Späte Schwangerschaftsabbrüche: Drei Komma drei Prozent
Ralf Schild nimmt späte Schwangerschaftsbbrüche vor. Damit ist er ziemlich allein, denn viele Mediziner:innen ducken sich weg.
D ie Weidekörbchen hat Anke Scholl extra anfertigen lassen, in Bioqualität. In drei Größen liegen sie im Schrank der Geburtsstation des Henriettenstifts in Hannover, neben winzigen Schlafsäcken. Darin können tot geborene Kinder nach der Geburt aufgebahrt werden. „Hier, halten 'Se mal bitte.“ Anke Scholl, die Pastorin, drückt Ralf Schild, dem Chefarzt der Geburtshilfe, ein Körbchen in die Hand. Für die Fotografin, die gerade im lila Zimmer – gelegen in einem ruhigen Seitengang – Bilder macht. Hier gebären oft die Frauen, deren Kinder nach einem Schwangerschaftsabbruch tot zur Welt kommen. „Wir versuchen sie aus dem Getümmel des Kreißsaal-Geschehens herauszuhalten“, sagt Scholl.
An diesem Nachmittag Mitte September ist es ruhig auf der Station. Nur eine Frau in den Wehen läuft auf und ab. Das kann sich jederzeit ändern: Das Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft ist mit jährlich 4.107 Geburten Deutschlands zweitgrößte Geburtsklinik.
Diese Geschichte handelt davon, warum ausgerechnet in diesem konfessionellen Haus Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von Fehlbildungen stattfinden. Auch nach der 22. Woche nach Empfängnis, zu einem Zeitpunkt, an dem die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs überleben können. Deshalb werden sie vor Einleitung der Geburt mit einer Kaliumchloridspritze ins Herz getötet. Das Henriettenstift ist eine der wenigen Kliniken in Deutschland, in denen diese medizinische Leistung regelhaft angeboten wird – und die das nicht versteckt.
In dieser Geschichte geht es nicht nur um den Mut eines Arztes und seines Teams. Sie handelt auch davon, wie Schwangere und ihre Partner:innen in Deutschland dem Zufall und der Entscheidungsmacht von Ärzt:innen ausgeliefert sind, wenn sie eine Schwangerschaft nach den ersten drei Monaten abbrechen wollen – eine vom Gesetzgeber willkürlich festgelegte Frist. Danach greift die Ausnahmeregelung des Strafrechtsparagrafen 218 nicht mehr, der Abtreibungen bis zur 12. Woche nach Pflichtberatung und dreitägiger Bedenkzeit erlaubt.
3,3 Prozent aller Abtreibungen
Über die frühen Schwangerschaftsabbrüche wird wieder diskutiert. Nicht aber über die späten. Sie machten im vergangenen Jahr 3,3 Prozent aller Abtreibungen aus. Tatsache ist: Wenn die Versorgungssituation in den ersten drei Monaten in vielen Regionen schon dramatisch ist, dann ist sie das danach nahezu flächendeckend katastrophal. Und das bei stetig steigenden Zahlen: Im vergangenen Jahr hat es laut Statistischem Bundesamt 3.068 Abbrüche nach der 12. Woche gegeben, davon 728 nach der 22. Woche. Das sind im Vergleich mit dem Jahr 2010 knapp 20 Prozent mehr nach der 12. und knapp 60 Prozent mehr nach der 22. Woche.
Wie viele Schwangerschaften jenseits der 28. oder gar der 34. Woche abgebrochen werden, ist unbekannt. Es gehört zu den Besonderheiten des deutschen Abtreibungsrechts, dass eine detaillierte Statistik nur bis zur 22. Woche verfügbar ist. Danach will man es nicht mehr so genau wissen. „Einen kollektiven Abwehrprozess“, nennt die Pastorin Anke Scholl den Umgang der Deutschen mit dem Thema Spätabtreibung.
„Das hätte ich mir nie vorstellen können“, ist der Satz, den sie fast immer hört, wenn sie das erste Mal mit Frauen oder Paaren über ihren Wunsch spricht, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie hatten die Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen, ohne sich überlegt zu haben, was sie machen, wenn dabei eine Fehlbildung gefunden wird. Und jetzt sind sie im Henriettenstift und sprechen nicht über die Geburt, sondern über eine Abtreibung.
