Libanons Politiker ohne Bezug zum Volk: „Mutter der Revolution“ ist zurück
Libanons Ministerpräsident hat sich zynisch über ein gesunkenes Flüchtlingsboot geäußert. Im von Armut gebeutelten Tripoli sorgte das für Aufruhr.
Beirut taz | „Mutter der Revolution“ ist der Spitzname, den Protestierende Libanons zweitgrößter Stadt Tripoli bei Massenprotesten im Jahr 2019 gegeben haben. Und diese Mutter ist wieder da.
Die Stadt im Norden beherbergt Libanons reichste Männer, darunter den Ex-Finanzminister Mohammad Safadi und den derzeitigen Ministerpräsidenten Nadjib Mikati. Letzterer besitzt laut Forbes ein Vermögen von umgerechnet 2,8 Milliarden Euro inklusive einer alten Villa an Tripolis Küste.
„Der Reichtum dieses Milliardärs wurde aus dem Blut des Volkes angehäuft“, steht dort neuerdings auf eine Hauswand gesprüht. Protestierende warfen letztes Wochenende Steine auf das Sicherheitspersonal und stürmten das Anwesen.
„Das ist Najib Mikati, ein Ministerpräsident, der in seinem Palast sitzt und jeden Tag in das beste Land geht und auf dem besten Bett schläft und das beste Essen isst“, schrie ein Protestierender in einem Video, das von dem unabhängigen Onlinemedium Megaphone geteilt wurde. „Und die Menschen versinken im Meer, und es ist ihm egal. Du Najib Mikati, sieh dir die Leute an, möge Gott dich demütigen.“
Militär macht Fluchthelfer verantwortlich
Am 23. April war ein Flüchtlingsboot mit vielleicht 60 Menschen vor Tripolis Küste gekentert. Sieben ertranken, das Militär sagt, es konnte 47 retten. Noch immer werden Menschen vermisst, die genaue Zahl ist umstritten, in den sozialen Medien ist von über 30 Vermissten die Rede.
Überlebende warfen der Marine vor, das Schiff absichtlich gerammt zu haben, um es zu stoppen. Der Überlebende Maher Hamoudeh, 23 Jahre alt, erzählte Londons arabischer Zeitung The New Arab: „Um 20.30 Uhr tauchten zwei Armeeboote auf und fingen an, uns zu jagen, eines war groß. Sie machten Wellen, dann rammte uns das große und machte kehrt, um uns zu versenken, was nicht funktionierte.“ Das Militär wiederum beschuldigte Fluchthelfer, das Boot überladen zu haben.
Nach dem Unglück war die Stadt in Aufruhr: Junge Männer schossen mit Gewehren in die Luft, vor Innenminister Bassam Mawlawis Residenz in Tripoli wurde demonstriert. Die Menschen sind sauer: Denn Tripoli gehört zu Libanons ärmsten Städten und wird seit Jahren von seinen reichen Politikern ignoriert.
Bürgermeister Riad Yamak sagte 2020 der Financial Times, seine Stadt sei so knapp bei Kasse, dass sie „ihre Aufgaben nicht so erfüllen kann, wie sie sollte“.
Flucht vor der Wirtschaftskrise
Der Libanon durchlebt gerade die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die lokale Währung hat massiv an Wert verloren, Strom, Medizin und sogar Lebensmittel sind für viele unbezahlbar.
Während Trauer und Wut noch immer Tripoli erfüllte, stoppte das Militär letztes Wochenende ein weiteres Boot, das dort abgelegt hatte, diesmal mit 85 Menschen.
Fünf Personen wurden festgenommen, denen Fluchthilfe vorgeworfen wird. Sie sollen dafür 400.000 US-Dollar kassiert haben. Dass die Menschen ihr Geld zurückbekommen, ist unwahrscheinlich. Laut Vereinten Nationen wollten seit Anfang 2021 mehr als 1.500 Menschen den Libanon auf Booten verlassen.
Laut der Rechtsorganisation Legal Agenda verbreiteten Bewohner Tripolis in den sozialen Medien inzwischen Videos, die erfolgreiche Überfahrten nach Zypern und Italien zeigten. „Erzählen Sie den Politikern, dass alle Menschen der Stadt bald mit Todesbooten auswandern werden“, soll ein Mann auf einem der Videos sagen.
Ministerpräsident: Klassenunterschiede sind Gottes Werk
Am Mittwoch erklärte Ministerpräsident Mikati dem Sender Tele Liban schließlich seine Sicht: „Logik“ diktiere, dass das Boot auf jeden Fall sinken musste, meinte er, womit er die Opfer für ihr Ertrinken selbst verantwortlich machte.
Die Klassenunterschiede in Tripoli seien nun mal das Werk „Gottes“, so der Ministerpräsident. Denn Gott habe die Menschen in unterschiedlichen Klassen geschaffen. Die Stadtbewohner sollten doch dankbar für die Hilfe sein, die seine Institutionen in den letzten 15 Jahren geleistet hätten.
Am Donnerstag wollte der Armeechef die Gemüter beschwichtigen. Er traf Überlebende sowie Angehörige der Opfer des gesunkenen Bootes. Sie erklärten ihm, dass die Wirtschaftskrise zur Flucht zwinge. Der Armeechef versprach eine „transparente und unparteiische“ Untersuchung und dass die Suche nach Vermissten fortgesetzt werde. Doch solle der Fall auch nicht instrumentalisiert werden.