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Verfassungsreferendum in ChileAus alt mach alt

Kommentar von Georg Diez

Beim Volksentscheid in Chile blieb die Veränderung dem Altbekannten unterlegen. Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs angeschoben.

Eine Gegnerin der Verfassungsreform in Chile feiert am 4. September in Santiago Foto: Pablo Sanhueza/reuters

P olitik braucht Imagination, Vorstellungskraft, Veränderungswillen – sonst gleitet sie ab in die Verwaltung des Status quo, was dann fast automatisch dazu führt, dass sie Interessen vertritt und nicht Prinzipien. Und es ist jetzt schon ein großer Erfolg des chilenischen Verfassungsprozesses, auch wenn der so vielversprechende Neuentwurf gerade in einem Referendum abgelehnt wurde, dass diese Imagination befreit wurde aus der Enge des Denkens der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.

Bild: Frank May
Georg Diez

ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.

Wir leben, das wird in diesen Tagen wieder klar, wo Liz Truss laut New Statesman die rechteste britische Premierministerin mindestens seit Margaret Thatcher sein wird, wir leben am Ende des neoliberalen Zeitalters. Was nicht heißt, dass der Neoliberalismus am Ende ist; es heißt vor allem, dass die Verfassung der Welt, so wie der Neoliberalismus sie geschaffen hat, zu Verheerungen in den Menschen und in der Natur geführt hat, deren Folgen immer deutlicher werden – das Ende der Welt scheint da leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus.

Und das Verwirrende dieser Situation ist, dass Dringlichkeit und Notwendigkeit der Veränderung immer deutlicher werden, die Folgen des Raubbaus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte für Klima, Natur, Gerechtigkeit – dass die Kraft und der Mut aber oft genau denen zu fehlen scheint, die unter der Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Regimes am meisten leiden. Die Abstimmung in Chile hat gezeigt, woran das liegen könnte.

Sie hat auch gezeigt, dass es eine neue, andere, offene Linke gibt, die es versteht, die verschiedenen Themen zusammenzuführen und neue politische Lebensentwürfe zu entwickeln, umfassend und menschenfreundlich. Es war, wie so oft, ein Kampf des Alten gegen das Neue. Der neue Verfassungsentwurf markierte die Grenze zur Vergangenheit, eine Vergangenheit unterstützt durch mächtige Interessen:

Mediale Kampagne im In- und Ausland

Chiles derzeitige Verfassung ist ein Produkt der Diktatur von General Pinochet, 1980 erdacht, um der Privatisierung und dem radikalen Staatsabbau den Weg zu bereiten – das Land wurde zum neoliberalen Labor erklärt, unterstützt von US-Ökonomen, die kein Problem damit hatten, Grundrechte wie Bildung, Gesundheit, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu kommerzialisieren.

Wie mächtig diese Strukturen der Vergangenheit sind und bleiben, zeigte sich etwa in der medialen Kampagne gegen die neue Verfassung: In Chile selbst, wo der politische Diskurs massiv verengt ist, aber auch in internationalen Medien, die mit grenzüberschreitender Parteilichkeit – man könnte es auch Aktivismus oder Lobbyismus nennen – das Alte gegenüber dem Neuen favorisierten.

The Economist etwa, lange Leitmedium einer Umverteilung von unten nach oben, brachte Schreckenstexte mit Krawallbildern. Und die Washington Post, im Besitz des Internet-Milliardärs Jeff Bezos, warnte davor, dass Chile seine reichhaltige Lithiumproduktion durch die neue Verfassung anders, womöglich gerechter oder weniger umweltschädlich, gestalten könnte; Lithium treibt die Internet-Ökonomie an.

Während also die Kräfte der Vergangenheit und des Status quo mächtig und gut organisiert waren, war auch der Kampf um die Zukunft nicht leicht, bleibt nicht leicht – auch das ist eine Lektion dieses Verfassungsprozesses, der schon deshalb inspirierend war, weil er eben über lange Zeit ein gesellschaftliches Großgespräch ermöglichte, wie die Wunden der Vergangenheit, koloniale Ausbeutung von Mensch und Natur, Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, Frauenfeindlichkeit, mit den Möglichkeiten und Erfordernissen des 21. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden könnten.

