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Angeblicher Verrat an Anne FrankWer verriet Anne Frank?

Schon lange gibt die Frage Rätsel auf, wie die Familie Frank von den Nazis entdeckt wurde. Ein Rechercheteam glaubt, die Wahrheit entdeckt zu haben.

Im Anne-Frank-Haus in Amsterdam Foto: Peter Dejong/ap

War es Tonny Ahlers? Der niederländische Nazianhänger soll Geld von der Familie erpresst haben. Er, so die Vermutung, habe den Sicherheitsdienst der SS auf die Fährte gesetzt. Oder trifft Willem van Maaren die Schuld? Der Lagerarbeiter war im selben Haus wie die Versteckten tätig und galt als unsympathisch. 1947 wird er als mutmaßlicher Verräter angezeigt. Doch die Ermittlungen verlaufen im Sande.

Ein Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 am 4. August 1944 gegen 10 Uhr am Morgen: Polizisten entdecken das Versteck von Anne Frank und ihrer Familie. Sie sowie weitere Juden und zwei Helfer werden abgeführt. Anne wird über das niederländische Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Von dort kommt sie in das KZ Bergen-Belsen. Wahrscheinlich im Februar 1945, nur wenige Wochen vor der Befreiung, stirbt die wohl berühmteste Tagebuchschreiberin der Welt im Alter von 15 Jahren. Von der Familie überlebt nur der Vater Otto.

Seit 75 Jahren wird darüber gerätselt, wer Anne Frank und ihre Familie verraten hat. Dutzende Namen sind im Umlauf. Es gab zwei polizeiliche Ermittlungen. Beweise fehlen.

Jetzt hat ein internationales Rechercheteam nach jahrelanger Arbeit neue Ergebnisse vorgelegt – und dazu gleich auch noch ein Buch veröffentlicht. Die 23 privaten Ermittler, darunter der pensionierte FBI-Agent Vince Pankoke, sind sich zu „mindestens 85 Prozent“ sicher, den wahren Täter aufgespürt zu haben: den Notar Arnold van den Bergh. Er, und das macht die Angelegenheit so schwierig, war selbst Jude.

Der Verdacht bestand seit den 1960er Jahren

Schon kurz nach Kriegsende hatte der nach Amsterdam zurückgekehrte Vater von Anne Frank ein anonymes Schreiben erhalten, nach dem van den Bergh das Versteck verraten habe. Die daraufhin von Otto Frank kopierte Notiz gilt als verschollen, ebenso das Original. Auch äußerte sich Frank offenbar nicht näher dazu. Jetzt aber fanden die Rechercheure eine weitere Kopie dieses Briefs im Amsterdamer Stadtarchiv. Es ist mit Otto Franks Schreibmaschine verfasst, ergaben nähere Untersuchungen. Wer allerdings der Autor des anonymen Schreibens war, ist weiterhin unklar – die Beweiskette hat damit Lücken.

Die Ermittler geben an, etwa 30 Spuren gefolgt zu sein. „Wir können mit Sicherheit sagen, dass 27 bis 28 von ihnen unwahrscheinlich oder unmöglich passen“, sagt der Journalist Pieter van Twisk, der zu dem Team gehörte.

Den Recherchen zufolge war der Verrat nicht gegen Familie Frank persönlich gerichtet. Vielmehr soll van den Bergh den SS-Schergen eine ganze Liste mit Orten versteckter Juden in Amsterdam übergeben haben, und auf dieser Liste standen zwar keine Namen, aber das Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht 263.

Der Name van den Bergh taucht nicht zum ersten Mal auf. Schon in den 1960er Jahren galt der Notar als verdächtig. Doch damals hieß es, er sei schon 1943 von den Nazis deportiert worden und käme deshalb als Täter nicht infrage.

Diese These entspricht offenbar nicht der Wahrheit. Tatsächlich ist es van den Bergh 1944 anscheinend gelungen, die SS davon zu überzeugen, ihn und seine Familie von den Listen der Deportation zu streichen. Ob der Verrat dabei eine Rolle gespielt hat, bleibt unklar. Jedenfalls überlebte van den Bergh und starb im Jahr 1950.

7,50 Gulden, umgerechnet etwa 37,50 Euro Kopfgeld

Warum aber sollte ausgerechnet ein ebenfalls von den Nazis verfolgter Niederländer und Jude die Franks und weitere Versteckte verraten haben? Diese Frage führt tief in das von den Nazis aufgebaute System von Spitzeln und Verrätern.