Anke Scholl ist die Erste, der sie hier begegnen. Sie „eröffnet einen Raum“, wie sie es nennt, versucht herauszufinden, in welcher Situation sich die Betroffenen befinden, ob eine Frau die Abtreibung will oder jemand anderes. Ob sie sich mit Alternativen zum Abbruch beschäftigt haben. Dass eine Pastorin sie empfängt, wundere die wenigsten, sagt Anke Scholl. „Ich glaube, sie sind froh, überhaupt mit jemand ausführlich und in Ruhe sprechen zu können.“
Dennoch ist ihre Rolle erklärungsbedürftig, denn offiziell gibt es sie gar nicht. Das Gesetz schreibt nur den Ärzt:innen vor, Frauen vor späten Abbrüchen zu beraten. Die wiederum benötigen die Bescheinigung eines Arztes oder einer Ärztin, dass ein Fortsetzen der Schwangerschaft ihre seelische oder körperliche Gesundheit bedroht. So steht es seit 1995 im Gesetz. Zuvor galt eine Fehlbildung des Fötus als Indikation für eine Abtreibung.
De facto gilt das weiter. Denn fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach den ersten zwölf Wochen geschehen aufgrund einer pränatal diagnostizierten Behinderung. Das zeigen die Daten der einzigen beiden Kliniken, die ihre Zahlen öffentlich gemacht haben, der Universitätskliniken Gießen und Leipzig. Und obwohl es um den Zustand der Frau gehen soll, stellen in der Regel nicht Psychiater:innen oder Psycholog:innen die Bescheinigung aus, sondern Gynäkolog:innen. Zu ihrer Qualifikation schweigt sich das Gesetz aus. Es müssen nur andere Ärzt:innen sein als die, die den Abbruch durchführen.
Die Probleme beginnen mit der Beratung
Wer ein voraussichtlich behindertes Kind erwartet, hat keine Probleme, die Bescheinigung zu bekommen. Zum einen sei dies die einzige Antwort, die Ärzt:innen verzweifelten Eltern geben können, wenn diese nach einem niederschmetternden Befund fragen: „Was können wir machen?“ Das sagt die Gynäkologin und Psychotherapeutin Juliane Marschke. Sie hat anderthalb Jahre in der Geburtshilfe der Berliner Charité gearbeitet und Frauen dort psychosomatisch betreut, unter anderem während eines Schwangerschaftsabbruchs. „Wir Ärzt:innen wollen immer etwas tun, dabei geht das in diesen Fällen kaum.“ Das Wichtigste sei, den Druck rauszunehmen, damit die Frau eine Entscheidung treffen kann, hinter der sie steht.
Zum anderen schützen sich Ärzt:innen mit den Indikationen vor Schadensersatzansprüchen, wenn sie eine Fehlbildung übersehen und den Eltern damit die Möglichkeit eines Abbruchs genommen haben. So irre es klingen mag: Ärzt:innen riskieren in Deutschland eine zivilrechtliche Klage, wenn sie eine Straftat nicht ermöglicht haben. Nach Paragraf 218 sind Schwangerschaftsabbrüche Tötungsdelikte.
Doch wer die Indikation hat, muss eine zweite Hürde überwinden, die nicht im Gesetz steht. Denn die Kliniken nehmen nicht jede Patientin. Sie beurteilen ein zweites Mal, ob aus ihrer Sicht ein Austragen der Schwangerschaft zumutbar ist. Das hat damit zu tun, dass niemand gerne diese späten Abbrüche macht. Aber auch damit, dass die Indikation so schnell gestellt wird.
Chefarzt Ralf Schild
Die Hürde besteht im guten Fall aus Menschen wie Anke Scholl und dem Chefarzt Ralf Schild, die sich die Zeit nehmen, eine Frau oder ein Paar kennen zu lernen, um ihren Wunsch nach einem Abbruch zu verstehen. Objektive Kriterien, von denen sie sich leiten lassen können, gibt es nicht: Auch hierzu sagt das Gesetz nichts – weil sich eine Straftat nicht regulieren lässt.
