Umkämpfte Bildungspläne in Hamburg: Widerstand gegen Bulimie-Lernen

Hamburg führt trotz Protesten „Kerncurricula“ ein, erlaubt aber weiter Ersatzleistungen für Klausuren. Ein breites Bildungsbündnis ist unzufrieden.

Zwei Kinder essen am Tisch, auf dem Burger und Torte stehen, über ihnen steht eine Person und fasst an ihre Köpfe

Bald Pflicht in Hamburgs Schulen: Märchen wie „Hänsel und Gretel“, hier inszeniert am Thalia-Theater Foto: Matthias Matthies/dpa

HAMBURG taz | Hamburg streitet seit März um die Frage, welche Lernkultur zeitgemäß ist und wie viel Stoffwissen Schüler pauken müssen. Schulsenator Ties Rabe (SPD) wollte die Sache noch vor Weihnachten beilegen und legte am Montag seine endgültigen „Bildungspläne“ vor. Die sollen im neuen Schuljahr nun so in Kraft treten, weshalb die Elternkammer von Politik „mit der Brechstange“ spricht. Denn eine abschließende Konsultation der im Schulgesetz verankerten Gremien „fand nicht statt“, wie auch die Lehrerkammer kritisierte.

Insgesamt hatte Rabes Behörde 238 Stellungnahmen mit 90 Verbesserungsvorschlägen erhalten. Der Senator versicherte zwar, man habe „die Sorgen der Schulwelt sehr ernst genommen und die Pläne erheblich überarbeitet“. So seien nun „ausgewogene Bildungspläne“ entstanden, die Hamburgs Lernkultur „organisch“ weiterentwickelten.

Die Schü­le­r:in­nen­kam­mer hatte zum Beispiel moniert, der Entwurf vom März schreibe in Geschichte für die Oberstufe so viel Stoff vor, dass in jeder Doppelstunde ein neues Thema drankommen müsste. Vertiefendes Lernen wäre so unmöglich. „Wir haben die Kritik ernst genommen und auch in Geschichte einiges rausgenommen“, versichert Rabes Sprecher Peter Albrecht. Die Inhalte der Fächer seien auf einen „verbindlichen Kern“ reduziert, sodass diese nur die Hälfte der Unterrichtzeit beanspruchten, beteuert die Behörde.

Das Mündliche darf weiter mehr zählen

Als konkretes Beispiel für Stoff-Straffung nannte Rabe die Fächer Deutsch und Sachkunde in der Grundschule. Dort habe man die Pläne gegenüber der März-Version um ein Drittel reduziert. Die Kinder müssten weniger Texte schreiben, in Sachkunde seien nun Themen wie „Hafenberufe“ oder „Schiffstypen“ optional. Rabe: „Lehrkräfte können diese Themen aufgreifen, es besteht allerdings kein Zwang mehr.“ Vorgeschrieben sei aber zum Beispiel, dass Kinder zwei Märchen und sechs Gedichte kennenlernen.

Als Hamburg zuletzt vor zwölf Jahren neue Bildungspläne bekam, wurden verbindliche Inhalte zu Gunsten einer „Kompetenzorientierung“ aufgegeben. Nun rudert Hamburg zurück, obwohl die Kultusministerkonferenz weiter auf dieses moderne Konzept setzt.

Kritik hatte Rabe sogar vom Grünen Koalitionspartner dafür geerntet, dass er obendrein eine schärfere Prüfungskultur plante: So sollten die in den Nebenfächern üblichen „Klausurersatzleistungen“ abgeschafft werden. Dagegen hatten Kritiker gehalten, dass Kinder mit eigenen Präsentationen oder Referaten viel nachhaltiger lernen, als wenn sie nur Wissen auswendig lernen, es in schriftlichen Arbeiten ausspucken und danach gleich wieder vergessen – auch Bulimie-Lernen genannt.

Auch sollte nach Rabes Entwürfen künftig nicht mehr möglich sein, dass mündliche Mitarbeit im Unterricht 60 Prozent zählt und damit mehr als die der Klausuren.

Von diesen beiden Vorhaben hat der Senator nun Abstand genommen. Zu den Ersatzleistungen sagte Rabe, aus den vielen Stellungnahmen gehe klar der Wunsch hervor, diese „moderne Prüfungskultur mit anspruchsvollen Leistungen zu verbinden“. Er lade nun „alle Beteiligten zu einem Dialog“ ein, um mit Wissenschaftlern für dieses Format „gute Beispiele aus der Praxis“ und „Qualitätsvorgaben“ zu entwickeln.

Kritiker prüfen in Ruhe eine Volksinitiative

Allerdings fängt dieses Dialog-Angebot wohl nicht auf, was der ganze Prozess an sich schon angerichtet hat. Früher gab es die Schuldeputation in Hamburg, die zum Beispiel die obersten Schüler-, Lehrer und Elterngremien bis zum Ende in so einen Prozess einband. Seit deren Wegfall kann Rabe solche Pläne im Alleingang durchziehen.

„Auch wenn der Senator es immer wieder behauptet – nein! Wir wurden nicht beteiligt“, sagt die Elternkammer-Chefin Alexandra Fragopoulos. „So geht man nicht mit unseren Hamburger Eltern um.“ Auch die Gymnasial-Schulleiter beklagen fehlende Partizipation – und ihre Kollegen von den Stadtteilschulen einen „Prozess vertaner Chancen“.

Die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hamburg Yvonne Heimbüchel lobte zwar die Zugeständnisse, sagte aber zugleich, in der Bildung seien „an manchen Stellen keine Kompromisse zu machen“. Die GEW werde deshalb in Ruhe mit Kammern und Verbänden prüfen, ob Rabes Überarbeitung ausreicht oder ob eine Volksinitiative nötig wird, damit Hamburg zukunftsorientierte Bildungspläne bekommt. Denn im 21. Jahrhundert vergängliches Wissen in den Mittelpunkt des Lernens zu stellen, sei „fahrlässig“ für die Entwicklung der Schüler.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.