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Tripoli und seine Umgebung zählen zu den ärmeren Gebieten des Libanon Foto: Mohamed Azakir / rtr

Parlamentswahlen im Libanon„Leute, die von hier sind“

Die etablierten Parteien überbieten sich mit Werbeplakaten und Geschenken. Alternative Parteien setzen auf Nähe, so wie die von Obeida Takriti.

Julia Neumann
Von Julia Neumann aus Beirut

G enau eine Woche vor den libanesischen Parlamentswahlen sitzt Kandidat Obei­da Ta­k­riti mit Sy­re­r*in­nen im Café ­Warshe 13 in der nordlibanesischen Stadt Tripoli zusammen – obwohl diese im Libanon gar nicht wählen dürfen. Seine Partei hat einen syrischen Ökonom eingeladen, für ein Gespräch mit syrischer und libanesischer Jugend.

Sollte der Kandidat nicht lieber mit Megafon auf der Straße stehen oder an Türen klopfen, um für sich zu werben? Takriti lacht. „Die Wahlen sind organisiert und kreiert von der herrschenden Klasse“, sagt er. „Sie sind ein Theater, um Legitimität zu manifestieren. Wir müssen dieses Theaterstück als Gelegenheit nutzen, um mit den Menschen zu reden.“

Wenn er heute durch seine Stadt Tripoli gehe, die zweitgrößte des Landes, und zehn Menschen treffe, seien darunter nur sechs Libanes*innen, sagt er: drei davon frustrierte Nichtwähler, drei weitere wählten nicht in Tripoli. Die anderen vier seien drei Sy­re­r*in­nen und ein Palästinenser. „Das ist die Rea­lität der Gesellschaft.“

Diese verschiedenen Gruppen möchte seine Partei „Bürgerinnen und Bürger in einem Staat“, kurz Mmfid, zusammenbringen. Ihr Hauptanliegen ist ein säkularer Staat – oder wie Takriti sagt: „Ein ziviler Staat, der alle integriert.“ Die Partei spricht mit Militärs im Ruhestand, mit Arbeitsverbänden oder Palästinenser*innen. „Wenn wir von Gesundheitsversorgung oder Bildung sprechen, dann fordern wir das für alle Einwohner*innen.“

Hunderttausende gegen Korruption

So banal das klingt, so radikal ist es ist Libanon. Hier leben 18 Religionsgemeinschaften. Während des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 haben sich Milizen in verschiedenen Konstellationen bekämpft – um den Frieden zwischen den Konfessionen zu sichern, beteiligt ein kompliziertes Quotensystem alle an der Macht.

Wir wählen diejenigen, die gegen Hisbollah sind!

Ein Mann aus dem sunnitisch geprägten Tripoli

Es ist der Versuch, möglichst alle Bevölkerungsgruppen am politischen Leben teilhaben zu lassen. Doch in der Realität hat das Konfessionssystem Klientelismus und Korruption die Türen geöffnet, den Staat zerfressen.

Gegen dieses System gingen im Oktober 2019 Hunderttausende im ganzen Land auf die Straße. „Selbst wenn ich bei der Müllabfuhr arbeiten möchte, bräuchte ich Vitamin-B“, erklärte damals ein Eisverkäufer auf dem Märtyrerplatz in Beirut seinen Frust. Sie protestierten gegen die Unfähigkeit der Regierung, den Staatsbankrott abzuwehren und gegen ihre Politik, die in die Taschen der Armen langt, aber die reichen, eng mit der Politik Verbundenen, nicht zur Kasse bittet.

Auch Takriti war 2019 fast täglich auf der Straße. Neben dem zentralen Nour-Platz in Tripoli hatte er gemeinsam mit Freun­d*in­nen ein Zelt aufgestellt und jeden Tag eine Diskussionsrunde veranstaltet – über Wünsche, Hoffnungen und Forderungen. Für Takriti war und ist das die wahre Form der Politik: Man höre viele unterschiedliche Perspektiven, es gäbe Streitereien, Argumentationen, Konsens.