„Es ist immer eine Gewissensentscheidung, kein Schwarz-Weiß-Business“, sagt Ralf Schild, jeder Fall sei anders. Mal ist die Behinderung sehr schwerwiegend, aber eine Frau oder ein Paar kommt im Gespräch mit ihm, der Pastorin und der Kinderärztin zu der Entscheidung, die Schwangerschaft auszutragen. Oder die Prognose ist recht gut, aber die Elternbeziehung wirkt labil, vielleicht gibt es noch zwei kleine Kinder. Von vornherein Nein sagt Schild nur bei leicht operierbaren Behinderungen wie einer Gaumenspalte oder fehlenden Fingern. Auch Fetozide zwecks „Mehrlingsreduktion“ mache er nicht. Und: „Je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten, desto höher die Messlatte.“
Auch wenn Anke Scholl bei den Gesprächen dabei ist und ihre Einschätzung gibt: Die Entscheidung trifft Schild am Ende selbst. „Ich traue mir das zu, sonst würde ich es nicht machen“, sagt er. Wie groß die Verantwortung ist, die der Gesetzgeber Mediziner:innen wie ihm auferlegt hat, zeigt ein Satz, den der 60-Jährige etwas später äußert: „Die Sorge ist, dass Enttäuschte Suizid begehen.“
An vielen Kliniken gibt es Ethikkomitees, die über Spätabtreibungen entscheiden. Sie treten in der Regel ad hoc zusammen, ohne Geschäftsordnung oder gewählte Mitglieder. Je nach Haltung der Teilnehmer:innen erleben die Frauen das als Gespräch oder als Verhör. Im Henriettenstift sind sie meistens zu dritt, anderswo sitzen bis zu 15 Leute beisammen. Ralf Schild hat das an anderen Häusern erlebt. „Wie ein Tribunal“ sei ihm das vorgekommen.
Sinn und Unsinn von Ethikkomitees
Der Leiter der Geburtshilfe am Leipziger Uniklinikum, Holger Stepan, lehnt Ethikkomitees ab. „Die helfen nicht den Betroffenen, sondern den Ärzten, die sich hinter der Entscheidung der Gruppe verstecken können“, sagt er am Telefon. Er habe Paare erlebt, die das traumatisiert habe. „Die gehen durch die Hölle, kämpfen mit einer schweren Entscheidung und müssen sich dann vor Personen rechtfertigen, die weder die konkrete noch die künftige Lebenssituation einschätzen können.“
Allerdings müssen sich diejenigen glücklich schätzen, die vor einem solchen Tribunal überhaupt vorsprechen dürfen. Denn nur wenige Kliniken machen Abbrüche nach der 12. Woche, noch weniger nach der 22. Wie viele es sind, weiß niemand.
Die wenigen Kliniken, die es regelhaft und nicht nur im absoluten Ausnahmefall tun, schreiben es nicht auf ihre Internetseiten – obwohl sie es nach Abschaffung des „Werbeverbotsparagrafen“ 219a dürften. Auch Beratungsstellen können selten weiterhelfen, heißt es in einer Studie der Hochschule Merseburg im Auftrag von Pro Familia. Von 46 Kliniken, die im vergangenen Jahr an deren Befragung zu Spätabbrüchen teilgenommen hatten, waren nur zehn einverstanden, wenn ihre Kontaktdaten an Betroffene weitergegeben werden.
„Alles unklar bis zum Abwinken“
Eine Klinik für einen späten Abbruch zu finden, war noch nie leicht, sagt Renate Rosenberg, eine Gynäkologin, die seit 1996 eine Praxis für Pränataldiagnostik in Münster hat. Spezialisierte Ärzt:innen wie sie sind häufig diejenigen, die für ihre Patient:innen eine Klinik suchen, wenn sie per Ultraschall eine Fehlbildung entdeckt haben. „Es ist alles unklar bis zum Abwinken“, sagt sie am Telefon, „es hat etwas mit persönlichen Kontakten und Gefälligkeiten zu tun, und das in Situationen, in denen Menschen schwer in Not sind.“
Renate Rosenberg ist Vizechefin ihres Fachverbands in der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin. Vor einem Jahr hat sie die Mitglieder darum gebeten, ihre Erfahrungen mit Spätabtreibungen zu schildern. „Es war entsetzlich, was die Kolleg:innen berichteten“, sagt sie. In vielen Regionen werde es immer schwerer, Kliniken zu finden, in Süddeutschland ganz besonders.