Zwar gelten die Niederländer bis heute als ein besonders widerständiges Volk gegenüber der Naziokkupation. Tatsächlich kam es im Februar 1941 in Amsterdam sogar zu einem Streik von Hafenarbeitern sowie Mitarbeitern der Verkehrsbetriebe und der Müllabfuhr gegen die Drangsalierung der Juden.

Doch His­to­ri­ke­r*in­nen wie Tanja von Fransecky gehen davon aus, dass sich der Protest gegen die Judenverfolgung insgesamt in Grenzen hielt. Zugleich blühte die Kollaboration mit den Besatzern, die den Holländern eine „arische“ Abstammung zuschrieben. Mindestens 25.000 Niederländer dienten in der Waffen-SS. Das war gemessen an der Bevölkerungszahl das stärkste Kontingent von Ausländern in dieser Mördertruppe.

7,50 Gulden, umgerechnet etwa 37,50 Euro, betrug zunächst das Kopfgeld, das Menschen ausgezahlt wurde, die einen Juden in Amsterdam im Versteck verrieten. An der Fahndung nach den Untergetauchten beteiligten sich Polizeibeamte, Angestellte der Zentralstelle für jüdische Auswanderung – einer Tarnorganisation zur Deportation – und ganz normale Holländer.

Mit der Kolonne Henneicke existierte zudem eine ganze Abteilung aus 54 „Judenjägern“. Sie lieferten alleine 2.915 Jüdinnen und Juden in der Amsterdamer Sammelstelle Hollandsche Schouwburg ein.

Das Ergebnis der zynischen Herrschaftspolitik der Nazis

Dass sich auch Juden daran beteiligten, Menschen in den Tod zu schicken, war das Ergebnis der perfiden Herrschaftsstrategie der NS-Besatzer. Diese installierten im Februar 1941 einen „Judenrat“. Äußerlich schien diese Institution der Selbstverwaltung der verfolgten Minderheit zu dienen.

Tatsächlich war der Amsterdamer Judenrat, ähnlich wie die Judenräte in den besetzten Ländern Osteuropas, ein Instrument, um Unterdrückung, Diskriminierung und den Massenmord möglichst effektiv durchführen zu können – nämlich unter Beteiligung der Opfer. Denn ihren Mitgliedern oblag es, die antijüdischen Maßnahmen auch durchzusetzen. Sie waren Befehlsempfänger der Gestapo und wurden dazu gezwungen, Listen der zu Deportierenden vorzulegen.

Zugleich allerdings bemühten sich viele Mitglieder der Judenräte darum, die Not der Verfolgten zu lindern. Das Verdikt aus den 1960er Jahren, die Mitglieder der Judenräte seien samt und sonders üble Kollaborateure gewesen, gilt deshalb unter Historikern als überholt.

Auf der anderen Seite standen die Privilegien ihrer Mitglieder: In Amsterdam waren sie lange von einer Deportation ausgeschlossen. Das war ein Grund, warum Tausende Juden als Angestellte beschäftigt wurden. Erst als sich das 1943 änderte, weil die Nazis die Judenräte angesichts der fortschreitenden Deportation der Minderheit nun für überflüssig hielten, gerieten auch sie in Lebensgefahr.

Anders als in Berlin, wo jüdische „Greifer“ dazu erpresst wurden, versteckt lebende Juden zu verraten und der Gestapo auszuliefern, gab es ein solches System in Amsterdam nicht. Wohl aber existierten auch dort einzelne Juden, die im Untergrund lebende Menschen ans Messer lieferten, so wie Ans van Dijk, die nach dem Krieg hingerichtet wurde. Sie hatte mehr als einhundert Juden verraten, schreibt der Historiker Sytze van der Zee.

Der hoch geachtete Notar Arnold van den Bergh hatte vor Kriegsbeginn verfolgte Juden aus Deutschland in ihrem Exil in den Niederlanden unterstützt. Später wurde er Mitglied des Amsterdamer Judenrats und war damit im Jahr 1944 unmittelbar von der Deportation bedroht. Er hätte wohl die Möglichkeit gehabt, eine Liste untergetauchter Juden in die Hand zu bekommen und weiterzugeben. Er und seine Familie befanden sich in Todesgefahr. Sollte er tatsächlich die Familie von Anne Frank verraten haben, dann war dies das Ergebnis der zynischen Herrschafts- und Vernichtungspolitik der Nazibesatzer.

