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Reaktionen auf Bürgergeld-Kompromiss„Kniefall vor der Union“

Auf Druck von CDU und CSU hat die Ampel ihre Pläne für das Bürgergeld verwässert. Sozialverbände und Linkspartei kritisieren den Kompromiss scharf.

Angst vor dem Amt: Die Kritik am Bürgergeld dreht sich vor allem um die Sanktionen Foto: Carsten Koall/dpa/picture alliance

Berlin taz | Mit heftiger Kritik haben die Gewerkschaft Verdi, Sozialverbände und die linke Bundestagsopposition auf den von der Ampelkoalition mit der Union ausgehandelten Kompromiss zum „Bürgergeld“ reagiert. Mit dem geänderten Gesetzentwurf, über den am Freitag Bundestag und Bundesrat abstimmen werden, gelinge es nicht, das Hartz-IV-System zu überwinden.

„Die von den Unionsparteien durchgesetzten Änderungen beim Bürgergeld bedeuten einen schlechten Kompromiss zulasten der Menschen, die Hilfe und positive Begleitung statt Bestrafung brauchen, um ihre Arbeitslosigkeit zu überwinden“, sagte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke der taz. Damit lebe das Bestrafungs- und Sanktionssystem Hartz IV, das die rot-grün-gelbe Regierung eigentlich ablösen wollte, fast unverändert weiter. „Die Streichung der weitgehend sanktionsfreien Vertrauenszeit ist dafür bezeichnend“, so Werneke.

In dem am Dienstag gefundenen Kompromiss stecke „mehr Hartz IV, als es die Ampel zugibt“, sagte die stellvertretende Linksfraktionsvorsitzende Susanne Ferschl. Er sei „ein Kniefall vor der Union und ihrem neoliberal zugerichteten Menschenbild vom faulen Arbeitslosen“. Sozialleistungen blieben so weiterhin ein angstbehafteter Makel – und eben kein Anspruch auf Augenhöhe, wie es der neue Name Bürgergeld suggerieren solle.

„Wer nach einem langen Erwerbsleben arbeitslos wird, dem helfen weder Sanktionen noch verstärkter Druck durch verkürzte Karenzzeit dabei, schnell wieder einen guten Job zu finden“, kritisierte Ferschl. Eine groß angelegte Arbeitsmarktreform oder gar Abkehr von Hartz IV sei das nicht.

Sozialreform „zerbröselt“

Ebenfalls äußerst enttäuscht zeigte sich der Sozialverband Deutschland (SoVD). „Mit der Streichung der Vertrauenszeit wurde der Reform ein Herzstück genommen“, konstatierte die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier. Es sei traurig, dass ein neues, auf Vertrauen setzendes Klima keine Mehrheit gefunden habe. „Statt die Vertrauenszeit zu erhalten und damit den Weg frei zu machen für einen zugewandten Sozialstaat, verfallen wir wieder in alte Hartz-IV-Muster“, so Engelmeier.

Nach Auffassung des Hauptgeschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, ist die vermeintlich größte Sozialreform seit 20 Jahren „zerbröselt“. Hartz IV bekäme zwar neue Akzente Richtung Bildung und Weiterbildung, auch sei das einjährige Wohnungsmoratorium besser als gar keine Neuregelung.

Aber von einer Überwindung von Hartz IV hin zu einem tatsächlichen Bürgergeld sei der nun gefundene Kompromiss der Ampel mit der Union denkbar weit entfernt. „Solange in der Grundsicherung weiterhin sanktioniert wird und solange die Menschen weiter in Armut gehalten werden, kann nicht ernsthaft von einer echten Reform, sondern bestenfalls von einer Novelle gesprochen werden“, sagte Schneider.

Besser gestimmt zeigte sich hingegen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). „Für die Betroffenen ist gut, dass trotz der Irrläufer der CDU so schnell ein Kompromiss gefunden wurde“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Das Bürgergeld schaffe immer noch für viele mehr Sicherheit, stärke die Solidarität und damit für alle den sozialen Zusammenhalt. Viele wesentliche Verbesserungen des Bürgergelds habe die Ampel in den Verhandlungen retten können.

