Geschichte der Pädophilie: Der letzte Perverse
Geschichte einer sexuellen Störung: Die Kulturwissenschaftlerin Katrin M. Kämpf legt eine deutsche Diskursgeschichte der Pädophilie vor.
Masturbation, Homosexualität, Sadomasochismus – diese und viele andere Praktiken sind längst gesellschaftlich normalisiert. Die Pädophilie, also die Präferenz für Kinder, hat als sexuelle Abweichung überdauert. Dieser Figur, die der Sexualforscher Volkmar Sigusch als „letzten Perversen“ unserer Zeit bezeichnet hat, hat die Kulturwissenschaftlerin Katrin M. Kämpf eine deutsche Diskursgeschichte gewidmet.
Der Band „Pädophilie“ analysiert die Karriere einer sexuellen Störung, die erstmals 1896 durch den Psychiater Richard Freiherr von Krafft-Ebing als „Pädophilia Erotica“ erwähnt, von der antisemitischen Aufladung durch die Nazis bis zur revolutionären Heroisierung nach 1968, stets politisch instrumentalisiert wurde – um in der Gegenwart zum Inbegriff der Gefahr überhöht zu werden.
Kämpf nähert sich ihrem Forschungsgegenstand mit einem an Michel Foucault geschulten Blick: Dessen Definition eines Ereignisses als Nexus von Macht und Wissen folgend, sucht sie nach Brüchen im Diskurs, nach Veränderung in der Wahrnehmung von Sexualität.
Katrin M. Kämpf: „Pädophilie. Eine Diskursgeschichte. Transcript, Bielefeld 2021, 318 S., 39 Euro
Im 19. Jahrhundert verortet sie die Erfindung der bürgerlichen Sexualität und der Kindheit sowie erste Überlegungen zu Strafbarkeit beziehungsweise Schädlichkeit sexueller Übergriffe an Kindern. Dreh- und Angelpunkt des Wissens über Sexualität bildete laut Foucault die bürgerliche Familie.
Klassifizierung der Perversen
In Kämpfs Deutung bedeutet das die „Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung kindlicher Frühreife, die Geburtenregelung und die ‚Klassierung der Perversen‘“. Der aufkommende Nationalstaat beanspruchte zunehmend Hoheit und Normierungsgewalt über das Sexuelle. Immer mehr verlagerte sich der Fokus vom Opfer auf die Täter, besonders bei „Unzuchtverbrechen an Individuen unter 14 Jahren“.
Krafft-Ebing unterschied in krankhafte, von „sexuellen Sondernaturen“ begangene und nicht krankhafte Taten – wobei er Letztere bei „Altersblödsinnigen“, Wüstlingen, „wollüstigen Weibern“ und generell in der proletarischen Unterschicht verortete. Bürgerlichen Männern und Frauen wurde eine funktionierende Triebkontrolle und somit Immunität vor Pädophilie unterstellt.
Kämpf zeigt, wie tief das Sprechen über Pädophilie eingebettet ist in den politischen Herrschaftsdiskurs der jeweiligen Zeit. So galten im Kaiserreich nicht alle Kinder als schützenswert: Dem unschuldigen bürgerlichen Kind wurde das frühreife, verdorbene Kind der unteren Schichten gegenübergestellt.
„Verdorbene“ Mädchen und Jungen galten als Gefahr für die öffentliche Moral. Anschaulich zeichnet Kämpf nach, wie sich die Stigmatisierung von in Armut aufwachsenden Kindern zunehmend mit antijüdischen Ressentiments vermischte.
Kontinuitäten der NS-Zeit
Aus der Zuschreibung eines übersteigerten Sexualtriebs der „semitischen Rasse“ konstruierte der Nationalsozialismus den jüdischen „Kinderschänder“ als Gefahr, vor der es die Volksgemeinschaft zu schützen gälte: durch Internierung in Arbeits- und Konzentrationslagern; „arische“ Sittlichkeitsverbrecher durften um den Preis ihrer Fortpflanzungsfähigkeit in der Volksgemeinschaft verbleiben.
Inzesttäter:innen wiederum wurden oft exkulpiert; auch das Konzept von Kindern als „Mittäter:innen“ bestand weiter. Laut Kämpf trug die „inkonsistente Verfolgungspraxis“ des NS dazu bei, die Drohkulisse gegenüber allen Deutschen, aus der Norm der Volksgemeinschaft herauszufallen, auch in sexualpolitischer Hinsicht aufrechtzuerhalten.
Anhand medizinischer Publikationen der Bundesrepublik der 1950er bis 1970erJahre zeigt Kämpf Kontinuitäten aus der NS-Zeit auf: Etwa die „freiwillige“ Kastration von Pädophilen, Gehirnoperationen oder die Gabe androgenhemmender Medikamente, die unter anderem durch Medikamentenversuche an Heimkindern und Kindern in Psychiatrien erprobt wurden.
Diagnosekataloge und der verdächtige Körper
Wie die Schädlichkeitsdebatten der 1970er Jahre in die bekannte Verschränkung der homosexuellen Emanzipationsbewegung mit einer sich formierenden Pädophilenbewegung im Zuge des sexuellen Befreiungsdiskurses münden, zeichnet Kämpf anhand aktivistischer Figuren wie Rüdiger Lautmann oder Michael Baurmann nach und schlägt einen interessanten Bogen zu dem, was sie die „empirische Wende in der Sexuologie“ nennt: eine Diskursverschiebung, die ab den 1990er Jahren „langsam den Fokus von Pädophilie – als sexueller Identität, pathologischem Zustand, widerständiger Daseinsweise oder Täter_innen-Klassifikation – hin zu ‚sexuellem Missbrauch‘ und seinen Opfern verrückte“.
Bis hin zur gegenwärtigen Risikofokussierung, die Pädophilie in Diagnosekatalogen wie ICD-10 klassifiziert und durch technische Methoden wie Phallometrie oder Magnetresonanztomografie direkt im Inneren des „verdächtigen“ Körpers misst.
Zugleich, das zeigt Kämpf in ihrer leider etwas knapp geratenen Analyse der Jetztzeit, wird der Pädophilie-Vorwurf zunehmend ideologisch gegen Menschen verwendet, die die traditionelle Geschlechterordnung stören, etwa durch Rechtspopulist:innen, Neonazis oder christlich-evangelikale Kreise.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
BSW in Thüringen
Position zu Krieg und Frieden schärfen