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Mehr zum Thema

11 Kommentare

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  • Zur Komplexität in den Niederlanden mal zwei Namen:



    Maarten t‘ Hart* & Harry Mulisch**



    Beispielhaft zur hier angerissenen Gemengelage:



    *Die Netzflickerin. Dt. von Marianne Holberg. Arche, Zürich 1998, ISBN 3-7160-2237-3.



    &



    Das Wüten der ganzen Welt. Roman mit Begleit-CD. Übers. Marianne Holberg. Arche, Zürich 1997, ISBN 3-7160-2299-3.



    de.wikipedia.org/w...en_%E2%80%99t_Hart



    &**



    De aanslag (Das Attentat, 1982, dt. 1986, Roman) ISBN 3-499-22797-5



    & (over the top;) ©Katharina Rutschky



    De ontdekking van de hemel (Die Entdeckung des Himmels, 1992, dt. 1993, Roman) ISBN 978-3-499-24752-1



    de.wikipedia.org/wiki/Harry_Mulisch

    unterm— 🇩🇪vor kurzem —im Yachtclub



    Nachklapp beim Aufbruch: “Sie wissen aber - daß das Tagebuch der Anne Frank gefälscht ist!“ - “Ja. Der Anwurf ist mir bekannt. Wird aber dadurch nicht wahrer. Könn wir bitte mal zahlen!“



    Der Herr Architekt - Schüler der OzD - auf der einer der führenden Köpfe der SRP sein Lehrer war: “Ach was! Kein Nazi! Etwas konservativ vielleicht!“



    de.wikipedia.org/w...ische_Reichspartei



    “ Die SRP wurde am 23. Oktober 1952 schließlich wegen ihrer offenen Bezugnahme auf die NSDAP verboten (BVerfGE 2, 1). Im Einzelnen stellte das Gericht fest: Die Sozialistische Reichspartei ist verfassungswidrig. Die Sozialistische Reichspartei wird aufgelöst.“



    (Zum Zusammenhang mit KPD-Verbot - Karlsruhe & Conny A. ein andermal!)



    & - Kugelschreiberspuren =>



    www.annefrank.de/f...hs_JVA_Tournee.pdf

    So geht das (noch heute!;((



    (ps => www.bundestag.de/r...68-08-pdf-data.pdf



    (& aus dem Zettelkasten;))



    www.hach.de/news/w...schreiber-erfunden



    (sorry - hatte mal n Verfahren mit sojet gefälschter Ernennungsurkunde 7. Mai 1945!;(

    Ende des Vorstehenden

  • Ich habe das Anne-Frank-Museum noch in guter Erinnerung. Meine Familie und ich waren vor einigen Jahren in Amsterdam und haben es besucht. Wir konnten uns nicht ausmalen, welch eine Belastung es gewesen sein mag, so lange Zeit auf solch bengten Raum zusammenzuleben und von Außenstehenden abhängig zu sein, denen man sein Leben anvertraut.

  • 0G
    05989 (Profil gelöscht)

    Instinktiv mag' ich diese Geschichte nicht, weil ich glaube, dass das Schicksal der Familie Frank ein so wichtiges Denkmal für die Geschichte Deutschlands (vielleicht auch Hollands) ist, dass das herumkruschen in der Rahmenhandlung immer das Vermächtnis beschädigen muss. Schon Max Mannheimer und Esther Bejarano kennt ja kaum einer, Simon Wiesenthal vielleicht noch...

    Kollaboration und Verrat sind wichtige Themen - aber der Versuch hier den Verräter dingfest zu machen hat einen faden Beigeschmack. Ist den dieser Verrat besonders? Oder ist er nur prominenter und verspricht deshalb besseren Buchabsatz? Sind denn alle anderen Verräter schon identifiziert?