Von Lateinamerika lernen

Der Verfassungsentwurf bleibt exemplarisch, weil er eine Ordnung nach dem Nationalstaat entwirft, einen plurinationalen Staat, in dem die souveränen Rechte der indigenen Bevölkerung anerkannt werden. Wobei der Gedanke eines sehr viel weiter gefassten politischen Rahmens eben auch für Nationalstaaten in Europa oder anderswo eine Inspiration sein sollte – der demokratische Diskurs ist in vielen Ländern so veränderungsscheu heruntergefahren, die politische Imagination des sogenannten Westens könnte so viel von Chile, aber auch Kolumbien und anderen lateinamerikanischen Ländern lernen, es ist ein Jammer, dass eine direktere Kraftübertragung ausbleibt.

Denn dann würden vielleicht viele verstehen, was eine Verfassung im 21. Jahrhundert sein kann – ein Dokument, das eine ethische Dimension hat, umfassend und holistisch gedeutet, über die Rechtefrage hinaus. Der Verfassungsentwurf in Chile etwa sah die Philosophie des „Buen Vivir“, des guten Lebens als zentral an für die Menschen und ihre Ordnung, für das Verhältnis zur Natur auch, mit der die Menschen in einem „harmonischen Gleichgewicht“ leben sollten: Chile als ökologischer Staat war gleich in Artikel 1 der abgelehnten Verfassung klar benannt.

Der chilenische Verfassungsentwurf ist damit über sein Scheitern hinaus exemplarisch, als Lebensentwurf, wie ein gutes Leben im 21. Jahrhundert gelingen kann, und als Gegenentwurf zur Schicksalsergebenheit in die Unveränderbarkeit der Dinge. Er ist ein emphatischer Text, der davon handelt, was Menschen gemeinsam bewegen können – und es ist die neue Generation, zu der auch der chilenische Präsident Gabriel Boric gehört, die, womöglich in radikalem Bruch mit der älteren Generation, diese neue Zeit gestalten wird und muss.

Chiles Verfassungsprozess war damit nur ein Zwischenstadium, eine Phase im globalen Kampf für eine andere, gerechtere Ordnung. Das US-Magazin Time, um hier auch etwas Positives zu sagen, hat das erkannt und Boric aufs Titelbild gebracht. „Die neue Garde“ ist die Zeile, Boric schaut ernst und entschlossen, die Apple-Watch an einem Arm, ein großes Tattoo am anderen Arm. Die neue Zeit hat längst begonnen.

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11 Kommentare

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  • Die Verfassung war ein schlechter Schwerz. Zum Glück haben sich die Parteien der linken Mitte gegen den Verfassungsentwurf entschieden....und ihre Wähler auch mobilisieren können gegen die Verfassung zu stimmen.

    Das war der Ausschlag...schlechte Verfassung - nur ideologisch geprägt - utopisch progressiv und als Rechtsgrundlage für sozialen Frieden, Freiheit, Stabilität und Sicherheit - für das Land absolut unbrauchbar.

  • Der Artikel bestätigt genau das, was ein anderer Kommentar aus Chile zitierte: "Das war eine Niederlage der Überheblichkeit und Arroganz, die Hälfte des Landes wurde ignoriert und nicht mit einbezogen."

    Es gibt eben viele Menschen, die wollen den Staat nicht als moralische Instanz sehen, als Übervater, der ihnen den Weg zur Tugend und Gerechtigkeit weist. Sie wolle mehr individuelle Freiheit und weniger Eingriffe als mit Zielen vereinbar ist, wie dieser Verfassungsentwurf sie vorsah. Ein "gutes Leben" ist eben für viele ein Leben, wo ihnen nicht ständig der Staat über die Schulter schaut, ob sie sich auch anständig genug verhalten.

