piwik no script img

TV-Interview mit Boris BeckerGebrochene Helden

Das Phänomen des gefallenen Sportstars hat eine soziale Funktion. Bei Auftritten wie dem von Boris Becker versichert sich eine Gesellschaft ihrer selbst.

Boris Becker bei der Sat1-Beichte Foto: Seven.One/dpa

„Keine Tabus, keine Ausreden, kein Blabla“, so kündigte Sat.1 das exklusive Interview mit Boris Becker an, das am Dienstag zur Primetime ausgestrahlt wurde. Der ehemalige Spitzensportler, wegen Insolvenzdelikten zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, sollte nach seiner vorzeitigen Entlassung auspacken.

Und Becker, penetrant als Boris geduzt, hat das präsentiert, was von ihm erwartet wurde. Das Ringen des gefallenen Wimbledon-Helden um seinen Ruf ist soziologisch sehr interessant. Es geht bei solchen Auftritten weniger um die Person, sondern um eine gesellschaftliche Selbstvergewisserung der eigenen Werte.

Im konkreten Fall: Ein Bekenntnis („Natürlich war ich schuldig“), Reue („Ich habe meine Fehler eingesehen“), eine Besinnung auf die große Liebe und die Familie (die echten Werte!), Gruselgeschichten von der täglichen Gewalt im Knast (die da unten!) – und gleichzeitig die Versicherung, dass dieses Bestrafungsmodell richtig ist („Vielleicht habe ich das gebraucht“). Die Zuschauerin bekommt gezeigt, dass Bodenständigkeit siegt und Maßlosigkeit bestraft wird. Und ist im Gegenzug bereit, die Tragödie des Menschen Boris Becker ohne Häme wahrzunehmen.

Wie das funktioniert, zeigte schon der – freilich ganz anders gelagerte – Knastaufenthalt von Uli Hoeneß. Nie genoss der verurteilte Steuerhinterzieher höhere Popularität als nach seiner öffentlichen Beichte und Läuterung. Das Phänomen des gefallenen Sportstars ist mehr als eine Anekdote. Der Fall Becker erinnert natürlich zuvörderst an Jan Ullrich, einen weiteren gestürzten deutschen Helden der Neunziger, der demnächst in einer Amazon-Doku „endlich auspacken“ will.

„Wie konnte es so weit kommen, dass aus dem Weltstar und Sporthelden ein insolventer Häftling wird?“, fragt Sat.1 im Fall Boris Beckers. Leider vergisst der Sender, diese Frage auch zu beantworten. Vage geht es um falsche Freunde, schlechte Selbstorganisation, zu wenig Überblick über das eigene Geld. Stets findet die Gesellschaft individualisierende Antworten für das Scheitern.

Dabei hat der Sturz nach der Karriere System. Ex-Schwimmer Michael Phelps schätzte, dass 80 Prozent der Spit­zen­sport­le­r:in­nen einmal an Depressionen erkranken – wegen des unmenschlichen Drucks, der fehlenden Zeit für andere Interessen oder Freund:innen, der Leere nach dem großen Erfolg. Die Soziologin Pia-Maria Wippert untersuchte Karriere­enden in Hochleistungsbiografien. Athlet:innen, schreibt sie, würden bereits im Kindesalter aus traditionellen Bindungen herausgelöst und während ihrer Karriere stark von außen gesteuert. Die plötzliche Freiheit nach der Karriere könnten viele nicht verarbeiten.

Weltweit, schreibt sie, sollen rund 50.000 Ex-Olympiateilnehmer:innen unterhalb der Armutsgrenze leben. Das hängt nicht nur mit der miesen Bezahlung in vielen Sportarten zusammen; auch im italienischen Männerfußball etwa sind sechs von zehn Profis nach der Karriere armutsgefährdet: wegen exzessiven Lebensstils, schlechter Geschäfts­ideen, Scheidungen.

