Debatte um Hamburger Bildungspläne: Senator von der alten Schule

In Hamburg hadern die Grünen mit dem SPD-Bildungssenator Ties Rabe. Er verordne zu viel Lernstoff und gefährde die moderne Kompetenzorientierung.

Ties Rabe spricht im Rathaus während einer Pressekonferenz im Hamburger Rathaus.

Will mehr Leistung durch mehr Klausuren und mehr Stoff: Schulsenator Ties Rabe, hier im Jahr 2018 Foto: dpa / Daniel Bockwoldt

HAMBURG taz | Ties Rabe ist als Schulsenator einer von Grünen mitgeführten Regierung keine Traumbesetzung. Der SPD-Politiker ist Gymnasiallehrer und gilt nicht als Fan der modernen Lernkultur, die seiner grünen Vorgängerin Christa Goetsch doch ein Herzensanliegen war. Ihre Handschrift tragen die Bildungspläne – aber die will Rabe nun ändern. Die Grünen hadern damit.

Die gültigen Pläne setzen auf „Kompetenzorientierung“, was im Groben heißt: Statt alle Fakten auswendig zu lernen, sollen Schüler lernen, sich in der Wissensgesellschaft zurechtzufinden. Rabe sprach, als er im Frühjahr seine Pläne vorstellte, davon, dass diese zu „stark entstofflicht“ wären und man hier eine „neue Ballance“ brauche. Die neuen Pläne, die 2023 in Kraft treten sollen, umfassen nicht nur viel mehr Seiten, sie schreiben in „Kerncurricula“ auch detaillierter vor, welche Inhalte die Kinder lernen sollen. Die Schü­le­r:in­nen­kam­mer, die das kritisiert, rechnete vor, dass zum Beispiel in Geschichte in der Oberstufe jede Doppelstunde ein neues Thema drankommen müsste, um den Umfang zu schaffen.

Zugleich will Rabe die Leistungsbewertung verschärfen. So soll das Mündliche künftig nur noch 50 Prozent, und das Schriftliche, also die Klausuren, auch 50 Prozent der Note betragen. Zudem soll es eine „stärkere Konzentration“ auf Klausuren geben, indem Ersatzleistungen verboten werden. Rabe begründet das damit, dass Hamburgs Schüler im Schriftlichen besser werden müssten. Außerdem habe man neuste Erkenntnisse und Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) berücksichtigt. „Wir dürfen uns beim Thema Leistung nicht wegmogeln“, sagte er in einer Bürgerschaftsdebatte.

Nun ist nicht nur die Schulszene in Aufruhr. Von Schulleitern über Eltern- und Schülerkammer bis hin zu Uni-Fachdidaktikern hagelte es Kritik. Auch bei den Grünen gibt es Sorge. Die neuen Pläne zeugten von „rückwärtsgewandten Vorstellungen von Schule und Lernen“, und hätten „fatale Folgen“ für die Schü­le­r und ihre Lernprozesse, heißt es in einem Positionspapier der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung (LAG) vom 31. Mai. Die Fülle des Stoffs nehme Spielraum, etwa für fächerübergreifendes Lernen, und setze Lehrende und Lernende unter „erhöhten Zeitdruck“ – obwohl schon vor Corona jeder zweite Schüler Stresssymptome zeigte.

Leistungsverschärfung steht nicht im Koalitionsvertrag

Dass die „Kerncurricula“ eingeführt werden, war ein Zugeständnis im „Schulfrieden“, den CDU, SPD, FDP und Grüne 2019 erneuerten, und wurde auch 2020 im rot-grünen Koalitionsvertrag fixiert. Doch aus Sicht der Grünen überzieht Rabe. Denn die Änderung der Prüfungskultur sei ein eigenständiges Element und im Koalitionsvertrag „nicht abgestimmt“.

Auch sein Verweis auf die Kultusministerkonferenz scheint nicht schlüssig. So setzen die dort gerade erst für die Klassen 5 bis 10 überarbeiteten Bildungsstandards weiter auf „Kompetenzorientierung“.

„Die Orientierung an Kompetenzen ist die Kernidee der KMK Bildungsstandards“, sagt Cornelia von Ilsemann. Die frühere Hamburger Oberstufenleiterin hat 2012 in der KMK die Steuerungsgruppe für die Entwicklung der Abiturstandards in Deutsch, Mathe, Englisch und zweite Fremdsprache geleitet. „Natürlich werden Kompetenzen an Inhalten erworben, aber diese hat die KMK damals absichtlich nicht festgelegt.“ Zum Beispiel gebe es dort keinen Literaturkanon, wohl aber klare Anforderungen an die Analyse und Interpretation literarischer Texte. Und in der Mathematik sei die Fähigkeit zu mathematischer Modellierung gefragt oder das Verständnis, wie Algorithmen funktionieren.

„Ein Auftrag zu mehr inhaltlicher Festlegung kann aus den KMK Bildungsstandards nicht abgeleitet werden“, sagt von Ilsemann. Nur die Naturwissenschaften hätten hier eine Sonderrolle. „Meine Sorge ist, dass Schü­le­rn Zeit fehlt, Aufgaben vertieft zu verstehen und eigenständig zu bearbeiten, wenn zu viele Inhalte vorgegeben werden.“

Senator signalisiert Kompromissbereitschaft

Von Ilsemann plädiert zudem dafür, auch Klausurersatzleitungen weiter zuzulassen: „Ich stimme Senator Rabe zu, dass hohe Leistung wichtig ist.“ Klausuren könnten diese aber nur begrenzt prüfen. „Es gibt zeitgemäßere und zugleich anspruchsvolle Prüfungsformate, die lernförderlicher sind.“ Qualitätsstandards zu beschreiben und allen Schulen gute Beispiele zur Verfügung zu stellen, könne zukunftsfähige Lernkultur stärken und zu guten Leistungen anspornen. Die KMK arbeite auch gerade an neuen Vereinbarungen zur Oberstufe. „Ich sehe keinen Grund, wieso Hamburg da vorprescht.“

Das Thema Bildungspläne beschäftigte kurz vor Ferienbeginn sogar den Koalitionsausschuss. Im Abendblatt war zu lesen, die „Spitzen“ von SPD und Grünen hätten Ties Rabe den Rücken gestärkt. Der sichte nun Stellungnahmen, um „nötigen Anpassungsbedarf“ zu identifizieren. Sowohl bei Stofffülle als auch bei Leistungsüberprüfung wolle Rabe „mit sich reden lassen“. Ob das der Grünen-Basis reicht?

Gefragt, warum Rabe die Leistungsbewertung verschärft, obwohl dies nicht im Koalitionsvertrag stand, sagt sein Sprecher, das sei nicht relevant: „Bildungsplanung ist Verwaltungshandeln.“

Das sehen die Grünen anders. Schließlich gebe die Politik über den Koalitionsvertrag den Auftrag für dieses Handeln. Die schulpolitische Sprecherin Ivy Müller sorgt sich, dass sich eine „veraltete Lernkultur“ manifestiert und fordert einen Dialog mit den kritischen Verbänden. Die Entwürfe der Bildungspläne erforderten zwar „keinen kompletten Prozessstop, wie zuletzt von einigen gefordert“. Aber sie bräuchten eine „durchaus weitgehende Überarbeitung in allen Bereichen“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.