Radschnellweg Ruhr wird nicht fertig: Im Schneckentempo
Eigentlich sollte der Radschnellweg Ruhr schon 2020 fertig sein. Doch der Bau der 115 Kilometer langen Radautobahn verläuft schleppend. Warum?
Empfohlener externer Inhalt
Wüst, 46, trägt ein graublaues Jackett über dem weißen Hemd und einen Fahrradhelm. Er fährt ein, zwei, drei Mal auf die Objektive der Fotograf:innen zu. An seiner Seite fährt Petra Beckefeld, technische Direktorin des Landesbetriebs Straßen.NRW, der Planung und Bau federführend betreut – und Radfahrer:innen, die auf die Eröffnung durch die Politprominenz aus Düsseldorf gewartet haben.
Platz genug ist da. In einem 161 Seiten dicken Leitfaden hat das Landesverkehrsministerium genau festgelegt, wie eine solche „Radschnellverbindung“ auszusehen hat: Mindestens 4 Meter breit muss der Weg sein. Zwischen den beiden Spuren gibt es eine gestrichelte Linie wie auf den meisten Straßen auch. Und um Konflikte mit Fußgänger:innen zu vermeiden, ist für sie ein abgetrennter Weg Vorschrift, Mindestbreite 2,50.
Auf den asphaltierten Radschnellwegen ohne enge Kurven sind auch Liegerad-Fahrer:innen gern unterwegs. Drei sind auch an diesem Freitagmorgen da – und als einer sein Fahrzeug anbietet, greift Wüst sofort zu. Auf der Suche nach dem perfekten Motiv lässt er sich in den Sattel fallen, saust lächelnd ein viertes Mal an den Kameras vorbei – er kennt die Macht guter Bilder.
Wüst: „Wir brauchen die Autobahn“
Die sind hier wichtig, denn gute Nachrichten kann Wüst nicht verkünden: „Es kann ja niemand damit zufrieden sein, dass dieser Radweg nicht schon längst fertig ist“, sagt er. Straßen.NRW-Chefin Beckefeld schaut betreten, ebenso ihre Mitarbeiter:innen. Und Wüst legt nach: „Wir brauchen die Infrastruktur. Da muss Druck drauf, wir müssen schneller werden.“
„Die Infrastruktur“, das ist Nordrhein-Westfalens Radschnellweg Nummer 1. Irgendwann soll der auf 115 Kilometern mitten durchs Ruhrgebiet führen, von Hamm im Osten über den Kreis Unna, Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen und Mülheim nach Duisburg und dann weiter nach Moers im Westen – ein Vorzeigeprojekt.
Tausende vom Auto aufs Rad oder E-Bike bringen, hieß es schon in einer 2014 vorgestellten Machbarkeitsstudie des Regionalverbands Ruhr. Bis zu 400.000 Pkw-Kilometer und 16.600 Tonnen CO2 könnten so jährlich eingespart werden. Und fertig sein könne der Radschnellweg, der oft über alte, stillgelegte Bahntrassen führen soll, schon 2020.
2020. Für Wüst, der Ende Oktober zum Ministerpräsidenten von NRW gewählt wurde und im kommenden Mai die Landtagswahl gewinnen will, wird diese Zahl zum Problem. Vor zwei Jahren noch sollte der RS1 bis spätestens 2027 durchgehend befahrbar werden. Heute will Straßen.NRW-Chefin Beckefeld überhaupt kein Datum mehr nennen: „Das ist ein Blick in die Glaskugel“, sagte sie bei der Teileröffnung im Juni.
Es mangelt nicht am Geld
In großen Teilen des Reviers ist von der Fahrradautobahn nichts zu sehen. In Duisburg sei man noch in einer „sehr frühen Planungsphase“, schreibt Straßen.NRW. Eigentlich war ein Gespräch mit dem zuständigen Projektleiter vereinbart, aber das wird abgesagt. Der Projektleiter hatte schon vor zwei Jahren betont, wie sehr die Zersplitterung des Ruhrgebiets in 53 Städte, drei Regierungsbezirke und zwei Landschaftsverbände die Planung erschwere.
Egal ob beim Umweltschutz, beim Wasserrecht oder beim Denkmalschutz: Die Abstimmung mit acht bis neun unteren und drei oberen Fachbehörden sei extrem aufwändig. Der Projektleiter setzt deshalb auf Arbeitsteilung: Innerstädtisch arbeiten die Kommunalverwaltungen am RS1, außerhalb plant der Landesbetrieb oder der Regionalverband.
Im Kreis Unna könne „in Kürze mit der Planung der Streckenführung begonnen werden“, heißt es. In Hamm würden aktuell „verschiedene Varianten zur Linienführung“ untersucht. Im Klartext bedeutet das: In Duisburg im Westen wie in Unna und Hamm im Osten ist bisher nicht einmal klar, wo genau der RS1 einmal verlaufen soll. Dabei leidet das Projekt nicht unter Geldmangel: Sobald Abschnitte „Baureife“ erreichten, würden „die hierfür konkret benötigten Haushaltsmittel festgelegt und damit zur Verfügung gestellt“, versichert Straßen.NRW.