Nach 2019 gründeten sich viele Initiativen

Auch in diesen Tagen ist er viel unterwegs. Seine Stimme ist angeschlagen vom vielen Reden. Ist er ein Aktivist, der nun in die Politik gegangen ist? „Ich mochte immer die Idee, die Leute zu bewegen, sich in der Politik einzubringen.“ Er findet die Annahme, die libanesische Opposition sei die Zivilgesellschaft seltsam. „Ich definiere mich als Mitglied einer politischen Partei, die versucht, zivile Ak­teu­r*in­nen und diejenigen, die aus dem derzeitigen System herausfallen, dazu zu bringen, mit uns auf einen funktionierenden Staat zu drängen.“

Aus den Protesten 2019 haben sich viele Initiativen, politische Gruppierungen und Parteien gebildet. Einige, die sich nun für die Wahlen aufstellen lassen, stammen aus der Zivilgesellschaft: Ein Umweltingenieur, der sonst Projekte zum Schutz der Umwelt umsetzt. Ein Filmregisseur, der schon 2015 gegen sich ansammelnden Müll in den Straßen protestiert hat und Politiker in den sozialen Medien zur Verantwortung ziehen möchte. Eine Landschaftsarchitektin, die sich in Kampagnen für den Erhalt von öffentlichen Plätzen einsetzt. Sie sammeln private Spenden, während etablierte Parteien von reichen Geschäftsmännern gefördert werden.

Obei­da Ta­k­riti Foto: Julia Neumann

Wie Bahaa Hariri, Bruder des Ex-Ministerpräsidenten Saad Hariri. Während sich der eine Bruder aus der Politik zurückgezogen hat, hat der andere eine eigene Partei gegründet – neben vielen großen Straße im Libanon kleben nun Werbeplakate für „Zusammen für den Libanon“. Oder der Multimillionär Omar Harfouch, der in Tripoli antritt und sich als Stimme der Opposition inszeniert. Wahlen sind eine Frage des Geldes: Wer kann es sich leisten, die Stadt mit Plakaten seines Gesichts zuzupflastern?

Tripoli bildet den Libanon im Kleinen ab: Es beherbergt sehr reiche Männer, wie den derzeitigen Ministerpräsidenten Na­djib Mikati. Gleichzeitig sind den Vereinten Nationenzufolge 85 Prozent der Haushalte im Nordlibanon arm: Sie leben ohne Arbeit, Krankenversicherung oder sauberes Wasser.

Die Botschaft: Wir sind ein Teil von euch

Takriti kommt aus Bab el Raml, einem armen Viertel in Tripoli. Am Abend möchte er die Leute dort von sich überzeugen. Auf einem gefliesten Platz stehen Plastikstühle um Tische, Männer rauchen Wasserpfeife oder spielen Karten, es riecht nach verbranntem Hühnchen vom Grill nebenan. Eine Bauleuchte bestrahlt den Platz, grelle Lichterschläuche sind um die Bäume gewickelt. Auf einem Tisch steht eine mobile Lautsprecherbox. Takriti spricht in das Mikro und stellt sich als Sohn der Nachbarschaft vor.

„Wir wissen nichts über die Themen und Programme bei den Wahlen“, sagt ein junger Mann. „Dafür sind wir hier“, antwortet Takriti. „Wir machen keine Werbung im Fernsehen. Wir kommen und reden über unsere Themen.“ Ein anderer sagt: „Wo wart ihr die ganze Zeit? Wir kennen euch nicht.“ Takriti antwortet: „Viele von uns waren auf den Plätzen“, und meint die Schauplätze der Proteste von 2019.

Unter den absurd großen Wahlplakaten geht das Leben der meisten Li­ba­ne­s:in­nen unberührt weiter Foto: Hussein Malla / ap

Takritis Botschaft ist klar: Wir sind ein Teil von euch. Doch das sagen auch die alteingesessenen Parteien. Die Verteilung der Wahlbezirke im Libanon folge konfessionellen Quoten, sagt Aly Sleem. Er ist Geschäftsführer des libanesischen Verbands für demokratische Wahlen, der die Wahlen überwacht und Wahlverstöße dokumentiert. „Wir haben 218 Sitze, die zwischen den Konfessionen verteilt werden.“ Die Wahlbezirke untermauern so das politisch-konfessionelle System und führen zu Klientelismus. In Tripoli gebe es zwar verschiedene sunnitische Führungspersonen, doch kein Schiit konkurriere dort mit ihnen. Umgekehrt habe niemand es bisher gewagt, die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah in ihrer südlibanesischen Hochburg zu konfrontieren.

