Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan: „Ich weiß, dass sie mich suchen“
Vor einem Jahr eroberten die Taliban Afghanistan. Noch immer hat Deutschland nicht alle ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr gerettet.
Sayyid schreibt lieber lange Textnachrichten, als zu telefonieren, denn die Internetverbindung ist schwach, dort, wo er jetzt wohnt: bei Verwandten außerhalb der Stadt. Seit einem knappen Jahr lebt er dort in einem Versteck. Seitdem die Truppen der Nato das Land verlassen haben und die afghanischen Sicherheitskräfte kollabiert sind.
Als die Taliban damals Kabul erreichen, stellt sich ihnen kaum jemand in den Weg. Am Nachmittag des 15. August kämpfen sie sich vor bis in die Innenstadt. Sie erobern den Präsidentenpalast, aus dem nur wenige Stunden zuvor der bisherige Präsident geflohen war. Ihren Sieg senden sie in der Nacht als Videobotschaft ins Internet.
Und während die Welt live zuschaut, wie mit Kabul die letzte Stadt fällt, die noch unter afghanischer Regierung war, lotsen die Regierungen der USA und Europas hektisch ihr verbliebenes Personal und Staatsangehörige aus Afghanistan heraus. Es ist das chaotische Ende eines 20 Jahre langen Krieges. Eine Katastrophe deutscher Außenpolitik. Ein Untersuchungsausschuss soll ab September im Bundestag klären, wie das passieren konnte.
Deutschlands „verdammte Pflicht“
Dass die Taliban Kabul schnell erobern konnten, mag für Politiker und Geheimdienste überraschend gewesen sein. Dass mit dem Vorrücken der Taliban aber eine Gruppe von Menschen ganz besonders gefährdet sein würde, war hingegen lange klar: Afghanen und Afghaninnen, die für deutsche Institutionen gearbeitet haben, als Köche für die Bundeswehr, als Übersetzer für deutsche Soldaten, als Lehrer für afghanische Polizisten, die Deutschland mithalf auszubilden. „Ortskräfte“ heißen sie im Behördendeutsch, für die Amerikaner waren sie „Alliierte“ oder „Freunde“.
Seit feststand, dass die Bundeswehr Afghanistan verlassen wird, hatten Menschenrechtsorganisationen, ehemalige Bundeswehroffiziere, ehemalige Diplomaten und Oppositionspolitikerinnen immer wieder gefordert, dass Ortskräfte schnell und unbürokratisch evakuiert werden müssen. Aber die Große Koalition hat die Rettung der Menschen monatelang verschleppt.
Als Kabul dann gefallen war, musste es ganz schnell gehen. Der damalige Außenminister Heiko Maas, SPD, bezeichnete es als Deutschlands „verdammte Pflicht“, diese Ortskräfte zu retten. Die CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gab das „ganz klare Commitment, dass die rauskommen“.
Über Schulen in Dörfern geschrieben
Viele sind aber bis heute nicht raus – so wie eben Amin Sayyid. Eineinhalb Jahre lang hatte er für die GIZ gearbeitet, die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Im Auftrag der Bundesregierung führt die GIZ im Ausland Entwicklungsprojekte durch. Sayyid war als Journalist beschäftigt, so steht es in seinem Arbeitsvertrag, unterschrieben im August 2017 in Kabul.
Er ist in afghanische Dörfer gefahren und hat über die dortigen Projekte geschrieben – über Schulen oder Brunnen, die Deutschland gebaut hat. Im Internet findet man heute noch Annoncen, mit denen die GIZ Personal für das Projekt gesucht hat, für das Sayyid gearbeitet hat. „Ihre berufliche und persönliche Entwicklung ist uns wichtig“, steht in den Anzeigen. Für Sayyid klingt dieser Satz mittlerweile zynisch.
Von rund 40.000 Ortskräften inklusive Angehörige, sprach die Bundesregierung im letzten August, als die Evakuierungsflüge der Bundeswehr noch liefen. Die Zahl der Personen, die seitdem eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten haben, ist niedriger: Im Mai lag sie bei knapp 23.000, mehr als die Hälfte davon aus dem Bereich Entwicklungshilfe. In Deutschland angekommen sind wiederum – Stand Juli – rund 15.500 Menschen.