Linke beklagt Verschlechterung

Demgegenüber macht die arbeits- und sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Jessica Tatti, darauf aufmerksam, dass das neue Bürgergeld durch die nachträglichen Veränderungen nun sogar an einer Stelle eine Verschlechterung gegenüber dem derzeitigen Hartz-IV-Status-quo mit sich bringt. Denn die während der Corona-Zeit eingeführte Aussetzung von Leistungskürzungen, wenn Arbeitssuchende Vermittlungsangebote ablehnen oder Weiterbildungen abbrechen, wird mit dem Bürgergeld nun vorzeitig wieder abgeschafft.

Eigentlich sollte dieses Sanktionsmoratorium erst im Juli 2023 auslaufen. Stattdessen soll jedoch bereits ab Januar gelten, dass ab dem zweiten Terminversäumnis der Regelsatz um 10 Prozent gekürzt wird. Wer Weiterbildungen verpasst oder sich nicht auf angebotene Jobs bewirbt, bekommt sogar 20 Prozent für einen Monat abgezogen. Für einen Alleinstehenden sind das 100 Euro weniger im Monat.

Zeigt man sich weiter uneinsichtig, gilt diese Kürzung für zwei Monate, im schlimmsten Fall können bis zu 30 Prozent für drei Monate vom Jobcenter einbehalten werden. „Es ist eine Schweinerei, dass das lange beschlossene Sanktionsmoratorium still und heimlich vorzeitig abgebrochen wird“, findet die Linke Tatti.

Immerhin gelten Leistungskürzungen bei Terminversäumnissen jetzt zunächst nur für einen Monat und nicht wie beim derzeitigen Hartz IV von Anfang an für drei Monate. Tatti meint dennoch: „Anstatt des angekündigten Kulturwandels hin zu mehr Respekt und Augenhöhe wird das Rad wieder zurück in Richtung Kontrolle und Bestrafung gedreht.“

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10 Kommentare

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  • 6G
    655170 (Profil gelöscht)

    Da brauchen SPD und Grüne garnicht drumrumschwurbeln.



    Werneke hat recht:



    Das Bestrafungs- und Sanktionssystem names Hartz IV sollte abgescafft werden.



    Das war eines der zentralen Versprechen von Rot-Grün.



    Und geschehen ist: Nichts.



    Man hat dem finsteren Gesellen (Hartz IV) ein neues Mäntelchen mit einem neuen Namensschild umgehängt.



    Aber - wenn man die Opposition in Form einer radikal-kapitalistischen Partei (FDP) ganz bewusst und auch als wohlfeile Ausrede für die entsprechende Politik mit in die Regierung holt, dann wird es wohl immer wieder solche Gesetze geben.

  • Das war mal wieder ein Musterbeispiel dafür, dass Demokratie ganz prima, aber manchmal durchaus beschissen ist.



    Erst wird eine gute Absicht innerhalb der Ampel kaputtverhandelt, und dann setzt die größte Oppositionspartei noch einen drauf und macht das Ding vollends platt.

    Und noch schlimmer: Alle preisen HartzIV.2.0 jetzt als ein Wunderwerk ihrer politischen Kunst, das übliche Geschwafel halt. Man könnte glatt kotzen.

    • @Nairam:

      Wir haben Föderalismus und bestimmte Sitten in der Willensbildung in den Landes- Koalitionen.



      Der Bundesrat ist fast in allen Bereichen die gleichberechtigte Zweite Kammer des Parlaments.



      Der Fehler ist vor allem die mangelnde Kommunikation über Zuständigkeiten und tatsächliche Macht.

    • @Nairam:

      Dem schließe ich mich voll und ganz an. Armut per Gesetz geht in die nächste Runde.

      Ob große Teile der Mittelschicht erst dann für ein armutsfestes Grundeinkommen/die Garantiesicherung abstimmen werden, wenn sie selber vollkommen pleite sind?