„Wir wählen diejenigen, die gegen Hisbollah sind!“, ruft ein Mann, der von seinem Stuhl aufgesprungen ist. Takriti zeigt ihm ein Foto, auf dem der schii­ti­sche Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und der christliche Samir Geagea, Kopf der Partei Lebanese Forces, sich die Hände schütteln. Er möchte zu verstehen geben: Auch wenn sie sich vordergründig die Schuld für die Misere zuschreiben, stecken die Parteien unter einer Decke.

Die alternativen Parteien haben keine vereinte Front

Mit den Wahlen hat sich im Bezirk Süden III zum ersten Mal eine Opposition in einer einheitlichen Liste gegen die Hisbollah und ihre Schwesterpartei formiert. Doch das ist eine Ausnahme. Die alternativen Parteien haben es sonst nicht geschafft, eine vereinte Front gegen die Altparteien zu bilden. Streit entbrannte nicht nur über Personalien, sondern auch über die rechte, nationalistisch-christliche Partei Kataeb, deren Mitglieder nach der Hafen-Explosion 2020 als Erstes zurückgetreten sind und sich seither als Teil der Opposition inszenieren. Weil sie Unterschiede in den Programmen sehen oder Persönlichkeiten aus dem Establishment ausschließen wollen, konkurrieren in wichtigen Wahlkreisen die Listen der Alternativen.

„Warum tut ihr euch nicht mit größeren Parteien zusammen?“, wird Takriti gefragt. Der antwortet: weil bei anderen Parteien, etwa der von Bahaa Hariri, das Geld aus dem Ausland käme – und damit auch eine politische Agenda.

Wählenden gäben ihre Stimme nicht nur den Kandidaten des gleichen Geschlechts und der gleichen Religion, sondern auch dem bekannteren und besser vernetzten, erklärt Sleem. Das Gesetz selbst verbiete es nicht, Dienstleistungen als Geschenk anzubieten, auch nicht während des Wahlkampfs. Deshalb grillt der Schwiegersohn des Präsidenten Fleisch, das er kostenlos verteilt.

Kleinen Gefälligkeiten kommt derzeit eine größere Bedeutung zu. Seit 2019 hat die lokale Währung, die libanesische Lira, über 90 Prozent ihres Werts verloren. Essen sei um das Elffache teurer geworden, sagt das Welternährungsprogramm.

Die Chancen der Alternativen sind gering

Dass die konfessionellen Bindungen noch immer stark sind, merkt auch Takriti. Am Mittag sitzt er mit Freun­d*in­nen zusammen, die noch nicht so richtig überzeugt sind. Er redet von sozialer Gerechtigkeit, und davon, dass reiche Politiker zurzeit öfter die Kosten für Gesundheitsbehandlungen von potenziell Wählenden übernehmen. Auch Sarah Omari, die sich selbst als konservativ bezeichnet, hört zu. Eine ihrer Sorgen: Dass alternative Parteien ein ziviles Fami­lien­ge­setz­buch einführen möchten – anstelle des derzeitigen, in dem jede reli­giö­se Gruppe ihre eigene Grundlage – etwa die Bibel – hat. „Ich glaube, das gefährdet die Identität“, sagt sie.

In vielen Bezirken seien die Chancen der Alternativen gering, so Sleem. Die Wahlhürde für einen Sitz ist je nach Gebiet unterschiedlich – im Distrikt Aley sei sie am geringsten mit 7 Prozent. Im südlichen Saida liege sie bei 20 Prozent – fast unmöglich also. Bei den Wahlen 2018 gab es auch opposi­tio­nel­le Parteien, doch nur eine Kandidatin kam ins Parlament.

Für Takriti geht es nicht darum, zu gewinnen. „Wir haben schon etwas erreicht“, sagt er stolz: „Wir haben Po­li­ti­ke­r*in­nen präsentiert, die wirklich über Politik reden, nicht über Dienstleistungen. Leute, die von hier sind – und nicht aus der Bourgeoisie.“

Zumindest die Diskurse haben sich verschoben. Eine Bürgerjournalistin teilt bei einer Diskussion eine Beobachtung: Bei der Freitagsansprache in der Moschee habe der Imam gesagt, die Leute sollten wählen, was gut für das Land Libanon sei, nicht für die muslimische Gesellschaft. Das habe er zuvor noch nie so formuliert.

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