Rosenberg erfuhr von ihren Kolleg:innen, dass sie immer häufiger in ihren Praxen den Fetozid, die Tötung des Fötus, vornehmen, weil die Kliniken das verweigern. Manche nehmen die Patientinnen dann zur Geburt an. Ein Beispiel ist die Uniklinik Essen, die bestätigt, es gebe ein entsprechendes Arrangement mit einer Praxis. Zur Begründung sagt ein Sprecher der Klinik: „Man muss nicht alles machen, was man machen kann.“
Besonders erschüttert haben Rosenberg Berichte aus Süddeutschland, wo Frauen mit totem Kind im Bauch von mehreren Kliniken abgewiesen wurden. Das ist nicht nur psychisch eine extreme Belastung, sondern auch potenziell lebensgefährlich. Wenn Lebensgefahr besteht, dürfen Ärzt:innen ihre Teilnahme am Schwangerschaftsabbruch nicht verweigern, so steht es im Gesetz.
Das große Schweigen um die Zahlen
Um herauszubekommen, auf welche Kliniken sich das Gros der Spätabtreibungen verteilt, habe ich alle 33 Unikliniken mit eigener geburtshilflicher Abteilung angeschrieben. Sie sind als Häuser der Maximalversorgung so ausgestattet, dass sie Schwangerschaften bis kurz vor der Geburt abbrechen können. Geantwortet haben 30, davon macht eine Klinik gar keine Abbrüche, eine sagt, nur bis zur 12., zwei weitere bis zur 22. Woche. Viele sagen, es handle sich um seltene Einzelfälle, bei anderen lässt sich dies aus den jährlichen Qualitätsberichten ablesen.
Beantworten kann ich meine Ausgangsfrage nicht, da 13 Kliniken keine Zahlen herausgeben – darunter die, von denen bekannt ist, dass dort überdurchschnittlich viele Spätabbrüche stattfinden. Wenn sie es begründen, dann mit der Angst vor Angriffen durch Fundamentalist:innen sowie der Sorge vor „Abtreibungstourismus“. Einige Antwort-Mails beginnen mit dem Hinweis, es handle sich um ein „sensibles Thema“, zu dem man „zum Schutz der Patientinnen“ nichts sagen wolle. Diejenigen, die Zahlen nennen, befürchten, die Einzigen zu sein, die im Artikel vorkommen. Ein Chefarzt bittet darum, darüber nicht zu schreiben, um keine Diskussion anzufachen, die eine Verschlechterung der Situation bewirkt.
In diesem Gemenge von Intransparenz und Geheimniskrämerei sitzen die Pastorin Anke Scholl und der Pränataldiagnostiker Ralf Schild in dessen geräumigen Chefarztzimmer im Erdgeschoss des Henriettenstifts in Hannover. Sie erklären das Verfahren, wenn sie eine Anfrage auf einen späten Schwangerschaftsabbruch bekommen. Vom ersten Anruf bis zur Entlassung aus der Klinik – sollte es zum Abbruch kommen.
Dass es ein solches Verfahren gibt, mit klaren Handlungsschritten sowie eine Mitarbeiterin wie Anke Scholl, die eine Frau oder ein Paar von Anfang bis Ende begleitet, ist keine Selbstverständlichkeit. In anderen Kliniken müssten die Mitarbeiter:innen oft erst einmal die Zuständigkeiten klären, sagt Ulf Gronau, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in Hannover. Er und seine Kolleg:innen helfen in Einzelfällen Schwangeren, die nach den ersten drei Monaten eine Abtreibung benötigen. Auch das Henriettenstift entscheide nicht immer so, wie die Frauen es sich wünschen, sagt Ulf Gronau. „Aber die Tür ist erst einmal offen.“
Auch mir als taz-Redakteurin wurde ein Gespräch angeboten, bevor ich danach gefragt hatte. Nur die Zahlen, die wollte auch der Pressesprecher des Klinikträgers Diakovere zunächst nicht verraten. Schwangerschaftsabbrüche sind die einzige medizinische Leistung, mit der man sich angreifbar macht. Auch im eigenen Haus, erst recht in einem evangelischen. Als mit Ralf Schilds Einstellung in Hannover vor 14 Jahren die Abtreibungszahlen stiegen, beschwerten sich Mitarbeiter:innen bei Lokalzeitungen. Diskutiert würde immer noch gelegentlich, aber die frühere theologische Geschäftsführung habe die Einstellung vertreten, dass christliche Nächstenliebe bedeutet, allen Menschen in Not zumindest ein Gesprächsangebot zu machen, sagt Ralf Schild.