  • Danke für dieses Hoffnung machende Statement. Ich hoffe sehr, dass es Recht behalten wird. Momentan sind viele Menschen in Chile, die sich für die Verfassung engagiert haben, sehr frustriert und haben nicht wenig Lust, alles hinzuschmeißen. Schließlich ging es vor allem um Rechte für marginalisierte Gruppen - Arme,Indigene, Menschen in verseuchten Gebieten. Genau diese haben aber gegen diese Verfassung gestimmt. Nun werden sie bestenfalls eine von Expert*innen erarbeitete Verfassung bekommen, welche vom Parlament beschlossen werden wird. Tschüss Bürger*innenbeteiligung! Die Reformprozesse werden so viel länger dauern und mit mehr Widerstand von Rechts verbunden sein. Und das Klima lässt uns nicht wirklich Zeit...

  • Ein Verfassungsentwurf der mit fast zwei Drittel (bei 85% Wahlbeteiligung) abgelehnt wurde ist vor allem eines: Eine verpasste Chance und ein schlechtes Beispiel dafür wie man es nicht macht.

    Die Verfasser haben offensichtlich vergessen, den Rest der Bevölkerung zu fragen und einfach versucht ihr Wahlprogramm als Verfassung zu verkaufen.

    Und die Umfassende Ablehnung dann auch noch auf die Medien zu schieben, ist ja wohl eine Frechheit.

    IMHO haben die Verfasser dieses Entwurfs eine historische Gelegenheit für Chile aus Eigensinn und Ignoranz in den Sand gesetzt. Echt traurig...

    • @Generator:

      Wie die Neoliberale Elite (mit viel viel Geld) gegen die neue Verfassung gekämpft haben, kann unmöglich außeracht gelassen werden bei der Erklärung dieses Wahlergebnisses - das wäre die Augen vor einer sehr bitteren Realität zu schließen. Das darf nicht schön geredet werden. Mit Ihren Worten: "ist ja wohl eine Frechheit" Das muss aufhören.

      • @Nilsson Samuelsson:

        60 Prozent Ablehnung kann man nicht mit einer Kampagne erklären, wenn sich zugleich 80 Prozent eine neue Verfassung gewünscht haben. Da steckt deutlich mehr dahinter, offenbar fühlten sich sehr viele Menschen von dieser Verfassung nicht angesprochen, viele andere lehnten sie natürlich auch ab.

  • Ja, das mit dem "guten Leben für alle", das in einer Verfassung verankert wird, das verstehe ich schon. Leider versteht fast jeder etwas anderes darunter.



    So wie ich das in diversen Artikeln in unterschiedlichen Medien wahrgenommen hatte zuletzt, war genau diese wachsweiche und blumige Herangehensweise auch eine Ursache den Verfassungsentwurf zu diskreditieren.



    Wie so oft benötigen wir alle (leider) klare Ansagen. Enger gefasst, stringenter formuliert. Den Ewiggestrigen ist sonst nicht beizukommen.

  • Danke für diesen Beitrag!!!



    Das ist TAZ so wie ich sie mag und bewundere!!!



    Weiter so!

    • @Nilsson Samuelsson:

      Dem schliesse ich mich an!

  • "Der Prozess hat allerdings einen demokratischen Diskurs angeschoben."

    Der ist auch bitter notwendig!

    80% der chilenischen Bevölkerung haben sich für die Erstellung einer neuen Verfassung ausgesprochen.

    In der Verfassungsgebenden Versammlung hatten Konservative und Rechte aber keine Vertretung. Linke und Progressive konnten sich dort entsprechend austoben auch mit dem Bestreben ihre Positionen in der Verfassung zu verewigen, falls die Mehrheiten mal anders ausfallen.

    Für Linke wie Rechte sind solche Möglichkeiten natürlich ein Traum.



    Das Aufwachen in der Realität war daher wichtig. Ein solch grundlegendes Dokument bedarf einer breiteren Mitbestimmung, vulgo auch Akzeptanz genannt..Nur dann kann es auch Bestand haben

    Das Pfund der 80% Zustimmung wurde unverantwortlich verschleudert.

    • @Rudolf Fissner:

      Volle Zustimmung. Es ist unglaublich mit wieviel Arroganz und Ignoranz man hier am Werk war.

      Eine historische Chance verspielt weil man nicht in der Lage war auch Andersdenkende einzubeziehen.