NSU-Terror in Bayern: Der Wunsch nach Aufklärung
Der bayerische Landtag widmet dem NSU-Komplex einen zweiten Untersuchungsausschuss. In den Fokus rücken Unterstützernetzwerke in Franken.
Die Taschenlampe ist eine Rohrbombe. Dass O. den Anschlag überhaupt überlebt, hat er einem Konstruktionsfehler der Attentäter zu verdanken. Er erleidet jedoch schwere Schnittverletzungen, muss wochenlang gepflegt werden. Die psychischen Wunden verheilen noch langsamer. O. hat Angst, auf die Straße zu gehen, fühlt sich auch in seiner Heimatstadt nicht mehr sicher, verlässt Nürnberg.
Was Mehmet O. zu diesem Zeitpunkt nicht weiß – und auch fast zwanzig Jahre lang nicht erfahren wird: Er ist das erste Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Doch die Ermittler verdächtigen ihn selbst – eine Erfahrung, von der auch viele Angehörige der NSU-Mordopfer berichten. „Was wurde mir nicht alles angehängt? Drogenhandel, Schutzgeld, Versicherungsbetrug. Ich hätte die Bombe selber hochgehen lassen, sagten sie“, erzählt Mehmet O. 2021 in einem Interview mit der Saale-Zeitung. „Mit diesem Verdacht musste ich jahrelang leben.“
Mehmet O. ist ein Deckname, den der Mann heute in der Öffentlichkeit benutzt. Er hat noch immer Angst. Die beiden NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sind zwar tot, und ihre Komplizin Beate Zschäpe sitzt im Gefängnis, aber wer weiß, wer da draußen noch immer frei herumläuft?
In Bayern beging der NSU die Hälfte seiner Morde
Ja, wer weiß? Die Frage stellt sich nicht nur Mehmet O., sondern beschäftigt unter anderem auch zwei der Oppositionsparteien im bayerischen Landtag. Grüne und SPD haben deshalb jetzt einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss beantragt, im Mai wird er offiziell die Arbeit aufnehmen. Einen zweiten in Bayern wohlgemerkt, deutschlandweit ist es bereits der 15. Und natürlich ist die Frage nach den Hintergründen des Anschlags in der „Sonnenschein“-Bar nur eine von vielen auch vier Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses ungeklärten Fragen.
Seit der erste Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex seine Arbeit im Herbst 2013 beendet hat, habe sich viel getan, finden die Parlamentarier, der Erkenntnisstand sei heute ein völlig anderer.
In Bayern beging der NSU die Hälfte seiner Morde, drei in Nürnberg, zwei in München. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Habil Kılıç, İsmail Yaşar und Theodorus Boulgarides hießen die Opfer. Mit dem Mord an Enver Şimşek, der an seinem Blumenstand in Nürnberg-Langwasser erschossen wurde, begann im Jahr 2000 die Serie.
Doch gerade in Franken gibt es besonders viele offene Fragen. So deutet einiges darauf hin, dass die Nürnberger Neonaziszene und das NSU-Umfeld in Thüringen und Sachsen um die Jahrtausendwende herum enge Kontakte gepflegt haben. Wurden diese Strukturen bei den Ermittlungen ausreichend unter die Lupe genommen?
Das ist eine der Fragen, denen der Ausschuss nun auf den Grund gehen will, erzählt Toni Schuberl von den Grünen, der designierte Ausschussvorsitzende. Das Taschenlampenattentat sei dabei auf jeden Fall zentral. „Das ist schließlich noch nie richtig untersucht worden.“ Und für Schuberl steht die Frage im Raum: Hätten die Morde des NSU verhindert werden können, wenn damals richtig ermittelt worden wäre?
Warum wurden Hinterbliebene wie Tatverdächtige behandelt?
Welche Verbindungen gibt es zur Nürnberger Hooligan-Szene? Welche Bedeutung kam dem Neonazi-Netzwerk Blood & Honour zu? Wer hat die möglichen Anschlagsziele und Fluchtrouten für das NSU-Trio akribisch ausgespäht? In dessen Zwickauer Wohnung waren nach der Selbstenttarnung Todeslisten mit tausenden Adressen, darunter viele in Franken, gefunden worden. Und welche Rolle spielte etwa Susann Eminger, die Frau des verurteilten NSU-Unterstützers André Eminger? Mehmet O. soll sie auf Bildern wiedererkannt haben, als der Anschlag auf seine Kneipe 2013 nach der Aussage eines anderen Angeklagten im Prozess erstmals dem NSU zugeordnet werden konnte.
Natürlich wird es auch um den Einsatz von V-Leuten gehen. Nicht wenige von ihnen waren im NSU-Umfeld tätig. Welche Informationen haben sie den Sicherheitsbehörden geliefert? Ein Mann mit dem Decknamen Primus etwa hat für das Bundesamt für Verfassungsschutz gearbeitet. Seine Rolle sei noch immer im Unklaren. Der Bauunternehmer soll Mundlos und vielleicht auch Böhnhardt vorübergehend in seiner Firma beschäftigt haben. Auch die Frage, ob er an der Beschaffung von Wohnmobilen für den NSU beteiligt gewesen war, steht im Raum.
Alles in allem sind es 198 Fragen, die SPD und Grüne in ihrem Katalog aufgelistet haben. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei natürlich dem Vorgehen der Behörden: Warum, fragen die Parlamentarier, wurde zehn Jahre lang in die völlig falsche Richtung ermittelt, wurden fast alle Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund außer Acht gelassen? Und warum wurden Hinterbliebene und Überlebende wie Tatverdächtige behandelt? Schuberl vermutet hier einen Fall von institutionellem Rassismus: „Ich will da jetzt keinem einzelnen Ermittler eine rassistische Haltung unterstellen.“ Aber der Reflex sei eindeutig gewesen: Aufgrund des Migrationshintergrunds der Opfer habe man sofort Rückschlüsse gezogen und die Täter im Bereich der Clankriminalität gesucht.
Petition fordert: „Kein Schlussstrich!“
Und als die Polizei Mehmet O. 2013 noch einmal aufsuchte, wurde er weder informiert, warum er 115 Bilder von Rechtsextremisten durchsehen musste, noch setzte man ihn in Kenntnis, dass er offensichtlich Opfer eines Anschlags von Neonazis geworden war. Man warnte ihn lediglich davor, sich an die Medien zu wenden. Erst im Sommer 2018, als Journalisten bei einer gemeinsamen Recherche des Bayerischen Rundfunks und der Nürnberger Nachrichten den ehemaligen Wirt aufsuchen, erfährt Mehmet O., wer die Bombe damals gelegt hat.
Die politischen Verantwortungsträger, so argumentieren die Initiatoren des Untersuchungsausschusses, hätten den Hinterbliebenen und Überlebenden eine vollständige und rückhaltlose Aufklärung der NSU-Verbrechen und ihrer Hintergründe versprochen. „Davon sind wir auch zehn Jahre nach der Enttarnung des NSU und drei Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses vor dem Münchner Oberlandesgericht immer noch weit entfernt“, heißt es jedoch in dem Antrag auf Einsetzung des Ausschusses.
Auch Angehörige von Opfern des NSU, Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess sowie Fachberatungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt hatten in der Petition „Kein Schlussstrich“ einen zweiten Untersuchungsausschuss in Bayern gefordert. Die Stadträte in Nürnberg und München hatten sich der Forderung angeschlossen. Nach anfänglicher Skepsis unterstützen mittlerweile auch CSU, Freie Wähler und FDP das Vorhaben. Die konstituierende Sitzung des Ausschusses soll am 19. Mai stattfinden.
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