Trotzdem kommt der Radschnellweg auch im Zentrum des Reviers nur im Schneckentempo voran, das kritisiert nicht nur der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC). Seit 2017 ist der RS1 zwischen Mülheim und Dortmund um gerade einmal 7,6 Kilometer gewachsen. Auf dieser rund 50 Kilometer langen Strecke sind damit nur vier einzelne Teilstücke mit insgesamt etwa 17 Kilometern Länge befahrbar.
Und die bringen Radfahrer:innen oft nicht weiter. Auf dem von Hendrik Wüst eingeweihten Teilstück etwa hat Straßen.NRW auf der einstigen Rheinischen Bahn feinsten Radschnellweg-Standard gebaut – die Strecke ist beleuchtet, Winterdienst ist möglich. Allerdings: In beiden Richtungen des Schnellwegs endet die Fahrt schnell vor querstehenden, fest montierten rot-weißen Absperrungen – dahinter liegt noch die zugewachsene alte Bahntrasse.
Wer weiter Richtung Bochum will, wird über eine rumpelige schmale Rampe in ein Wohngebiet geführt – und ist ohne gute Karte oder Fahrrad-Navigation verloren. Immerhin: Im kommenden Jahr soll weitergebaut werden. Geht alles glatt, könnte um 2025 wenigstens der etwa 30 Kilometer lange Abschnitt vom Bochumer Westpark bis Mülheim fertig sein.
Großer Personalmangel
Anders in Richtung Osten. In den Innenstädten Bochums und Dortmunds werden keine Trassen von der Bahn freigegeben. Stattdessen soll der RS1 als Fahrradstraße durch die Stadtkerne geführt werden. Wie aufwändig das ist, zeigt sich in Bochum: Nach intensiver Bürger:innen-Beteiligung wurden genau 42 verschiedene Routen geprüft. Präsentiert werden soll das Ergebnis Ende März. Es arbeitet in der Stadt nur ein kleines Team von drei Leuten am RS1.
Enttäuscht sind deshalb viele der Fahrradaktivist:innen, die sich Anfang November im Haus der Begegnung an der Alsenstraße treffen. Gekommen sind 3 Frauen und 8 Männer. Manche sind in den Dreißigern, andere über 60. Fahrradtaschen haben sie fast alle dabei. Sie bemängeln, dass in Richtung Dortmund noch gar nichts konkret geplant ist. Der Grund dafür ist offenbar ein großer Personalmangel – denn nicht nur die Stadtverwaltungen und Straßen.NRW, auch die bundeseigene Autobahn GmbH suchen verzweifelt Bauingenieur:innen. Aber laut den Radaktivist:innen ist es auch eine Frage von Prioritäten.
Auch in Dortmund gibt es erst einen Kilometer Radschnellweg. Der führt als Fahrradstraße durch das angesagte Kreuzviertel. Doch allein dieser Bau hat Jahre gedauert – dabei müssen allein in Dortmund mindestens 16 Brücken und Unterführungen entstehen, um vierspurige Straßen wie etwa die B54 zu queren. Frühestens 2030 werde hier der Radschnellweg fertig, heißt es aus der Stadtverwaltung.
Außerdem bremsten Wirtschaft und Einzelhandel, sagt der Dortmunder ADFC-Vorsitzende Werner Blanke – sie fürchteten eine schlechtere Erreichbarkeit per Auto und damit weniger Kund:innen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den RS1 in meinem Leben noch auf voller Länge befahren werden kann“, sagt Blanke – der ehemalige Verkehrspolizist ist 68.
Braucht es „experimentelle Lösungen“?
Wie es schneller gehen könnte, müsste Stefan Kuczera wissen. Der 39-Jährige ist Planungsdezernent des Regionalverbands Ruhr – und der hat zwischen der Essener Uni und dem Mülheimer Hauptbahnhof den mit 11,4 Kilometern bisher längsten Abschnitt des Radschnellwegs gebaut. Doch Kuczera winkt ab. Das sei nur gutes Marketing. „Wir haben unser Teilstück des RS1 Anfang des letzten Jahrzehnts nicht als Radschnellweg, sondern als Freizeitradweg konzipiert – deshalb wurde es so schnell fertig.“
Zwar kann auf diesem Weg, ebenfalls erbaut auf einem Damm der einstigen Rheinischen Bahn, schon heute stressfrei und ohne nervigen Autoverkehr mehrere Meter über der Stadt geradelt werden. Durchgängige Beleuchtung und der separate Fußweg aber fehlen. Dafür ist auch der aufwändige Neubau von Brücken nötig, um die nötige Breite zu erhalten.
Vielleicht bräuchte es wirklich „neue, kreative, experimentelle Lösungen“, wie es die Leute hinter der erfolgreichen Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ fordern. Notfalls müssten eben bestehende Straßen für den Autoverkehr gesperrt und umgewidmet werden. „Aufbruch Fahrrad“ fordert bis 2025 ein NRW-weites Radschnellwegenetz von 1.000 Kilometern Länge. Damit das schnell entstehe, könne vorübergehend auch weniger aufwändig gebaut werden.
Das sieht auch der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Düsseldorfer Landtag so. „Mit der planungs-heiligen Umsetzung allerhöchster Standards muss Schluss sein“, sagt Arndt Klocke. Denn sonst wird der RS1 wirklich erst irgendwann nach 2030 fertig – und die restlichen schon angedachten sechs weiteren Radschnellwege erst um 2050. Bei denen gab es noch nicht einmal den ersten Spatenstich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos