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Institut sammelt UntergrundliteraturSicherer Hafen geheimer Schriften

Die Bremer Forschungsstelle Osteuropa wurde in der Polen-Krise von 1982 gegründet. Sie hat ein riesiges Archiv und etliche Dissidentennachlässe.

Zentraler Auslöser für die Gründung der Forschungsstelle: die polnische Gewerkschaft Solidarnosc Foto: Stefan Kraszewski/dpa

Bremen taz | In Zeiten des Ukraine-Kriegs und des westlichen Erstaunens über Putin ist ihre Expertise gefragter denn je: Die Rede ist von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa, gegründet zu einem ähnlich brisanten Zeitpunkt wie jetzt: 1982, kurz nachdem General Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht verhängt hatte, um die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność zu stoppen, gründete Wolfgang Eichwede, Professor für Politik und Zeitgeschichte Osteuropas an der Universität Bremen, dort die Forschungsstelle Osteuropa.

Denn Eichwede, seit vielen Jahren eng mit Intellektuellen, KünstlerInnen und DissidentInnen der damaligen Sowjetunion, Polens, der damaligen Tschechoslowakei befreundet, sah klar, was nötig war: eine westliche Dokumentations- und Anlaufstelle als „sicheren Hafen“ für Schriften, Dokumente, teils auch Kunstwerke von KritikerInnen aus Ost- und Ostmitteleuropa zu schaffen. Es ging ihm um ein kulturelles Gedächtnis des Widerstands, das Innenansichten dieser Gesellschaften bot. Denn die Regimes, gegen die sich die Dissident­Innen richteten, würden Spuren dieser Erinnerung eher auszulöschen trachten.

Eichwede, bis 2007 Leiter des außeruniversitären Instituts an der Uni Bremen, initiierte zur Finanzierung die Gründung einer Stiftung; getragen von Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Bis 1986 flossen Gelder der VW-Stiftung, heute zahlt die Kultusministerkonferenz.

Über 100.000 originale Samisdat-Dokumente

Auch mit seiner Idee hatte Eichwede Erfolg: Mit inzwischen über 100.000 originalen Dokumenten des Samisdat – der Untergrundliteratur –, sowie mit Fotos und Kunstwerken aus der Ex-Sowjetunion, der Ex-Tschechoslowakei, aus Polen, teils auch aus Ungarn und der DDR ist die Forschungsstelle das weltweit größte Samisdat-Archiv geworden. Auch 500 persönliche Archive lagern dort, unter anderem die der Autoren Lew Kopelew und Jurij Trifonov.

Und was zu Zeiten des Kalten Krieges auf oft illegalen Umwegen nach Bremen kam, konnte nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ab 1989/90 offiziell dorthin gebracht, in Forschungsarbeiten analysiert und zugänglich gemacht werden. Seit den 2000er-Jahren wird dieser Wissenstransfer durch regelmäßige „Länderanalysen“ über Russland, Polen, Ukraine, Belarus und Zentralasien ergänzt, die man kostenlos per Mail abonnieren kann.

Dass sich der Fokus der Forschungsstelle nach 1989 verschob, versteht sich: Die Transformation des postkommunistischen Ost- und Ostmitteleuropa geriet ins Blickfeld – vor allem die Identität stiftenden historischen Kontinuitäten, auf denen der Neuanfang basierte. Und die im Widerstreit standen mit dem Erbe der „sowjetischen Hegemonialzeit“, wie es die Institutshomepage formuliert. Auch der Einfluss von Unternehmen auf die Politik sowie die Integration postkommunistischer Staaten in die EU wurde Thema.

Ukraines Radikalnationalisten sind schwächer als die AfD

Doch Geschichte kann, wie man aktuell sieht, gewaltsam zurückgedreht werden. Putin sei jemand, „der offenbar vollkommen verschlossen in seiner Welt denkt und lebt“, sagte Institutsgründer Eichwede jüngst in Radio Bremens TV-Sendung „buten un binnen“. „Er nimmt andere Positionen nicht mehr zur Kenntnis, seine Auftritte tragen in meinen Augen autistische Züge oder Züge von Wahnsinn.“

Putin sei wohl überzeugt, dass sein Land nur als imperiale Macht bestehen werde und dass er seine schwindende Popularität durch militärische Erfolge stoppen könne. Dabei lenke er nur von inneren Problemen ab. Ökonomisch etwa sei das hochgerüstete Russland „bestenfalls eine Mittelmacht im unteren Bereich.“

Ganz und gar abwegig findet Eichwede Putins Behauptung, er bekämpfe Faschisten, die in der Ukraine an der Macht seien. „Das ist eine ebenso falsche wie bösartige Verleumdung“, sagt Eichwede in dem Interview. „Radikalnationalistische Kräfte in der Ukraine haben in Wahlen nur wenige Prozent errungen. Sie spielen im politischen Leben der Ukraine keine maßgebliche Rolle und sind schwächer als die AfD in Deutschland.“

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