Baerbock trieb Evakuierung an
Seitdem auch die letzten westlichen Truppen Ende August 2021 den Flughafen von Kabul verlassen haben, ist es kompliziert geworden, Menschen aus dem Land zu evakuieren. In den letzten Monaten zog das Tempo trotzdem wieder an. Außenministerin Annalena Baerbock hat die Evakuierung vorangetrieben, hat sich mit NGOs getroffen, hat in Pakistan verhandelt, dass Ortskräfte einfacher ein- und nach Deutschland weiterreisen können. Wer schon eine Aufnahmezusage hat, aber noch in Afghanistan festsitzt, kann sich also Hoffnung machen.
Schwieriger sieht es für Menschen aus, die von den deutschen Behörden noch keine Antwort auf ihre Aufnahmeersuchen erhalten haben oder die sogar abgelehnt wurden. Im Koalitionsvertrag hat die Ampelregierung zwar festgeschrieben, dass sie das Ortskräfteverfahren reformieren will, damit gefährdete Menschen „durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen“. Doch diese Reform stockt. Die beteiligten Ministerien machen zum Stand der Gespräche keine Angaben.
Strittig sind im aktuellen Verfahren die Kriterien für eine Aufnahme. Hilfe erhält nur, wer individuell nachweisen kann, wegen seiner Arbeit für die Deutschen gefährdet zu sein. Nur für wenige Wochen war die Regelung im vergangenen Sommer außer Kraft gesetzt: Die Große Koalition ging kurzzeitig davon aus, dass prinzipiell jede Ortskraft in Gefahr ist.
Definition von Ortskraft
Streng sind auch die Kriterien dafür, wer überhaupt als Ortskraft gilt. Berücksichtigt wird nur, wer nach 2013 mit einem festen Arbeitsvertrag bei einer deutschen Institution angestellt war. Viele Afghan*innen haben für Subunternehmen gearbeitet oder waren über Werkverträge beschäftigt. Sie bekommen in der Regel keine Aufnahmezusage. Die Ampel hält an diesen Kriterien fest – auch wenn sie in der Praxis schwer begründbar sind: Für die Taliban dürfte es keine Rolle spielen, ob jemand fest angestellt oder frei für deutsche Soldaten gearbeitet hat.
Amin Sayyid hatte zwar einen festen Arbeitsvertrag nach 2013, doch ist für das Entwicklungsministerium nicht nachvollziehbar, dass er deswegen auch wirklich in Gefahr schwebt. Eine „über die derzeit herrschende allgemeine Lage in Afghanistan hinausgehende Gefährdung“ sei für Sayyid nicht zu erkennen, schreibt das Ministerium seinem Anwalt Anfang Mai. Zusammengefasst bedeutet das: In Afghanistan ist es für alle gefährlich, Ortskräfte sind nicht per se gefährdet. Auf Anfrage will sich ein Sprecher des Entwicklungsministeriums zu dem Fall nicht äußern.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der taz sind mehrere solcher und ähnlich gelagerte Fälle bekannt. Da wäre zum Beispiel ein Mann, der als Übersetzer für die Bundeswehr gearbeitet hat und dafür noch Jahre später von den Taliban bedroht wurde. Einen Anschlag auf ihn aus dem Jahr 2019 kann er durch einen Polizeibericht belegen. Trotzdem wurden seine Aufnahmeersuchen abgelehnt: Seine Tätigkeit für die Deutschen hatte er wegen der Drohungen schon vor 2013 beendet.
Es mangelt auch an Geld
Mit Frau und Kindern ist er mittlerweile in den Iran geflohen. Er hofft jetzt, über einen anderen Weg als das Ortskräfteverfahren nach Deutschland zu kommen: Mithilfe einer deutschen Unterstützerin, die auch Spenden für die Familie sammelt, hat er Zusagen für einen Studienplatz in Hessen. Für ein Studentenvisum müsste er aber finanzielle Reserven nachweisen. 6.000 Euro fehlen.
