Britische Ärztin über Abtreibungen: „Vertrauen wir den Frauen?“

Caroline Scherf ist Abtreibungsärztin in Großbritannien. Ein Gespräch über Papierberge, Telemedizin und den deutschen Paragrafen 218.

Eine Frau mit roter Jackel im Wald

„Der Gesetzgeber sieht offenbar die Aufgabe von Frauen darin, zu gebären“, sagt Caroline Scharf Foto: Kerstin Rolfes

taz: Frau Scherf, in Großbritannien können Frauen seit einem Jahr eine Schwangerschaft zu Hause medikamentös abbrechen, mit telemedizinischer Begleitung. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Caroline Scherf: Sehr gut. Wir wussten vorher aus internationalen Studien, dass es aus medizinischer Sicht keine Bedenken gibt. Überrascht hat uns, dass wir über Videotelefonie ganz anders mit den Frauen reden können, sie sprechen freier. So können wir im Vorfeld auch besser verstehen, wie es ihnen geht, was sie brauchen und wollen, ob sie sich in ihrer Entscheidung vom Partner oder von Freunden unterstützt fühlen.

Woran liegt das?

Es macht einen Unterschied in der Atmosphäre, ob die Frauen in ihren Wohnzimmern in vertrauter Umgebung sitzen oder in der Klinik, die sie eher verunsichert und klein fühlen lässt. Die meisten waren sehr erleichtert, zu hören, dass sie nicht in die Klinik kommen müssen. Viele sind ja alleinerziehend oder wohnen außerhalb, ohne Transportmöglichkeiten.

59, ist Gynäkologin und lebt seit 1989 in Großbritannien. Seit 2004 arbeitet sie als Consultant in Sexual & Reproductive Health an der Universitäts­klinik in Cardiff. Ihr Vater ist der ehemalige Bremer Regierungschef Henning Scherf.

Das heißt, Sie untersuchen die Frauen gar nicht?

Die meisten nicht, nein. Als Ärztin sehe ich oft nur die Akte. Es braucht zwar am Ende die Unterschriften von zwei Mediziner*innen. Aber in vielen Fällen führt eine Hebamme oder Krankenschwester das Anamnesegespäch, und der Arzt oder die Ärztin stellen weitere Fragen, wenn es klinisch notwendig scheint oder Unklarheiten ausgeräumt werden müssen.

In Deutschland geht nichts ohne Ärztin.

Das hat auch strukturelle Gründe. Der staatliche NHS, der National Health Service, ist wegen ständiger Unterfinanzierung sehr interessiert daran, überflüssige Untersuchungen oder Gespräche zu vermeiden. Und es gibt in Großbritannien nicht so viele Ärz­t*in­nen pro Kopf wie in Deutschland, dafür aber sehr gut ausgebildete andere medizinische Berufe. Die können und dürfen viel mehr machen als in Deutschland.

Rechtslage Auch in Großbritannien fallen Schwangerschaftsabbrüche unter das Strafgesetz, sind aber seit 1967 bis zur 24. Schwangerschaftswoche möglich. Zwei Ärz­t*in­nen müssen dafür eine Indikation ausstellen, in der Praxis wird dies nicht verweigert. In Deutschland muss sich eine Frau bis zur 14. Schwangerschaftswoche beraten lassen und eine dreitägige Bedenkfrist einhalten.

Telemedizin Aufgrund der Pandemie ist es in Großbritan­nien seit einem Jahr möglich, bis zur 10. Woche eine Schwangerschaft zu Hause mit telemedizinischer Begleitung abbrechen zu lassen. Dafür bekommt die Frau ein Medikament, das eine Fehlgeburt auslöst, und eins, das Wehen auslöst, mit nach Hause sowie gegebenenfalls Schmerzmittel. In Deutschland muss sie in der Regel beide Medikamente unter ärztlicher Aufsicht einnehmen. Einzig das Familienplanungszentrum Balance in Berlin bietet seit Januar den telemedizinisch begleiteten medikamentösen Abbruch an – weil es in Deutschland Regionen gibt, in denen die Frauen sonst bis zu 200 Kilometer für eine legale sichere Abtreibung reisen müssten. In Deutschland ist die Frist bei 9 Wochen gesetzt, in Schottland bei 12.

Abbrüche 2019 wurden in England und Wales 73 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche medikamentös durchgeführt, 2020 in Deutschland traf dies auf 29 Prozent aller Abbrüche zu. Am häufigsten wurde diese Methode in Berlin mit 45 Prozent angewendet.

Aber wie können Sie sicher sein, dass sich die Frauen wirklich in einem Frühstadium der Schwangerschaft befinden?

Wir wissen aus vielen Studien, dass Frauen sich bei der Berechnung der Schwangerschaftswochen nicht irren. Darum geht es doch: Vertrauen wir den Frauen – oder nicht? Eine Frau, die sagt, „keine Ahnung, in welcher Woche ich bin“, die müssen wir natürlich sehen. Und wir sprechen ja mit ihr, um herauszukriegen, wie sicher sie sich ist, und ob der medikamentöse Abbruch das richtige für sie ist.

Was passiert, wenn sie sich doch um mehrere Wochen verrechnet hat?

Dann hat sie trotzdem eine Fehlgeburt – oder es passiert nichts und die Schwangerschaft wird chirurgisch abgebrochen.