      Oder wird die Umverteilung von Fleißig nach Reich ewig weitergehen?

      Mit welchem Sinn eigentlich?

  • Angemessen enttäuscht oder empört zu sein und bald darauf wieder zur Tagesordnung zurückgehen wird da niemandem helfen außer vielleicht den Betrieben, deren Geschäftsmodell das der prekären Beschäftigungsverhältnisse ist.

    Die durchschnittliche Lebenserwartung von Langzeitarbeitslosen und Niedriglöhnern ist um 7 bis 10 Jahre geringer als im Volksdurchschnitt. Ein Leben in totaler Altersarmut kommt der Folter gleich, und in Armut lebende chronisch Kranke und Pflegebedürftige per Gesetz in totaler Armut und damit verbundener Ausgrenzung zu halten ist Menschenfeindlichkeit pur. Die Liebe von Angehörigen Pflegebedürftiger zu mißbrauchen, um auch diese in die spätere Altersarmut zu zwingen, setzt der Unerträglichkeit noch eins drauf.

    Solche Probleme wären bei einem Verzicht auf maßlose Verschwendung von Steuergeldern und einer ernstgemeinten Korruptionsbekämpfung zumindest aus finanzieller Sicht vom Tisch - wenn da nicht schon seit eh und je der Ungeist durch die gesamte Politik spuken würde, daß es unter unterschiedlichsten Maskierungen stets eine Bevölkerungsgruppe geben muß, an der die Reichen und Mächtigen ihre Wut darüber austoben können, daß man eine solche Bevölkerungsgruppe nicht mehr weiter auspressen kann.

  • Soll jedoch bereits ab Januar gelten: Wer "Weiterbildungen verpasst oder sich nicht auf angebotene Jobs bewirbt, bekommt sogar 20 Prozent für einen Monat abgezogen. Für einen Alleinstehenden sind das 100 Euro weniger im Monat."

    Wie ist/wird das im Zusammenhang mit dem "Versprechen" zu verstehen, der Weiterbildung Vorrang zu geben, vor (schneller) Vermittlung? Was auch durch die zu erwartenden Änderungen durch den Vermittlungsausschuß unverändert nicht verändern werden sollte?

    Da kann noch was auf uns zukommen - fürchte ich. Fürchte ich sehr. Es ist ja nicht so, dass man SPD und FDP nicht als "Trickser" kennengelernt hat. Die "Agenda-SPD" war sehr trickreich darin, nachteilige Regelungen für die Hartz-IV-Bezieher u. Bezieherinnen hinten herum bei den zahlreichen bisherigen Novellierung zu SGB II und Grundsicherung einzuführen. "Diese" SPD ist nicht einfach verschwunden.

    Schwanke zwischen Hoffnung auf "wenigsten etwas" Bürgergeld und der traurigen Sorge: Am Ende wird die "Reform" doch nur HARTZ IV.

    Nur traurig.

    • @Moon:

      Es muss bei den Leistungsempfängern viel mehr differenziert werden.



      Bezieher mit einem Bildungs defiziet müssen Weitergebildet werden- besser wäre es jedoch im Vorfeld schon anzusetzen, sprich, einmal unser Bildungsssystem zu Reformieren.



      Was jedoch völlig sinnfrei wirkt sind Bewerbungsseminare für viel Geld , an denen Lehrer mit Arbeitsvertrag, der erst nach den Sommerferien beginnt-- vorher noch in einen solchen Kurs zu vermitteln. Genauso bei Schauspielern , die während der Theaterferien Leistungen beziehen - auch in irgendwelche Maßnahmen zu vermitteln. Da diese bei Spielbeginn ja wieder beschäftigt sind. Genauso bei Saison Beschäftigten in der Tourismus Branche, Kinderkurheimen auf deutschen Nordseeinseln. Hier sollten einmal die Arbeitsverträge von der Politik auf Akzeptanz überprüft und dementsprechend mit Regelungen vorgegangen werden.