Kein Individualdrama

Der Suchtforscher William Lowenstein diagnostizierte dagegen eine überdurchschnittliche Suchtgefahr bei Ex-Athlet:innen. Der freie Fall ist ein offenes Geheimnnis und statistisch gut belegt. Von einem Tag auf den anderen ist nach einer Sportkarriere alles fort: Status und Identität, das Hochgefühl, die intensive tägliche Bewegung, die Zugehörigkeit, der Lebenssinn.

Und wer soll so viel Geld sinnvoll verwenden? Boris Becker machte als Teenager seine erste Million, er soll allein rund 24 Millionen Euro Preisgelder und 50 Millionen Euro Werbegelder kassiert haben. Er versenkte es unter anderem in nigerianischen Ölquellen. Beckers Sturz ist kein Individualdrama.

Was ist das für eine Gesellschaft, die so ein Modell für Ath­le­t:in­nen feiert? In fast jeder Sportart gilt das Vollprofitum als großes Ziel. Was könnte es schließlich Schöneres ­geben, als sich 15 Jahre lang für ein Traumgehalt der Lieblingsbeschäftigung zu widmen? Oft ist dieses Modell aber ein Albtraum, sowohl für die Verteilung gesellschaftlicher Mittel als auch für die Entwicklung der Protagonist:innen. Es braucht eine Lobby für einen klügeren Sport.

Einen, der Ath­le­t:in­nen Zeit für weitere Tätigkeiten oder Berufe lässt, sodass sie einen Lebenssinn außer sportlichem Erfolg erfahren, einen Horizont und kritisches Denken erlernen, ihr Leben selbst strukturieren. Bei dem nicht mit Anfang 30 alles zusammenbricht. Das Scheitern von Ikonen wird von allen Beteiligten als bedauerlicher, aber notwendiger Preis für den Rekord hingenommen. Mit dem Ausschlachten von Beckers Knastaufenthalt erzielte Sat.1 immerhin nur maue Einschaltquoten. Lieber als gebrochene sehen wir dann doch ungebrochene Helden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

17 Kommentare

 / 
  • Beim Becker kann man exemplarisch sehen, was geschieht, wenn man ein Individuum von klein auf gnadenlos ausbeutet und dann erwartet, der angerichtete Schaden möge sich von selbst beheben.

  • Der Artikel ist interessant. Boris Becker steht Synonym für vieles in dieser Gesellschaft, immer auf der Suche nach ihrem Selbstverständnis. Er ist ein existentielles Beispiel, dass auch in der Welt der Manager*innen zu finden ist. Moderne Helden des Neoliberalen Selbstverwirklichungmythos. Aber der moderne Heros des Sports ist ein der öffentlichen Zuschreibung. Wir lieben solche Heroen, besonders wenn sie stürzen. Es ist der heilige Schauder, der uns erregt. Der Heros ist unser Produkt als Konsument im TV- Spektakel.

    • @Takker:

      Aber trotz der 150 mio., die er angeblich verdient hat, ist er ein Opfer (seiner Eltern) geblieben, so fühlt er sich wohl auch - als ewiges Opfer.

  • Wer in Gottes Namen will eigentlich noch wissen, was BB so macht oder auch nicht? Der Typ ist doch sche....egal oder?

  • Vielleicht könne Manuel Neuer mit seinen 20 Mio Jahreseinkommen ja unseren Boris unterstützen? Oder Messi - 200 Mio/Jahr.

    Besser aber, man hält sich an die Regeln und macht brav seine Steuererklärung. Alle Schlupflöcher müssen gestopft werden. Eine FINANZREFORM in Deutschland ist allerdings auch überfällig. Mit dem ollen Merz? Hahahaha.



    Man duldet hierzulande Steuerbetrug in Maßen.

  • Den Einschaltquoten nach zu urteilen, braucht die deutsche Gesellschaft recht wenig Selbstvergewisserung.

  • Mitleidsfaktor 0,0



    Dieser "Held" hat Steuern nicht bezahlt und Gläubiger betrogen. Er hat seine Strafe zu Recht bekommen, er hat nur einen Bruchteil davon abgesessen. Er mag ein ganz großer Tennisspieler gewesen sein, als Mensch aber muss er noch viel lernen, sonst schmiert er wieder ab.

