Soko Tierschutz zeigt Staatsanwalt an: „Hunderte Verfahren eingestellt“
Die Soko Tierschutz stellt Strafanzeige gegen den Oldenburger Oberstaatsanwalt Bernhard Lucks. Er habe Tierschutz-Verstöße nicht konsequent verfolgt.
Aber jetzt hat Lucks selbst Probleme. Friedrich Mülln, Leiter der Münchner Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz, wirft ihm vor, nicht kritisch und nachdrücklich genug zu ermitteln und fordert seine Entlassung: „Nachweislich wurden hunderte Verfahren eingestellt und die Verfahren, die zu schwerwiegendes Beweismaterial und öffentliches Interesse mit sich brachten, über Jahre verschleppt“, sagt Mülln. Dadurch seien Täter mit milderen Strafen davongekommen. Ermittlungen seien schludrig geführt und Beweismittel unzureichend gesichert worden. Auch die Justiz könne zum Mittäter werden – durch Untätigkeit.
Derzeit läuft gegen Lucks eine Strafanzeige der Soko Tierschutz wegen des Verdachts auf Strafvereitelung im Amt und Rechtsbeugung. Auslöser war die Aufarbeitung der Vorfälle um den Bad Iburger Rinderschlachthof Temme. Die Soko hatte den Fall 2018 aufgedeckt, durch das Material versteckter Videokameras. 168 Fälle, in denen Rinder beispielsweise mit einer Seilwinde aus dem Transporter in den Schlachthof gezogen wurden, weil sie selbst nicht mehr laufen konnten, seien dokumentiert worden. Es seien aber nur 58 zur Anklage gekommen.
Zudem habe Lucks „schwerwiegende Straftatsbestände“ ignoriert, etwa die Möglichkeit, dass tote Tiere verarbeitet wurden. Wegen des Verstoßes gegen die Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung sei gar nicht erst ermittelt worden, sagt Mülln, obwohl der Verdacht nahe gelegen habe, dass in Bad Iburg auch Kadaver zu Lebensmitteln wurden und, so Mülln, „keine Lebendbeschau stattfand“.
Eine Anfrage der Grünen im Landtag ergab für die Jahre 2015 bis 2018 insgesamt 455 Ermittlungsverfahren. Es kam zu 34 Anklagen. Daraus resultierten eine Freiheitsstrafe ohne und fünf mit Bewährung, plus Strafbefehle. In 18 Fällen sind gemeinnützige Tierschutzorganisationen als Anzeigeerstatter erfasst. Die Ermittlungsverfahren wurden sämtlich eingestellt.
Im Jahr 2020 seien in Oldenburg 405, im Folgejahr 186 Ermittlungsverfahren statistisch erfasst worden, wie Staatsanwalt Thorsten Stein, Sprecher der Staatsanwaltschaft Oldenburg, sagt. 2020 wurden fünf Anklagen und im Jahr 2021 insgesamt drei Anklagen erhoben. Dazu kamen Strafbefehle. 2020 sind 92 und 2021 insgesamt 75 Verfahren eingestellt worden.
In wie vielen Fällen es zu einer Freiheitsstrafe kam, setze „eine händische Auswertung voraus“, teilt Stein mit, „die in der Kürze der Zeit nicht geleistet werden kann“.
Die drei Haupttäter, der damalige Chef des Schlachthofs und zwei Mitarbeiter, wurden Ende August 2022 zu Bewährungsstrafen zwischen neun Monaten und zwei Jahren verurteilt – vier Jahre nach Bekanntwerden der Vorwürfe. Tierschützer kritisierten das Urteil als zu milde. Anfang Oktober erstattete die Soko in Oldenburg Strafanzeige gegen Heinrich Wilhelm B., den ehemaligen Temme-Geschäftsführer, wegen gewerbsmäßigen Betrugs.
Ihre Hoffnung, dem Verdacht im zweiten Anlauf doch noch gerichtliches Gehör zu verschaffen, scheiterte jedoch: Die Staatsanwaltschaft erließ eine Einstellungsverfügung. Anfang November legte Mülln gegen sie Beschwerde ein. Er beantragte, Lucks vom Verfahren abzuziehen.
Kurz zuvor hatten sich auch die niedersächsischen Grünen für den Fall stark gemacht, mit einer Kleinen Anfrage bei der Landesregierung. Sie wollten wissen: Ist die Schwerpunktstaatsanwaltschaft überlastet? Wurden im Fall Temme aufgrund der langen Verfahrensdauer keine Höchststrafen ausgesprochen?
Das Justizministerium antwortete, dass die Zentralstelle „personell hinreichend aufgestellt und nicht überlastet“ sei. Mängel in der Verfahrensführung seien nicht festzustellen. Ein Kausalzusammenhang zwischen Personaleinsatz und Strafzumessung werde nicht gesehen.
Eine der Autorinnen der Anfrage ist Miriam Staudte. Heute ist die Grüne Niedersachsens Landwirtschaftsministerin. „Bundesweit ist die faktische Straflosigkeit bei Tierschutz-Verstößen ein in wissenschaftlichen Arbeiten diskutiertes Problem“, sagt sie. „Ich sehe es als Aufgabe für die neue Landesregierung, dass die zuständigen Ministerien dieses Thema strukturell beleuchten und neue Wege aufzeigen.“ Das Justizministerium sehe das genauso.
Eine dieser Studien ist „Strafrechtliche Verfolgung von Tierschutzkriminalität in der Landwirtschaft“ von Johanna Hahn und Elisa Hoven, 2022 erschienen. Sie enthält Sätze wie: „Eine Vielzahl der Tierschutzstraftaten an landwirtschaftlich genutzten Tieren wird nicht abgeurteilt.“
Aktenuntersuchungen und Experteninterviews legten nahe, dass das Tierschutzstrafrecht vielfach nicht oder nicht angemessen angewendet werde. Einige Amtstierärzte nähmen von Strafanzeigen Abstand, „weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass die Staatsanwaltschaften die Fälle nicht ernsthaft verfolgen“.
Oft würden Strafanzeigen als Gefahr für eine funktionierende Landwirtschaft angesehen, heißt es in der Studie weiter. Ergehe ein Strafbefehl oder ein Urteil, seien die Sanktionen „am unteren Ende des Strafrahmens“. Auch die Oldenburger Zentralstelle kommt in Hahns und Hovens Studie vor. Zu ihr heißt es, in Fällen der Leidenszufügung sei nicht ermittelt worden.
Lucks, von der taz um Kommentierung gebeten, schweigt. Sämtliche Sachverhalte würden „strafrechtlich überprüft und einer Entscheidung zugeführt“, sagt Staatsanwalt Matthias Rennecke, Sprecher seiner Behörde. Dabei sei die Prüfung nicht auf bestimmte Straftatbestände beschränkt, sondern „vollumfänglich“. Zu Lucks selbst hält er sich bedeckt.
Dieter Ruhnke, Vorsitzender des Landestierschutzverbands Niedersachsen, sagt über die Schwerpunktstaatsanwaltschaft: „Manchmal bleiben Akten sehr lange liegen.“ Was man dazu wissen muss: Tierschutzfälle verjähren schnell.
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