      Leistungsempfänger sind eben keine homogene Masse, sondern vielschichtig und differenziert zu sehen.

      • @Alex_der_Wunderer:

        Ja, genau! Das Schulsystem: Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss soll wieder steigen – soweit mir bekannt. Der Lehrerinnen- u. Lehrermangel ist hoch u. mehr als „akut“. „Eigentlich“ müssten die reformerischen Ansätze des Bürgergeldes in Sachen Berufsaus- u. Weiterbildung verbunden sein, mit eben solchen Anstrengungen für das Schulsystem. Damit im Anschluss daran nicht bloß ein „Reparaturbetrieb“ aufgebaut werden muss, der die vorherigen ungelösten Probleme zu korrigieren versucht (Das alles ist natürlich „idealtypisch“ betrachtet).



        Nun vorweg gesagt (als einer der H 4 kennt). Es wäre schlicht die Unwahrheit zu behaupten, es gäbe „in H4“ keine Möglichkeiten und Anstrengungen für Angebote der berufl. Aus- u. Weiterbildung, durchaus auch im Sinne der „Kunden“/Betroffenen. Man bleibt dabei aber weit unter den Möglichkeiten. Obwohl man DIESE Eine hier anzusprechende Ursache dafür sogar schon im jetzigen System längst hätte beseitigen können.



        Da setzt meine bestätigende Antwort auf Ihre Ausführungen an. Sie nennen Beispiele vertraglich mehr oder weniger abgesicherter „Saisonarbeit“, welche aber auf wie eben angesprochener Grundlage über die einzelne Saison hinaus verstetigt ist. Wo zwischen Arbeitseinkommen u. Einkommen aus Grundsicherung beabsichtigt gewechselt werden muss. Der von Ihnen geschilderte „Maßnahmenquatsch“ ist völlig Sinn frei. Hat aber aus einem Grund Methode, die Fachleute längst analysiert und benannt haben: Maßnahmen, deren Finanzierung und Planung durch die Jobcenter erfolgt ist, müssen gefüllt werden. Schon um im Folgejahr neue Gelder für neue Maßnahmen bekommen zu können, deren Erfolg erst mal an Teilnehmerzahlen gemessen wird. Selbst noch so erfahren-tüchtige Vermittlerinnen und Vermittler in den Jobcentern geraten so in den Druck, „ihre“ Maßnahmen zu füllen. Weil auch ihr Erfolg u. a. daran gemessen wird. Und dann findet sie eben statt: Die real existierende Sinnfreiheit. Die nicht nur in den genannten Bereichen stattfindet.

  • Gott oh Gott oh Gott.



    Was sollen wir künftig denn blos wählen ?

    Auf der einen Seite sammeln sich die Versager in allen Farben des Regenbogens und auf der anderen Seite ein schwarzes Loch aus sozialer Kälte, Machtgeschubse und Intriegen.

    Und dann noch eine hundekackfarbene Enklave die auch olfaktorisch ihrer Optik folgt.

  • CDunsozial!



    Ja, es hätte mehr dabei herauskommen können.



    Adressat der Kritik sollte allerdings die CDU sein.



    Die Grünen, die in vielen Bundesländern mit der CDU koalieren, müssen einsehen, dass soziale Politik mit der CDU unmöglich ist. Vielleicht dämmert es dem Einen oder der Anderen, dass Pöstchen alleine auf Dauer nicht die Erfüllung sind. Wenn nicht, sind die Grünen bereits weiter nach rechts gerückt, als bisher wahrgenommen.



    Der Schwerpunkt, die Menschen in Ausbildung und Weiterbildung zu bringen bleibt. Das ist die gute Nachricht.



    Es geht nicht mehr darum schnell in Jobs zu vermitteln, sondern langfristig in qualifizierte Beschäftigung.



    Diesen Erfolg sollte man/ frau auch nicht kleinreden .



    Die Reduzierung des Schonvermögens ist zwar unschön, betrifft aber sicher nur eine Minderheit.