höre und staune - keine Feindbilder aufgebaut. So eine Unverschämtheit aber auch! Da läuft der Reflex der Empörung ins Leere - und Menschen so auflaufen zu lassen, das grenzt ja schon fast wieder an Gewalt.



    Bedauerlich, aber wahr: Man kann es nicht allen recht machen, einem bestimmten Typus von Gegner schon gar nicht. Kierkegaard kannte sich mit solchen Ambivalenzen und Paradoxien aus und schrieb: "Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. [...] Dieses, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit." Und er kam zumindest für sich selbst letzten Endes zu einer Lösung: "Frage dich und frage dich wieder und wieder, bis du die rechte Antwort gefunden hast; [...] denn nur die Wahrheit die dich erbaut, ist Wahrheit für dich."

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Ein Bundespräsident, der in dieser Lage so etwas in der Weihnachtsansprache an die lieben (!) Mitbürger*innen sagt, sollte bitte ein Lösungsmittel bestellen, damit er seine Haftung ans Amt lösen kann (für die politische Haftung für seine Rede benötigt er das nicht), zur Seite treten, um den Weg frei zu machen für eine wesentlich ernsthaftere, verfassungsgemäße Klimaschutzpolitik, und dabei all jene mitnehmen, die dem im Wege stehen, weil sie an - ja an was denn ? - festkleben.

  • So etwas kann schon funktionieren.

    Es war im Jahr 1976. Bommi Baumanns Buch "Wie alles anfing", das seinen Weg in den bewaffneten Kampf und aus ihm wieder heraus beschreibt, erscheint und wird prompt verboten.

    Das war natürlich dämlich, setzt sich Baumann darin doch kritisch mit dem bewaffneten Kampf auseinander.

    Weiter im Text, über 300 mehr oder weniger prominente Linke schließen sich zusammen und fungieren als Herausgeber.

    Die Neuauflage erscheint und kann ganz normal verkauft werden. Und mit Sicherheit wurden mehr Exemplare verkauft.

    Ähnlich wurde mit dem Text des "Mescalero" aus Göttingen verfahren, der seine klammheimliche Freude über den Tod Bubacks nicht verhehlen konnte, sich in seinem Text aber auch sehr kritisch mit der RAF auseinandersetzte.

    Auch der wurde kriminalisiert und in der Folge von einer Reihe Professoren und auch von linken Buchläden weiter publiziert.

    Das ging allerdings nicht für alle gut aus, aber alle redeten über den Text.

    de.wikipedia.org/w...6ttinger_Mescalero

    Solidarität:

    www.youtube.com/watch?v=U3STyHtWSQY

  • Alles Kriminelle? - so wie Julian Assange, der immer noch im Knast sitzt.



    Jeden Tag sollten Demonstranten vor der britischen und der amerikanischen Botschaft seine sofortige Freilassung fordern.



    Auch Edward Snowden sollte Russland als freier Mann verlassen können, ohne hier von den Amerikanern entführt zu werden.

  • Ich weiß nicht, ob man sich wegen eines Verbrechens anzeigen sollte, dass man definitiv nicht gegangen hat. Denn der Vorwurf "kriminelle Vereinigung" ist komplett absurd. Ich hoffe, das geht nicht nach hinten los.

    Interessante, bzw. gefährlicher, finde ich die Ähnlichkeit des Vorgehens mit den Umweltgruppen in der DDR der 80er Jahre. Dort wurden sie auch kriminalisiert weil sie unbequeme Wahrheiten ausgesprochen hatten. Dass sich CDU/CSU dieses stasi-Vorgehen jetzt zum Vorbild nehmen ...

  • Diese Vorgänge beleuchten deutlich die absolute Farce im Zusammenhang mit den Protesten. Da besteht die akuke Gefahr eines Klimawandels der folgenschwerer für den Globus gar nicht sein kann und die Kids werden kriminalisiert, junge Menschen, die sich um ihre Zukunft sehr berechtigte Sorgen machen. All die wirklich kriminellen Akteure, die sehr bewusst immer weitermachen und das Klima, die Artenvielfalt, die Umwelt zerstören nur um des schnellen Profits wegen. Politiker, die eigentlich Verantwortung zeigen sollten, denken aus rein populistischen Motiven nur an ihre eigenen Wahlchancen und machen sich selbst zu Marionetten. Man sollte den jungen Leuten jede Unterstützung geben anstatt Empörung zu heucheln.

