Solidarischer Herbst: „Was jetzt hilft, ist Zusammenhalt“
Bundesweit gehen Tausende auf die Straße, um für eine sozial gerechte Politik zu demonstrieren. Eindrücke aus Berlin und Frankfurt.
Wolf arbeitet in der ambulanten Familienhilfe und ist täglich damit konfrontiert, wie „Menschen wütend und frustriert sind.“ Sowohl bei der Arbeit als auch im privaten Umfeld würden immer mehr Menschen Anpassungsstörungen entwickeln: „Das konnten wir schon seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie beobachten. Aber mit dem Krieg und der Energiekrise wird das alles noch schlimmer, die Leute werden krank und gehen psychisch kaputt“.
Er selbst käme bislang als alleinstehende Person mit mittlerem Einkommen noch einigermaßen über die Runden. „Aber viel mehr sparen kann auch ich nicht mehr und tendenziell wird alles zukünftig noch teuer werden.“ Besonders schlimm sei es aber jetzt schon für Menschen, die sich bereits vor einer Inflationsrate von über 10 Prozent „am Ende des Monats nur noch von Toastbrot ernähren konnten.“ Wolf bezieht sich dabei auf den Fall einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern, die er psychologisch betreut. „Deswegen brauchen wir jetzt Solidarität aller linker Gruppierungen.“
Wolf ist einer von mehr als 6000 Menschen, die nach Angaben der Veranstalter am Samstag in Berlin dem Aufruf des Bündnisses Solidarischer Herbst gefolgt sind. Bundesweit sollen es rund 24.000 Menschen gewesen sein. Auch in Hannover, Stuttgart, Dresden und Düsseldorf wurde demonstriert. Sie alle gingen für eine sozial gerechte Entlastung, Klimaschutz und Solidarität mit der Ukraine auf die Straße. Der Aufruf wurde von den Gewerkschaften GEW und Verdi, von Attac, Campact, der Volkssolidarität und dem Paritätischen, sowie den Umweltverbänden BUND und Greenpeace und dem Verein Finanzwende initiiert.
Breites Bündnis, gemeinsame Forderungen
Vor Ort haben sich viele weitere Gruppierungen angeschlossen: Klasse gegen Klasse und RWE Enteignen wollen „die Macht der Energiekonzerne zerschlagen“, Sana Lichtenberg und die Krankenhausbewegung verlangen höhere Löhne und der Jugendblock von Umweltverbänden und Gewerkschaften fordert mehr Mitbestimmungsrecht von jungen Menschen im Umgang mit den vielen Krisen.
„Die Forderungen passen alle zusammen“, sagt Wolf. Dass linke Gruppierungen nach jahrelangen Grabenkämpfen die Streitereien jetzt beiseitelegen und sich solidarisch zusammen schließen, macht ihm am meisten Hoffnung. Und es braucht Zusammenhalt, darin waren sich alle Redner:innen am Samstag einig: „Die Rechte macht mobil, das ist gruselig und dramatisch. Das Einzige, was jetzt hilft, ist Zusammenhalt“, ruft eine Sprecherin von Campact vom Lautsprecherwagen dem Demonstrationszug entgegen.
Es geht um Solidarität und um konkrete Forderungen: sofortige Hilfen in Höhe von 500 Euro sollen die Energiepreise kurzfristig abfedern, ein Mietenstopp soll bezahlbares Wohnen ermöglichen, Erneuerbare Energien auf Hochtouren ausgebaut werden, das 9-Euro-Ticket weitergeführt werden. „Finanzieren müssen das auch die Banken und Energiekonzerne, die seit Beginn der Krise horrende Übergewinne eingefahren haben“, sagt Gerhard Schick vom Verein Finanzwende.
Auch die Reichsten, die von „systematischen Löchern im Finanzsystem, wie Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer“ profitierten, müssten jetzt stärker in die Verantwortung gezogen werden. Nur durch Umverteilung sei Solidarität möglich. „Wir gehen so lange auf die Straße, bis soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden, Menschen wirklich geholfen wurde, und wir endlich eine Umverteilung erleben“, sagt auch Psychologe Wolf. „Umverteilen“ – wird bei der nächsten Demo am 12. November das Motto sein.
„Klimaschutz statt Armut“-Plakate in Frankfurt
Auch in Frankfurt am Main kamen am Samstag Tausende Menschen zusammen. Auf dem Rossmarkt, wo die Kundgebung am Mittag startete, wehten viele Fahnen – ein wahres Fahnenmeer in Rot mit den Schriftzügen von DGB, Verdi und linken Gruppen. Aber auch grüne Transparente der Umweltschutzgruppen stachen ins Auge.
„Klimaschutz statt Armut“ – so stand es schwarz auf knallgelb auf den Plakaten der Greenpeace-Aktivisten. Und brachte damit griffig auf den Punkt, was das Anliegen der Demonstrierenden bei „Solidarisch durch die Krise“ ist: mehr Klimaschutz und eine sozial gerechtere Politik – beides in Verbindung und gerade jetzt in der Krise. Denn die Kritik an der Regierung, die will man nicht den Rechten überlassen. Sondern für die eigenen Anliegen nutzen.
