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Mitgefühl in der KlimakriseIch werde zum See und kippe um

Mitgefühl mit Menschen und Tieren ist einfach – doch mit Gewässern? Vielleicht hilft es, sich zu erinnern, dass Menschen vorwiegend aus Wasser sind.

Warum fällt es so schwer, Mitgefühl mit Gewässern zu haben? Foto: Frank Sorge/imago

M ittwochmorgens an einem späten Julitag des 21. Jahrhunderts – aka die Zeit, in der die Menschheit angesichts des Ultimatiums „Revolution oder Weltuntergang“ in eine Schockstarre verfallen ist – fand ich mich in ein heimisches Gewässer verwandelt. Eigentlich nicht verwunderlich. Ein Mensch kann durchaus den Aggregatzustand wechseln, das passiert ganz zu Beginn des Lebens bei der Entstehung und nach dem Ende beim Verfall des Körpers.

Bevor ich ein Gewässer wurde, war ich eine Stadtbewohnerin, die ein paar Tage rausgefahren ist, um jeden Morgen im See zurück in meine eigene Haut zu fahren. Wie eine Schlange im Rückwärtsgang. Hoffentlich kippen die Seen nicht alle, hat L neulich gesagt.

Und ich frage mich, warum ich kein echtes Mitgefühl mit einem Gewässer habe. Warum ein gekippter See mich vor allem schmerzte, weil ich nicht mehr in ihm schwimmen könnte.

Ich. Ich kann mich gut in Menschen hineinversetzen, es wird nur anstrengender, je größer das Volumen an Entsetzlichkeit wird, das man im Laufe der Jahre in sich selbst und in anderen findet. Mitgefühl mit Tieren geht auch, wobei da ein eher zufälliges Spektrum in „modernen“ Gesellschaften herrscht, wo Hund und Schwein die besten Freunde des Menschen sind, aber auf sehr unterschiedliche Art.

Ich kann auch vertrocknete Balkonpflanzen betrauern. Aber: Dass der Aralsee ausgetrocknet ist, finde ich schlimm, weil das schlimm zu finden ist. Gedacht, nicht gefühlt. Wir wissen alles über das Leiden des Planeten, fühlen es aber nicht. Der Klimaschützer George Marshall schrieb 2014 über diese emotionale Lücke, Greta Thunberg forderte 2019: „I want you to panic“, und indigene Gemeinschaften wissen das alles sowieso schon sehr viel länger.

Klar und voller Poesie

Zivilisiert, Adjektiv: 1. moderne [westliche] Zivilisation habend. 2. Zivilisation habend oder zeigend; gesittet, kultiviert „ein äußerst zivilisierter Herr“. Wir brauchen dringend eine andere Zivilisation, denkt der See und spiegelt graue Wolken.

Eine, die sich nicht beherrschen will, die nicht biegt, bis die Dinge brechen, die das „Weiter so“ ein paar weniger nicht über die Existenz aller anderen stellt. Die mich nicht kippen und die Nachwelt nicht fallen lässt.

Ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nannte eines meiner Nachbargewässer „klar und voller Poesie“. Damals gab es zehn Meter Sicht Richtung Grund, heute sind es eher zwei. Könnte sein, dass mit der Klarheit des Wassers auch die Poesie verschwindet, dass sie herausfällt, wenn wir kippen.

Bei der Geburt bestehen Menschen zu 80 Prozent aus Wasser, danach kämpfen sie gegen das Austrocknen. In Pakistan messen sie im Mai 52 Grad, in Sachsen ziehen sie Totholz auseinander, im Irak trocknet der Sawa-See aus.

Über mir fliegen Löschhubschrauber, und der DFB-Fanclub fliegt für jedes WM-Spiel zwischen Dubai und Katar hin und her, na klar. Zivilisation, fühlst du noch was? Ach, be water and stay hydrated, my friends.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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1 Kommentar

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  • „I want you to panic“ (Thunberg): Panik ist kein guter Ratgeber, führt meistens zu Flucht oder Schockstarre, nicht zu Lösungen.

    Definition von "zivilisiert" im Duden: "1. moderne [westliche] Zivilisation habend" - auch wenn "westlich" in Klammern steht, das anno 2022 zu lesen ist befremdlich. Diesem Okzizentrismus sollten wir längst überwunden haben, das ist "alte Welt" im schlechten Sinn. Auch wenn die darauf beruhenden "Segnungen" (sic!) und das damit verbundene Weltbild wie der Glaube an "grenzenloses Wachstum" de facto den Globus dominieren, legitimiert die Tatsache keinen von der Definition suggerierten Universalanspruch. Der Verweis auf indigene Gesellschaften ist nicht hilfreich: eine so dichtgewobene soziale Textur wie dort läßt sich bei uns nicht wiederherstellen, und Magie beispielsweise bietet für moderne Gesellschaften keinen Ausweg.

    Mitgefühl mit der Natur: Oh doch! Ich verbinde mit dem Text des Schlafliedes "Der Mond ist aufgegangen" Kindheitserinnerungen an Sternenhimmel, tiefschwarzen Wald, Nebelschwaden, Käuzchen, Blumenwiesen, Bäche... Und weil es das kaum noch gibt, befällt mich Solastalgie. Siehe dazu:



    www.nationalgeogra...nicht-geben-sollte