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Debatte um die Frankfurter BuchmesseRealitätscheck statt Schnappatmung

Doris Akrap
Kommentar von Doris Akrap

Die Aufregung um den Boykottaufruf der Frankfurter Buchmesse hatte wenig mit der konkreten Situation vor Ort zu tun.

Kaum Rechte auf der Buchmesse in Frankfurt, dafür dieser Dinosauerier Foto: Sebastian Gollnow/dpa

K urz nach Einführung der Maskenpflicht machte der Realitätssinn schlapp. Kaum sah man im Fernseher Schauspielerinnen sich umarmen oder Küsschen geben, setzte Schweißausbruch ein. Stumm schrie man den Bildschirm an: „Stopp! Neiiiiin!! Niiiiicht!!! Du hast keine Maske auf!!!!“

Eine gruselige Erfahrung für alle, die glauben, sich halbwegs unter Kontrolle zu haben. Liegt Gefahr in der Luft, brüllen Alarmsirenen jeglichen Realitätscheck nieder. Die kühle Beurteilung der wirklichen Gefahrenlage tritt hinter eine peinliche Schnapp­atmung zurück.

Glücklicherweise schaltet sich ein halbwegs trainierter Realitätscheck schnell wieder ein, schaut kurz nach, ob noch alles dran und da ist, wo es sein soll, und denkt: „Puh! Ajajaj! Wow! Erst mal durchatmen.“

Im Rahmen der diesjährigen Frankfurter Buchmesse kam es ein weiteres Mal zu einer Kurzschlusskampagne, die den Realitätscheck vollständig niederbrüllte, was nun eine absurde Realitätsverdrehung zur Folge hat: Es gibt jetzt angeblich keinen Unterschied mehr zwischen der Buchmesse und dem Baumblütenfest in Werder.

Oben auf dem Hügel sitzen die Bürger in Kaschmirschals, schlürfen Weiß- oder Kirschwein, gucken in die Landschaft und in ihre Bücher, während zu ihren Füßen der rechte Pöbel sturzbesoffen Schwarze durch die Gassen und Hallen jagt.

Subjektive Beurteilung oder unumstößliche Tatsache?

Wer nicht auf der Messe war, musste diesen Eindruck bekommen haben. Innerhalb weniger Stunden, nachdem die Autorin und Twitteraktivistin Jasmina Kuhnke ihre Teilnahme an der Messe absagte, weil sie der Meinung war, dorthin zu gehen sei wegen anwesender Rechter für sie „lebensbedrohlich“, fantasierte der Twitteraktivismus, dass auf der Messe nicht nur die prominente Autorin, sondern niemand mit schwarzer Hautfarbe mehr sicher sei. Jede schwarze Person sei auf sich alleine gestellt und ungeschützt den Nazis ausgesetzt.

Den Höhepunkt dieses Kulissenschiebens lieferte dann die Frankfurter Stadtverordnete Mirrianne Mahn. Ausgerechnet bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die schwarze Autorin Tsitsi Dangarembga behauptete die Grünen-Politikerin: „Schwarze Frauen waren auf der Buchmesse nicht willkommen“.

Anstatt mal kurz zu gucken, was der Realitätscheck anzubieten hat („Ich glaub, das reicht noch nicht. Wir brauchen mehr Beweise“), wurde innerhalb von wenigen Tagen aus einer subjektiven Beurteilung einer Gefahrenlage die unumstößliche Tatsache, dass die komplette Buchmesse zu einer rassistischen Veranstaltung verkommen sei. Nach dem Motto: Bäm! Buchmesse oder Baumblütenfest – überall Nazis, aber keine Empathie, und Literaturkritiker, die sich über schlechten Weißwein beschweren.

Das bisschen Widerspruch wird überbrüllt

Wird man wie die Autorin und Twitteraktivistin Jasmina Kuhnke von Nazis bedroht, ist nachvollziehbar, dass die Alarmglocken nicht aufhören zu klingeln, dass durchatmen schwerfällt und damit auch der Realitätscheck. Dass sie ihrem Buch mit der Messeabsage mehr Aufmerksamkeit gönnen wollte, als sich den begrenzten Platz auf den Messe-Sofas mit Dutzenden anderen zu teilen, ist genauso nachvollziehbar.

Wäre aber ihre Behauptung, sie würde auf der Messe „gekillt“ werden, aus einer anderen politischen Richtung gekommen, wäre sie mit Recht als Verschwörungsfantasie gelabelt worden.

Als habe es jemals in der Geschichte dieser Buchmesse ein auch nur annähernd so bedrohliches Szenario wie auf werderschen Volksfesten oder unter Chemnitzer Bürgerbewegten gegeben. Nein, das hat es nicht.