  • Wie auch immer, die Vita von Becker ist allemal interessanter und hat mehr Human Touch als etwa die von Steffi und Andre in Las Vegas.

    • @Jim Hawkins:

      Ja, im Gegensatz zu Boris ist Steffi ja auch vernünftig.



      Boris ist hingegen lernresistent, wie von vielen "Freunden" berichtet wird.



      Knast hat er verdient, was sonst!

    • @Jim Hawkins:

      🏴‍☠️ das Bobbelche hat ab 14/15 - 5000 Bälle pro Tag & täglich an die Wand gehämmert. Das macht kein Kind/Jugendlicher freiwillig! Da liegt Kindesmißbrauch & früh deformierte Persönlichkeit auf der Hand. Das zum human touch!



      Nein es bleibt dabei



      Ogilvie/Tutko haben recht: “ If you want to build charakter! Try something else!“



      have a look at =>>



      Die Riesenstudie (~ an die 20tsd?) von Ogilvie/Tutko

      Ogilvie, Bruce C./Tutko, Thomas A. (1971): Sport: If You Want to Build Character, Try Something Else. In: Psychology Today, Vol. 5, Nr. 5, S. 61–63.

      (Pilz, Gunter A. (Hrsg.) (1982): Sport und körperliche Gewalt. Reinbek: Rowohlt.

      Roth, Fritz (2006) zitiert nach => Frieden und Sport

      Claus Tiedemann

      sport-geschichte.d...port_2.Auflage.pdf

      &



      journals.sagepub.c...001872677402700205



      &



      ps Red nicht wie’n Blinder von der Farbe! Hab gut 5/6 Jahre in dem Leistungssportsystem dringesteckt!



      🚣‍♀️ 4 DM & Einübung des Asozialen & eigene Grenzerfahrung erlebt.



      Will die Zeit nicht missen - aber klug intuitiv rechtzeitig den Stecker gezogen.



      Eben das aber - haben weder das Bobbelche - noch die im Beitrag angeführten hingekriegt!



      That’s fact •

    • @Jim Hawkins:

      Gegenrede!



      (Ich weiß zwar nicht, warum mein Beitrag von 17.00h nicht veröffentlicht worden ist - wahrscheinlich ist der abschließende Hebammenwitz mit dem männlichen Geschlechtsteil nicht durch den Filter gekommen.)



      Im Gegensatz zur gemessen an ihrem Wohlstand wohltuend bodenständig gebliebenen S. Graf, hat Becker seine Bodenhaftung schon früh verloren. Was bitte ist interessant an Mallorca-Immobilien in Naturschutzgebieten, Steuerhinterziehung und Besenkammer-Episode?



      Ärgerlich ist, dass die Medien einem Straftäter so viel Aufmerksamkeit widmen und dafür noch viel Knete locker machen.

      • @Tazacorte:

        Von der Knete wird Boris Becker als insolvente Person mit erheblichen Restschulden nicht viel behalten dürfen.

      • @Tazacorte:

        Was soll ich sagen, Becker ist Pop.

        Wenn man sich dafür nicht interessiert, kann man der Besenkammer-Geschichte wohl nichts abgewinnen.

        Und, die brave Steffi Graf wird ihr Anwesen in Las Vegas wohl auch nicht ganz ökologisch korrekt führen können.

  • Wie gut es auch anders geht zeigt Frau Graf.

    • @DiMa:

      Geht klar - hatte Vater Graf & das Leben aus der Plastiktüte - lecker!



      www.spiegel.de/spo...-0000-000009210180



      Ansonsten - Was ahn Schmarrn.



      Ploppen - Poppende - Broken Heros.



      Ich krieg nen Lachkrampf.



      Pop? Ah geh • Geschwurbel for nothing!

      • @Lowandorder:

        Sie wollen Frau Graf für Sie Taten des Vaters in Sippenhaft nehmen?

        • @DiMa:

          Klar - da hat ehra Lichtgestalt naturellement keinen blassen Schimmer gehabt! Im übrigen - für ehra undifferenzierte Holzschnittswelt & passend sojet wie Sippenhaft.



          Interessier ich mich kein Jota.