Ein anderer Mann arbeitete über Jahre für die GIZ als Fahrer, ebenfalls fest angestellt und sogar im richtigen Zeitraum, also nach 2013. Auch er ist nachweislich bedroht, er hat es schwarz auf weiß mit Stempel und Unterschrift: Nach der Machtübernahme haben ihn die Taliban zu einer Befragung über seine Arbeit für die Deutschen vorgeladen. Ohne Angabe von Gründen wurde aber auch er im Ortskräfteverfahren abgelehnt. Wie Amin Sayyid hält er sich weiterhin in Afghanistan versteckt.
Axel Steier, Mission Lifeline
Immerhin beobachten Betroffene und Anwälte, dass in vormals unbearbeitete Fälle seit einigen Wochen Bewegung kommt. Antragssteller*innen, die monatelang nichts von deutschen Behörden gehört haben, werden jetzt aufgefordert, neue Unterlagen einzureichen. Auch bei der Zahl der Zusagen gehe der Trend leicht nach oben.
Betroffene brauchen deutsche Anwält*innen
Allerdings erhielten derzeit auch immer mehr Personen Absagen. Das erzählt zumindest Axel Steier, der mit seinem Verein Mission Lifeline Afghan*innen dabei unterstützt, als Ortskräfte anerkannt zu werden und nach Deutschland zu fliehen. „Das größte Problem ist nicht, dass nicht genug Menschen aus Afghanistan evakuiert werden. Das Problem ist, dass viele Menschen gar nicht erst als Ortskräfte anerkannt werden“, sagt Steier.
Ohne einen deutschen Anwalt hätten viele Afghan*innen mittlerweile kaum noch eine Chance, überhaupt anerkannt zu werden. Aber wer kann sich schon einen Anwalt in Deutschland leisten? Wer hat das Geld, das Wissen und die Sprachkenntnisse, um einen Anwalt zu finden?
Deswegen springt in vielen Fällen die Zivilgesellschaft ein: NGOs, wie Steiers Mission Lifeline, die Luftbrücke Kabul, das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, oder Privatpersonen. Sie führen Datenbanken, sammeln Spenden, organisieren Unterkünfte und Transporte aus Afghanistan raus. Viele dieser Freiwilligen sind erschöpft nach einem Jahr ehrenamtlicher Rettungsarbeiten.
Deutschland schuldet vielen noch eine Rettung
Unklar ist, wie viele Betroffene noch auf eine Antwort auf ihre Aufnahmeersuchen warten oder abgelehnt wurden. Das Entwicklungsministerium spricht für seinen Bereich von 400 Fällen in Prüfung. Ressortübergreifend macht die Bundesregierung keine Angaben. Gemessen an den Zahlen vom letzten Sommer müsste es in Summe um Tausende Menschen gehen.
Axel Steier schätzt sogar, dass rund 35.000 Menschen bisher nicht als Ortskraft anerkannt worden sind, obwohl sie für deutsche Institutionen gearbeitet haben. „Wenn die Bundesregierung sich damit schmückt, dass sie mittlerweile fast alle Ortskräfte nach Deutschland geholt hat, blendet sie aus, wie vielen Menschen sie eigentlich die Rettung schuldet.“ Um diesen Menschen eine Perspektive zu geben, brauche es dringend eine Reform des Ortskräfteverfahrens, sagt Steier.
Wie die Reform aussehen könnte, das haben verschiedene NGOs zusammengetragen, darunter Pro Asyl. Sie fordern, dass die Definition der Ortskräfte erweitert wird: Sie solle nicht mehr an den Arbeitsvertrag geknüpft sein, sondern alle Menschen umfassen, die für eine deutsche Institution gearbeitet haben, egal, ob ehrenamtlich, selbstständig oder mit festem Gehalt.
Außerdem fordern die NGOs, dass nicht nur die Kernfamilien, sondern alle, die zusammen in einem Haushalt mit der Ortskraft gelebt haben, nach Deutschland kommen dürfen.
Feministische Außenpolitik
Außen-, Entwicklungs- und Innenministerium arbeiten zurzeit aber vor allem an einem Bundesaufnahmeprogramm, das auch im Koalitionsvertrag steht. Das soll die Aufnahme von gefährdeten Menschen aus Afghanistan generell regeln. Es könnte wohl vor allem afghanischen Frauen und Mädchen zugutekommen. Außenministerin Annalena Baerbock hatte zuletzt immer wieder betont, wie wichtig ihr besonders deren Schutz sei, nachdem die Taliban die Frauenrechte dramatisch eingeschränkt haben.
Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat für das Programm 25 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Menschenrechtsorganisationen begrüßen, dass das Programm kommt, bemängeln aber, dass die Mittel nicht ausreichen werden für alle, die auf Schutz aus Deutschland angewiesen sind.
Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, kritisiert außerdem Baerbocks Fokus auf Frauen: „Mein Eindruck ist, dass der Regierung die Empathie und der Wille fehlt, die Menschen aufzunehmen, die für Deutschland gearbeitet haben und deswegen in Gefahr sind.“ Ortskräfte werden in dem Programm aller Voraussicht nach nicht berücksichtigt.
Innenministerium gibt sich langsam
Dass die Reform für sie nicht vorangeht, ist allerdings nicht nur Baerbock und ihren Schwerpunkten anzulasten. Im Gegenteil: Dem Vernehmen nach macht ihr Ressort innerhalb der Regierung noch am meisten Druck, während das Innenministerium eher bremst.
„Die Reform ist im Koalitionsvertrag vereinbart, aber wir sehen keinen Fortschritt bei der Umsetzung“, sagt ein Grüner, der gerne mehr Fortschritte sähe. „Einerseits sind viele Ressourcen in den Ministerien durch den Ukrainekrieg gebunden. Andererseits ist der Wille in den verschiedenen Ressorts unterschiedlich stark ausgeprägt. Im Innenministerium und im Entwicklungsministerium scheint die Reform gerade keine Priorität zu sein, aus den beiden Häusern müssen aber die Impulse kommen.“
Im SPD-geführten Entwicklungsministerium rechtfertigt man sich. Das Ressort tue alles in seiner Macht Stehende, um gefährdete Ortskräfte zu unterstützen, sagt ein Sprecher. Aber auch die afghanische Bevölkerung insgesamt benötige dringende Hilfe, um der humanitären Katastrophe und dem Zusammenbruch der Grundversorgung entgegenzusteuern. „Deshalb setzen wir unser entwicklungspolitisches Engagement für die notleidenden Menschen in Afghanistan fort, ohne zu einer Legitimierung des Taliban-Regimes beizutragen.“
Bei Migration wird stärker auf Risiko geschaut
Es sind unterschiedliche Perspektiven, die in der Frage der Ortskräfte innerhalb der Ampel aufeinanderprallen. Es geht um Zielkonflikte, die weit zurückreichen. Schon im vergangenen Jahr fürchtete das Entwicklungsministerium, damals noch CSU-geführt, einen Braindrain: Afghanistan brauche auch in Zukunft Hilfe, aber wer würde dort in Zukunft für internationale Organisationen arbeiten, wenn das erfahrene Personal jetzt komplett evakuiert wird?
Das Innenministerium, damals ebenfalls in CSU-Hand, war aus anderen Gründen gegen großzügige Regelungen. Traditionell schauen die Verantwortlichen dort in Migrationsfragen stärker auf die Risiken als andere Ressorts.
Die Grünen dagegen, damals noch in der Opposition, kritisierten beide Ansätze lauthals: Sie wollten, dass möglichst viele Ortskräfte in Sicherheit gebracht werden. Als Regierungspartei sind sie mittlerweile freilich leiser geworden. Ganz still sind sie allerdings noch nicht: Vor allem in der Bundestagsfraktion steigt ein Jahr nach dem Fall von Kabul die Ungeduld.
„Wir müssen schnellstmöglich an die Reform des Ortskräfteverfahrens ran“, sagt Deborah Düring, seit letztem Herbst im Bundestag und dort für Entwicklungspolitik zuständig. „Wir brauchen einen echten Paradigmenwechsel im Umgang mit unseren Ortskräften – auch über Afghanistan hinaus. Die Reform muss sicherstellen, dass Ortskräfte und ihre Familienangehörigen schnell und unbürokratisch in Sicherheit kommen.“ Das gehöre zur Fürsorgepflicht als Arbeitgeberin.
Ganz abgeschrieben ist die Reform also nicht. Aber wann es so weit ist? Zum Jahrestag des Falls von Kabul, so viel steht fest, klappt es schon mal nicht.
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