Selbst im Jahr 2017, als die Rechten mit massivem Promi-Aufgebot auf der Messe waren, gab es diese Stimmung nicht. Die Fotos von den brüllenden und Fäuste schwingenden Nazis damals entstanden in der Folge von Protesten gegen ihre Veranstaltungen, und nicht, weil Nazis Baseballschläger schwingend durch die Gänge gejagt wären.

Der Boykottaufruf in diesem Jahr wegen der Anwesenheit rechter Verlage traf übrigens mangels Rechter – es gab nur einen Stand, den die Polizei dorthin platziert hatte, wo sie ihn am besten überwachen konnte – übrigens vor allem genau jene Verlage, die die Bücher der größten Empörungsaktivisten veröffentlichen. Aber ach, das bisschen Widerspruch wird einfach überbrüllt: Ihr habt keine Empathie. Ihr interessiert euch nur für Weißwein.

Die Buchmesse ist kein Friedensplenum

Die Nazis hingegen haben die Provonummer auf der Messe offenbar ausgespielt und sich längst auf einen anderen, ihnen viel mehr Aufmerksamkeit bringenden Weg gemacht – an die polnische Grenze. Um den dort strandenden Flüchtlingen ohne Buchvertrag, ohne Kolumnenplatz und ohne Talkshowprominenz zu sagen: Ihr seid hier nicht willkommen.

Klar, es ist nicht ausgeschlossen, dass Schwarze auf der Buchmesse genauso wie überall anders im Land von Rassisten angepöbelt, bedroht oder gar tätlich angegriffen werden. Aber würden in einer deutschen Stadt so viel sicht- und unsichtbare private wie staatliche Sicherheitsdienste wie auf den Frankfurter Messegängen patrouillieren, würde man mit Recht von Überwachungsstaat sprechen.

Sicher, die Buchmesse selbst hat einen gehörigen Anteil daran, dass sie so wahrgenommen wird, als sei sie das globale Frühstücksplenum der Friedensfreunde dieser Welt. Was sie nicht ist. Die Buchmesse lässt nicht nur rechte, deutsche Verlage ausstellen, sondern sie lässt auch jeden Schurkenstaat und jede Diktatur von Russland über Saudi-Arabien bis Aserbaidschan ihre Propaganda verbreiten. Dass die Messe auch den Kritikern dieser Diktaturen Podien und Stände bietet, das ist die Meinungsfreiheit, von der sie spricht.

Da sich die Messe selbst aber als antifaschistische Vorfeldorganisation im Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit vermarktet und nicht schlicht als größter Markplatz für alles und jedes Buch, manövriert sie sich – zuletzt im Jahr 2009, als China Gastland der Buchmesse war – in unauflösliche Widersprüche.

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Gratismutiger Boykottaufruf

Nun aber haftet ihr dank des Schnappatmungsaktivismus das Bild an, dass ihre Stände und Bühnen bloß noch Tarnung seien, hinter denen Nazis ihren Provokationen und Mordfantasien an Schwarzen ungehindert nachgehen können.

Wo aber bleibt eigentlich die Empathie der Schnappatmungsaktivisten mit all den Journalisten und Schriftstellerinnen wie Can Dündar oder Aslı Erdoğan, die von einem ganzen Regime verfolgt werden und für die ein Auftritt auf der Buchmesse eine Gelegenheit ist, überhaupt öffentlich zu sprechen?

Alle diese Autoren und Autorinnen waren durch den gratismutigen Boykottaufruf dazu genötigt, ihre Anwesenheit auf der Frankfurter Buchmesse zu rechtfertigen. Für solche Feinheiten aber reicht die Empathie des Empörungsaktivismus nicht. Man müsste dazu halt kurz mal den Blick vom eigenen Bauchnabel abwenden.

Misstrauen gegen die Gesellschaft und die Institutionen dieses Landes, in dem der NS groß geworden ist und der NSU trotzdem viele Jahre lang unbeirrt und unbehelligt morden konnte, ist nicht nur berechtigt, sondern geboten. Doch Rassismusvorwurf und Bedrohungsszenarien laufen Gefahr, wegen Kurzschlusskampagnen wie dem Buchmessenboykott unter Fiktionsverdacht gestellt zu werden.

Passt natürlich perfekt zur Buchmesse, wo das Geschäft vor allem mit der Fiktion gemacht wird. Wie man hört, haben die Buchbranche und ihre Messe allerdings mit Bedeutungsverlust zu kämpfen.

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Doris Akrap
Redakteurin
Ressortleiterin | taz zwei + medien Seit 2008 Redakteurin, Autorin und Kolumnistin der taz. Publizistin, Jurorin, Moderatorin, Boardmitglied im Pen Berlin.