Sie arbeiten seit Ende Januar für ein halbes Jahr als Ärztin bei Pro Familia in Bremen. Was ist der Unterschied zu Ihrer Arbeit in Cardiff?

Ich arbeite auch hier mit einem unglaublich netten und kompetenten Team. Es kommt rüber, wie wichtig den Mit­ar­bei­te­r*in­nen die Frauen sind, und ich glaube, das spüren diese auch. Gewöhnungsbedürftig war der Riesenberg von Papier, mit dem wir uns hier rumschlagen, bevor eine Behandlung anfangen kann. Und diese Pflichtberatung – das kannte ich ja bisher nicht. Bei uns beraten die behandelnden Ärzte und Krankenschwestern, wie bei anderen medizinischen Eingriffen auch.

Wie finden Sie die Beratung?

Für mich ist das ganz klar eine Barriere, die der deutsche Staat den Frauen in den Weg gelegt hat. Der Gesetzgeber sieht offenbar die Aufgabe von Frauen darin, zu gebären – und fürchtet, dass sie das nicht machen, wenn man nicht aufpasst. Derartige Barrieren helfen Frauen mit einer ungewollten Schwangerschaft nicht, sondern tragen dazu bei, noch mehr Schuldgefühle hervorzurufen. Dabei finden die Frauen diese Situation sowieso schon bescheuert. Es ist eine abstruse Vorstellung, dass Frauen einen Schwangerschaftsabbruch gerne oder „einfach so“ machen.

Aber was ist mit den unentschlossenen Frauen? Ist es nicht gut, wenn die sich von einer spezialisierten Stelle beraten lassen können?

Die meisten Frauen wissen gleich, ob sie die Schwangerschaft abbrechen wollen oder nicht und möchten gar keine spezielle Beratung. Es gibt doch auch keine Pflichtberatung für Frauen, die weitere Kinder bekommen, obwohl sie das überfordert. Und die Unentschiedenen suchen sich Rat, meistens im privaten Umfeld, genauso wie in anderen Lebenssituationen. Wer professionellen Rat bevorzugt, findet den, dabei helfen wir ja auch. Und gerade in Deutschland wimmelt es doch nur so von Beratungsmöglichkeiten.

Sie haben mal in einem Interview gesagt, für Sie sei ein Schwangerschaftsabbruch eine Frühkomplikation in der Schwangerschaft.

Das ist meine Erfahrung als Ärztin. Die Frauen, die wir in der Klinik sehen, sind ja die gleichen. Einmal kommt eine Frau, weil sie eine Fehlgeburt hat, einmal bekommt sie bei uns ihr Kind und einmal hat sie eine Abtreibung. Die technischen Fähigkeiten, die wir dafür brauchen, sind letztendlich dieselben.

Sie haben in dem Interview auch gesagt, es seien immer weniger Ärz­t*in­nen bereit, einen Schwangerschaftsabbruch zu begleiten – also unterscheidet sich Großbritannien gar nicht so sehr von Deutschland?

Doch, das war 2017 und seitdem hat sich noch einmal viel getan. Und ich habe mich damit vor allem auf die Abbrüche nach der 14. Woche bezogen, die auch bei uns kompliziert und oft mit weiten Reisewegen verbunden sind.

Der große Unterschied zu Deutschland ist, dass wir als Abortion Care Providers, also als Fachkräfte, die Frauen im Fall eines Schwangerschaftsabbruchs versorgen, die Rückendeckung der Fachgesellschaften, Berufsverbände und Universitäten haben. Die unterstützen auch alle die Bewegung zur Dekriminalisierung.

In Deutschland stehen diese geschlossen hinter dem Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs, der Schwangerschaftsabbrüche als Straftat brandmarkt.

Das macht einen Riesenunterschied. Dadurch, dass sich die Fachgesellschaft, das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists, seit 2015 aktiv hinter das Abtreibungsthema geklemmt hat, sind wir nicht mehr in der Schmuddel­ecke. Als ich 2004 in Cardiff angefangen habe, fühlte sich das noch so an wie ein Hässliches-Entlein-Dasein. Niemand wollte etwas damit zu tun haben, niemand kannte sich aus. Ich musste mir das Wissen über den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch aus anderen Ländern beschaffen.

Was geschah dann?

Zum Glück schlossen sich damals Ärz­t*in­nen und Krankenschwestern mit An­wäl­t*in­nen und Cam­pai­gne­r*in­nen zusammen. Die haben das Thema bis in die Gremien gebracht, in denen Entscheidungen getroffen wurden. Seitdem hat sich die Versorgung deutlich gebessert, nicht nur bei Abtreibungen, auch bezogen auf andere Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

Deutschland scheint gerade an einem ähnlichen Punkt zu sein, wenn sich die Verbände auch nur politisch und nicht medizinisch damit beschäftigen.

Ich schlage vor, dass Sie sich in Deutschland mal die britische Leitlinie für Schwangerschaftsabbrüche angucken. Darin geht es ausschließlich um die beste Gesundheitsversorgung für Frauen.

Gab es in Großbritannien Widerstand gegen die Umstellung auf Telemedizin?

Nein. Es war wegen der Pandemie notwendig, um unnötige Kontakte zu vermeiden. Und jetzt wird diskutiert, ob es auch danach weitergehen darf.

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