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Roman von Emine Sevgi ÖzdamarLeben unter vollen Segeln

Viele Jahre nach ihrem letzten Werk meldet sich Emine Sevgi Özdamar zurück. „Ein von Schatten begrenzter Raum“ ist ein reicher, wirbelnder Roman.

„Als ich über die Brücke lief, wackelte sie wie früher“: Meeresenge bei Istanbul Foto: Christopher Herwig

Ziemlich in der Mitte dieses langen, verschlungenen Romans der Erinnerung und der Vergegenwärtigung geht die Erzählerin in Istanbul über die Brücke am Goldenen Horn. Was folgt, sind einige Seiten konzentrierter, funkelnder, nein: geradezu funkensprühender Stadtbeschreibungsprosa. „Als ich über die Brücke lief, wackelte sie wie früher.“ So geht es los. Dann kommen Straßenverkäufer in den Blick, die Schiffe, die Möwen, die Stimmen der Menschen, die engen Straßen, Radiostimmen, die Schatten der Menschen, rennende Kinder, fahrende Züge, eine atemlose Collage einzelner Eindrücke. „Stimmen, Schatten, alles war Istanbul.“

Von dieser Szene aus lassen sich Bögen schlagen. Zurück etwa in das Werk dieser 1946 geborenen Autorin. „Die Brücke vom Goldenen Horn“ hieß der 1998 erschienene Roman, ihr bislang letzter, dessen großer Erfolg Emine Sevgi Özdamar endgültig auch einem breiten Lesepublikum bekannt gemacht hatte, bevor sie, auch weil sie sich in den 23 Jahren seitdem rargemacht hat und wenig von sich hören ließ, wieder ein bisschen vergessen wurde.

Das Buch

Emine Sevgi Özdamar: „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Suhrkamp, Berlin 2021. 763 Seiten, 28 Euro

Aber vielleicht lag dieses Wiedervergessen auch an den Einordnungen. Neben der Anerkennung ihrer großen erzählerischen Kraft lief in der gesamten Karriere dieser Schriftstellerin stets das Etikett der migrantischen Autorin mit, was bei aller Wertschätzung irgendwo auch ausdrückte: Nice to have, aber literarisch niemand aus der ersten Reihe. Weshalb sich ihr Werk nicht im deutschsprachigen Kanon festhaken konnte. Völlig zu Unrecht.

Bögen schlagen lassen sich aber auch innerhalb des Romans. Denn Istanbul ist in dieser Szene alles andere als eine vertraute Heimat. In ihr steckt ein Staunen über diese Stadt, eine ästhetische Einstellung ihr gegenüber, die nur hat, wer in ihr nicht fraglos zu Hause ist. Die Hauptfigur jedenfalls, wir befinden uns jetzt Anfang der 70er Jahre, ist schon weggewesen. Vor den türkischen Nationalisten ist sie nach Berlin ausgewichen, dann lebte sie eine Zeit lang in Paris, dann wieder in Berlin.

Zurückkommen in die Türkei musste sie wegen Passformalitäten. Und Istanbul sieht sie jetzt mit Augen, die vorher Berlin und Paris gesehen haben. Solche Perspektiven sind wichtig in diesem Roman: Es sind nicht die heimatlichen Verbindungen, es sind die Lebenserfahrungen, die die Blicke leiten.

Um Missverständnisse zu vermeiden, muss man gleich hinzufügen, dass hier kein Gegensatz zwischen der Türkei und Europa aufgemacht wird. Vielmehr sind Paris und Berlin auch ganz unterschiedliche Städte, und es geht Özdamar immer wieder darum, wie sich Erfahrungen verschränken. Den türkischen Militärputsch der 70er Jahre versteht sie mit einem Wort des Berliner Dichters Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne. Die Pariser Lebendigkeit steht im Kontrast zu den von den türkischen Nationalisten „getöteten“ Istanbuler Straßen. Aber, andere Perspektive, sowohl in Paris als auch in Istanbul kann man der Sehnsucht nachhängen, nicht aber in Berlin. Berlin ist eine Stadt, „die der Sehnsucht ständig eins ins Gesicht haute“. Und zwischendurch ist Özdamars Erzählerin in jeder dieser drei Städte und überhaupt an jedem Ort, an dem sie sich befindet, anders fremd.

Ein weites Ausholen

„Ein von Schatten begrenzter Raum“ holt weit aus und ist streckenweise ein wilder Erzählfluss von 760 Seiten, an dem, so heißt es, Emine Sevgi Özdamar zehn Jahre lang gearbeitet hat. Er umfasst den Zeitraum von den frühen Siebzigern bis nahezu heute; die Pariser Bataclan-Morde werden ebenso erwähnt wie aktuelle Ereignisse in der Türkei. Erinnerungen überstürzen sich, verschachteln sich. Es bilden sich thematische Cluster, etwa um die Erlebnisse am Theater oder in der noch geteilten Stadt Berlin. Die Sprache kann dabei geradezu körperliche Gestalt annehmen, etwa wenn die Erzählerin, es muss ein Schock gewesen sein, die noch kriegsbeschädigten Häuser im damals „müden“ Berlin sieht. Das sind für sie die „Boom-Häuser“, worauf sie hundertmal „boom“ aneinanderreiht.