  • Woher kommt eigentlich die Überzeugung Konservative hätten kein Interesse am Klimaschutz? M.E. ist das Ziel der CO2-Neutralität nun wirklich kein linkes Alleinstellungsmerkmal mehr.

    • @Nachtsonne:

      Zum Beispiel dass immernoch keine Kohlekraftwerke abgeschaltet werden? RWE nicht enteignet wird? Der Individualverkehr nicht verboten wird?

  • Ich halte es grundsätzlich für dumm den Jugendlichen erst in der Schule klar zu machen, dass die globale Erwärmung massive Auswirkungen haben wird. Dann nicht genug tun. Und wenn sie sich dann empören, sie zu bestrafen. Die Politik sollte mit jedem dieser Menschen den Dialog suchen und ENDLICH anfangen, den Schutz der Menschheit vor globaler Erwärmung so ernst zu nehmen wie es nötig ist.



    Strafe ist hier nicht der richtige Weg.

  • 6G
    666757 (Profil gelöscht)

    Mit zivilem Ungehorsam für Klimaschutz etc. einzutreten, weil viele nicht kapieren, dass es weltweit und wissenschaftlich bewiesen bereits „viertelnachzwölf“ ist, hat strafrechtliche Konsequenzen?

    Wie gut, dass einige in diesem Land ihre Diäten weiter kassieren.



    Von Korruption z.B. kann ja in Deutschland keine Rede sein.



    Von Steuergeldverschwendung auch nicht.



    Na dann ist ja alles bestens.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Eine wichtige Aktion, um die Gefahr der Kriminalisierung von Protesten, die mit zunehmenden politischen Problemen infolge der Klimakatastrophe steigen wird, proaktiv anzugehen. Der erwartbaren repressiven staatlichen Reaktion zuvorkommen, indem sie provoziert wird, und damit die Diskussion um die politischen Gefahren anzukurbeln, die von der durch den Staat mitorganisierten Lähmung eines verfassungsmäßig gebotenen ausreichenden Klimaschutzes ausgehen.

  • Na, wenn das mal kein Schuss ins Knie wird. Die latent rechte Exekutive sucht sehnsüchtig nach einer Ausrede, sich nicht soo intensiv mit den Reichis und anderen Flachköppen zu beschäftigen. Da kommen ein paar Linke gerade recht. Die knöpfen sich die ersten 500 mal vor und wenn die Kinder beim Verhör heulend zusammenbrechen, weil sie nicht erwartet haben, dass es so weit kommt, freut sich der braune Mob.



    Jetzt muss nur noch irgendein Klebe-Heini eine Bombe bauen oder ein Messer zücken und *zack* gibt es auch einen Beweis für die Gefährlichkeit und die kriminelle Vereinigung. Und dann flutscht das auch mit den Anzeigen und Verurteilungen.

    • 6G
      666757 (Profil gelöscht)
      @Hefra1957:

      Die LG wird nicht so dumm sein sich mit Waffen oder gar Bomben zu bestücken, um sich ihr eigenes Grab zu schaufeln! Leute, die die Welt erhalten wollen fuchteln nicht mit Messern herum, das war in der Anti-AKW- Bewegung damals genauso!

      Wer weiß denn, in welchen Gremien noch Interessenvertreter sitzen, die den Braunen den Kopf retten wollen?



      Wenn ich mir z.B. die verquere Politik in Ostdeutschland anschaue, wäre für viele dort die Mauer besser nicht gefallen!



      Deutsche Politik und Bürokratie übt sich ohnehin längst fleißig an Ablenkungsmanövern…, dagegen müsste RWE schon längst im Knast sitzen wegen des blödsinnigen Braunkohleabbaus „Garzweiler II“.



      Armin Laschet hat da übrigens fleißig mitgemischt!

      Deutsche Politik, Polizei, Juristerei stellen sich ein Armutszeugnis aus, das sich gewaschen hat, wenn die LG kriminalisiert wird!



      Dann ist nàmlich klar: die da oben interessiert der Klimawandel einen Schei…dreck!

      E-Autos ojé — der Zug ist doch längst abgefahrenen und wo kein Strom ist, fährt Gott sei Dank auch kein Vehikel mit einer Riesenbatterie, deren Entsorgung absolut umweltschädlich ist!



      Da muss man nichtmal in der LG sein, um das zu wissen…