Am Ende des dreistündigen Besuchs schreibt er die Zahlen auf einen kleinen Zettel und schiebt ihn über den Konferenztisch. 29 Abbrüche, davon 10 Fetozide, gab es danach im ersten Halbjahr dieses Jahres. Zum Vergleich: An der medizinischen Hochschule Hannover – einer Uniklinik – waren es gerade einmal sieben. Und in ganz Niedersachsen gab es in diesem Zeitraum 67 Abbrüche nach der 12. Woche, davon 9 nach der 22. Woche, die in der Regel mit Fetozid einhergehen. Das Henriettenstift trägt damit die Hauptlast in dem Bundesland.
Problematische Verteilung
Dabei selektiert die Klinik relativ stark und nimmt keine Patientinnen aus anderen Bundesländern. Andere Krankenhäuser machen zwei bis drei Mal so viele Abbrüche und sagen das auch öffentlich. Bei denen, die ihre Zahlen geheim halten, sind es teils noch mehr. Mit allen Belastungen auch für die Mitarbeiter:innen. „Es bringt alle Beteiligten in Grenzsituationen“, sagt Anke Scholl.
Holger Stepan, Arzt
Die Last könnte anders verteilt werden: Es gibt in Deutschland 211 Geburtskliniken, die als Perinatalzentren der Level I und II klassifiziert sind, in denen Kinderärzt:innen und OP-Teams bereitstehen. Dazu gehören die Unikliniken. Wenn sie alle späte Schwangerschaftsabbrüche durchführen würden, wären es pro Haus gerade einmal 14 im vergangenen Jahr gewesen. Fetozide gäbe es nur drei bis vier im Jahr. Statt 60 wie etwa am Universitätsklinikum Leipzig.
Dessen Leiter der Geburtsmedizin, Holger Stepan, ist der Arzt in Deutschland, der am offensivsten mit dem Thema umgeht. Er hat vor einem Jahr eine wissenschaftliche Publikation zu Fetoziden in seiner Klinik veröffentlicht. Es geht ihm nicht nur um Transparenz, sondern auch um professionelles medizinisches Handeln. Das Thema ist kein Gegenstand von Fachtagungen, und die medizinische Leitlinie, die die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gerade entwickelt, behandelt nur den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche.
Seine Klinik versorge weitgehend die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, erzählt er am Telefon, „das schaffen wir gut, aber mehr geht nicht, wir wollen keine Abtreibungsklinik sein“. Jede Woche habe er Anfragen aus anderen Bundesländern, vor allem aus Bayern und Baden-Württemberg, sagt Stepan. „Die Kollegen ducken sich weg.“
Dass nicht jedes Kreiskrankenhaus das mache, sei richtig, weil es auch Expertise brauche, aber Häuser der Maximalversorgung wie die Unikliniken müssten sich auch der „dark side of the moon“ in der Pränatalmedizin stellen, wie er es nennt. Es ärgert ihn, wenn die großen Kliniken Pränataldiagnostik auf höchstem Niveau anbieten, aber keine oder kaum Abbrüche machen. „Das geht nicht.“
Dasselbe sagt Ralf Schild in Hannover. Er macht Pränataldiagnostik auf diesem Niveau, Degum Stufe III heißt das. Wer so klassifiziert ist, soll Fehlbildungen am Ultraschall am besten einschätzen können. Die Diagnostik kann in manchen Fällen Leben retten oder zumindest Leiden lindern, wenn noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt das Neugeborene so operiert werden kann, dass seine Überlebenschancen steigen, die Lebensqualität verbessert wird. Doch allzu oft gibt es nach pathologischen Befunden keine Heilungsmöglichkeit, nur das Aushalten dessen, was ist.
Aber was macht er, wenn eine Frau oder ein Paar sagt, „das schaffen wir nicht“? Schild ist zu dem Schluss gekommen, dass er Verantwortung übernehmen muss. „Man darf nicht dort aufhören, wo es wehtut“, sagt er. Menschen in solchen Notsituationen sollten nicht herumfahren müssen, sondern bräuchten eine gute heimatnahe Versorgung für die Zeit des Abbruchs und danach. Denn: „Sie verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“
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