Die Forderungen daher auch: Ausbau von Erneuerbaren, eine Übergewinnsteuer, und mehr Entlastungen für Arme und Geringverdiener. Laut Attac, einer der Veranstalter der Demo, waren es rund 5.000 Menschen, die in Frankfurt dem Aufruf von Attac und Co. gefolgt sind. Die Polizei ging von 3.000 aus. Irgendwo dazwischen wird sich die Zahl der Teilnehmenden bewegt haben. Rund 30 verschiedene Organisationen und Gruppierungen waren es, die sich zusammen gefunden haben.
Spruchschilder gab es in Frankfurt gar nicht mal so viele – und die, die man sah, thematisierten neben den Preisen oft das Thema Krieg und Waffenlieferungen. „Butter statt Kanonen“ hielt jemand plakativ hoch, auch Friedenstauben gab es einige. Rechte und Querdenker waren in Frankfurt dagegen nicht offen zu sehen. Die Organisatoren schafften es, problematische Parolen von dem Aufzug fernzuhalten.
Es soll ein Signal für die Menschen in der Krise ausgehen
Und sind zufrieden: „Das ist ein guter Auftakt. Und eine ganz gute Teilnehmerzahl“, sagte Werner Neumann aus dem Landesvorstand vom BUND Hessen der taz. Doch er will nicht nur die Politik adressieren: „Ich hoffe, dass von unseren Demos heute ein Signal an die Menschen ausgeht, die gerade unter der Krise leiden. Dass wir uns um ihre Anliegen kümmern, dass es ganz viele gibt, die man da ansprechen kann von der Energieberatung hin bis zur Hilfe mit Behörden. Und dass man dafür nicht zu den Rechten gehen muss.“
Die Notwendigkeit für eine Demo – die spürten auch viele Teilnehmende: Eine Alleinerziehende berichtete: „Ich spüre die Krise gerade sehr. Und die aktuellen Maßnahmen der Politik, die reichen einfach nicht, gerade nicht für mich als Alleinerziehende.“ Sie hofft nun, mit der Demo ein Zeichen zu setzen.
Allerdings: die Frau ist an dem Tag eine der wenigen, die einfach so, ohne einem großen Verband anzugehören oder über ihn mobilisiert worden zu sein, in Frankfurt auf die Straße gegangen ist. Es ist vor allem die organisierte, links-alternative Mittelschicht, die da die Fahne wortwörtlich hochhält. Eine Massenbewegung – vor allem eine, die breite Schichten der Bevölkerung umfasst, die ist am Samstag in Frankfurt nicht auf der Straße zu sehen. Auch wenn das Ziel eine Großdemonstration war.
Mobilisierungspotenzial wäre da: Energiepolitik und Energiewende sind gerade laut einer neuen Umfrage die Topthemen in Hessen. Eine Mehrheit der Befragten im Hessentrend, rund 29 Prozent, sehen diese Felder als drängendste Probleme der hessischen Politik. Doch was der Hessentrend auch verrät: Die gestiegene Sensibilität bei dem Thema wird derzeit nicht umgemünzt in einen deutlichen Zuwachs beim Thema „Soziale Gerechtigkeit“. Dieser Aspekt liegt recht abgeschlagen mit neun Prozent weiter hinten in Ranking. Die Bedeutung hat gerade einmal um zwei Prozentpunkte zugenommen.
Wissler: Überlegen, wie wir breitere Schichten erreichen
Hier sieht auch Janine Wissler, die Parteivorsitzende der Linken noch Luft nach oben. Sie war am Samstag zur Demo nach Frankfurt gekommen. Sie sagte der taz: „Ich denke, das ist hier heute ein guter Erfolg, dass hier so viele gemeinsam Flagge zeigen. Aber ja, wir müssen uns vielleicht danach auch noch einmal überlegen, wie auch breitere Schichten erreicht werden können.“
Zwar waren Parteien generell kein Teil des offiziellen Veranstalter-Bündnisses von „Solidarisch durch die Krise“. Doch wie die Linke versuchten auch andere Präsenz zu zeigen. Die Grünen hatten auf Bundesebene zu den Demos mobilisiert, wenn auch zaghaft. Aber sie sah man nicht auf den Straßen Frankfurts. Dafür war die Grüne Jugend Hessen gekommen. Nur Juso-Fahnen, die sonst auch gerne mal gegen die Mutterpartei wehen, die sah man am Samstag nicht.
Während sich die Demonstrierenden mit ihren Fahnen und Plakaten durch die Straßen schlängelten, drängten sich nebenan auf der Zeil die Passanten. Die Frankfurter Einkaufsmeile war gut besucht. Viele schauten interessiert zum Demozug herüber. „Ja, die steigenden Preise, die machen mir echt zu schaffen“, sagte eine junge Frau aus Bad Homburg. „Aber demonstrieren, ich weiß nicht, – ich glaube, das bringt nichts.“ Viele andere hatten von der Demo vorher ohnehin gar nichts mitbekommen.
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