Man zögert, das Buch einen historischen Roman zu nennen. Zwar ist vieles in ihm längst tief vergangen und von historischem Edelrost überzogen, die Sicht auf Kreuzberg etwa, die Ernsthaftigkeit, mit der Brecht verehrt wird, oder die Nouvelle-Vague-Emphase, die noch über den Paris-Episoden liegt. Doch es geht hier nicht darum, eine vergangene Epoche zu schildern. Vielmehr ist alles an diesem Buch auf Vergegenwärtigung ausgerichtet, darauf, die angesammelten Erlebnisse dieses reichen Lebens in die Gegenwart zu ziehen.

Besonders beeindruckend ist das beim ersten Paris-Aufenthalt gelungen. In Berlin hatte die Schauspielerin die Erfahrung gemacht, dass sie als Türkin ständig auf das Bild einer kopftuchtragenden Putzfrau festgelegt wird. „Du landest in der türkischen Schublade“, so heißt es einmal. In Paris nun, sie wirkt an Benno Bessons Insze­nierung von Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ mit, landet sie mitten in der Boheme. In der internationalen Szene von Künstlern, Exilanten und Tagedieben erfährt sie „dieses leuchtende Leben“. Paris ist hier ein reines Brausen. Gleichzeitig spricht sie zuerst noch kein Wort Französisch. Wie sie sich diese Sprache durch Nachahmung aneignet, das erzeugt auch beeindruckende Textpassagen.

Das Brausen verdichtet sich in einer beeindruckenden Bettszene – um Verliebtheiten geht es auch immer wieder –, in der die Autorin die Auflösung und Verschlingung der Körper so drängend und gleichzeitig so lässig beschreibt, dass man selbst so etwas Abgenudeltes wie die Bilder Picassos noch einmal wie neu vor seinem inneren Auge sieht – die Liebe „klebte mein rechtes Auge neben sein rechtes Auge, meinen halben Mund fand ich plötzlich neben seiner halben Wange …“. Auch die Fotos von Ara Güler hat man, wenn man das Buch liest, wieder vor Augen, die Chansons von Edith Piaf im Ohr, ach, Lust hat man, mal wieder Brecht zu lesen, am Meer zu stehen.

Es ist, alles in allem, keine „migrantische“ Erfahrung, die hier evoziert wird, und auch kein Leben „zwischen den Kulturen“, oder jedenfalls lässt sich das Buch nicht darauf festlegen. Eher geht es um so etwas wie Aufbruch, ein Leben unter vollen Segeln, um Entdeckungen, um Menschen, die man trifft, Zimmer, in denen man sich befindet, Türen, die aufgehen und sich schließen. Und dann allerdings auch immer wieder darum, dass so ein Leben an Grenzen stößt und verhindert wird.

Ihre glückliche Zeit begreift die Erzählerin als Phase, in denen die „Hölle eine Pause macht“. Die Hölle, das sind hier etwa der türkische Militärputsch von 1971 oder die islamistischen Terroranschläge aus jüngerer Zeit. So wird der Roman streckenweise auch zu einem Buch der Empörung und der Trauer. Die Gegenwart, das lässt sich deutlich herauslesen, ist nicht unbedingt Emine Sevgi Özdamars favorisierte Zeit.

Es ist ein reicher Roman über ein reiches Leben. Er dreht sich um eine einzelne Frau, um ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen, die Wörter, die sie findet, um sie zu beschreiben, und zugleich wirbeln die vergangenen fünfzig Jahre in ihm herum.

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1 Kommentar

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  • "Von dieser Szene aus lassen sich Bögen schlagen. Zurück etwa in das Werk dieser 1946 geborenen Autorin. „Die Brücke vom Goldenen Horn“ hieß der 1998 erschienene Roman, ihr bislang letzter,..."

    Das ist aber ein arger Fehler in der Besprechung, über die ich mich ansonsten sehr gefreut habe.



    Wie kann man denn nur ihr "Seltsame Sterne starren zur Erde" aus dem Jahr 2003 unterschlagen???



    Es gibt nur zwei Romane, die mich so gefesselt haben, dass ich sie in einer einzigen durchwachten Nacht lesen musste ... dies war einer davon.



    Und er hat mir - einem Menschen, der mit Lyrik bis dahin nicht viel anfangen konnte - Else Lasker Schüler näher gebracht ... ihre Gedichte, die im Roman eine wichtige Rolle spielen, verzauberten mich damals.

    Wer mehr wissen möchte: literaturkritik.de/id/6196