    • 1G
      164 (Profil gelöscht)
      @05989 (Profil gelöscht):

      Naja. Die These von Arnold van den Bergh als Verräter des Verstecks ist eigentlich ziemlich plausibel finde ich. Und wenn es stimmt, dass Otto Frank diesen Hinweis auch schon hatte, dann kann man sich zumindest vorstellen, dass der die Lage in der der Notar sich befand nachvollziehen konnte. Inwiefern das nun das Andenken an Anne Frank beschädigen soll gibt mir ehrlich gesagt Rätsel auf. Und wenn kaum einer Max Mannheimer oder Essher Bejarano kennt, dann liegt das sicher nicht daran, dass zuwenig "in der Rahmenhandlung herumgekruscht" wurde. Ein besserer Buchabsatz wird das Vergessen sicher auch nicht befördern.

      • @164 (Profil gelöscht):

        Im Artikel steht, dass er die Möglichkeit gehabt hätte, eine solche Liste in die Hand zu bekommen, und dass so eine Liste zwar keine Namen aber Orte enthielte. Da taucht doch unvermeindlich die Frage auf, woher er diese Liste hätte haben können und wer die Liste denn erstellt haben mag?



        Das ist so nicht rund und es werden mehr Fragen aufgeworfen als geschlossen.

        • @Pia Mansfeld:

          Ist mir auch aufgefallen. So eine Liste zusammenzutragen bedarf schon einer gewissen Nachforschung und in aller Regel will man mit den Informationen zu einem Versteck ja nicht hausieren gehen. Wer, außer die Gestapo und jemand der Verrat begehen wolle, hätte also ein Interesse an einer solchen Liste und die Motivation, diese Informationen zusammenzutragen? Und daran schließt sich die Frage an, woher kamen all die Informationen zu den Verstecken? Die Versteckten und ihre Helfer waren wohl kaum darauf aus, diese Information zu teilen, geschweig denn sie irgendwo zusammenzutragen. Fragen über Fragen.

        • 1G
          164 (Profil gelöscht)
          @Pia Mansfeld:

          Die versteckten Leute mussten ja versorgt werden. Also musste es Listen mit Orten geben. Wenn van den Bergh eine solche Liste hatte, legt das nahe, dass er eben Kontakte zum Widerstand hatte. Ich meine - der war als Mitglied des "Judenrates" an der Schnittstelle zu den Besatzern und vermutlich überdurchschnittlich gut informiert. Und im Artikel steht auch:"Der hoch geachtete Notar Arnold van den Bergh hatte vor Kriegsbeginn verfolgte Juden aus Deutschland in ihrem Exil in den Niederlanden unterstützt."



          Das passt alles ganz gut zusammen, finden Sie nicht?

          • @164 (Profil gelöscht):

            Nein, finde ich nicht. Sie konstruieren mutmaßliche Umstände über Versorgung und Liste - beides hat keinen logischen Zusammenhang. Weiterhin ist die Familie von einer Angestellten des Vaters Anne Franks versorgt worden, das nur nebenbei. Es bleibt aus dem Artikel nicht ersichtlich, woher solch eine Liste stammt und wer sie erstellte, noch wozu solch eine Liste gebraucht wurde, außer einen Verrat zu begehen.

            • 1G
              164 (Profil gelöscht)
              @Pia Mansfeld:

              Über 2 Jahre 8 untergetauchte Leute versorgen, das macht wohl keiner alleine. Zumal in einer Situation, in der es alles nur noch über Lebensmittelkarten gibt.

              • @164 (Profil gelöscht):

                Das ist nicht der Punkt. Selbst wenn es eine oder zwei Leute waren. Die Frage die sich hier auftat war nach der Liste. Warum und woher?



                Eine Liste zu führen, um mit einer Vielzahl von Leuten, die versteckten Menschen zu versorgen wäre ja wohl mehr als fahrlässig, das wäre dumm.



                Verabschieden Sie sich von einem Kollektiv, das sich organisierte und verschiedene Verstecke versorgte. (Und dazu noch Listen brauchte?) Im Falle der Franks war es die Mitarbeiterin Frau Gies. Das sind nun mal Fakten, von denen Sie sich mit ein wenig Recherche in verschiedenen Quellen selbst überzeugen können.



                Weiterhin wird auch öffentlich in verschiedenen Medien geäußert, daß die Behauptung Notar Arnold van den Bergh wäre der Verräter gewesen, durch andere Aussagen zum Hergang der Verhaftung und anderer Umstände nicht haltbarer wird.

      • 1G
        164 (Profil gelöscht)
        @164 (Profil gelöscht):

        ersetze "zuwenig" durch "zu viel" und gib der Esther ein t!