Mein Istanbul

Der Mond war so groß, als wohnte er nur an diesem Himmel, liebte nur Istanbul und polierte sich jeden Tag nur für diese Stadt. Eine wehmütige, aber auch heitere Liebeserklärung  ■ von Emine Sevgi Özdamar (Text) und Murat Türemis
(Fotos)

Nicht die Sommerflugzeuge, sondern die Winterflugzeuge brachten viele Menschen, die weinten, von Europa nach Istanbul, weil ihnen in der Türkei Vater oder Mutter gestorben waren. Ich saß vor drei Jahren in einem Winterflugzeug. Plötzlich stand eine Frau von ihrem Platz auf, warf sich auf den Flugzeugboden und fing an zu schreien.

Alle Leute erhoben sich. „Was ist los?“ Zwei Kinder der Frau waren in Istanbul bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und sie mußte zur Beerdigung. Die Stewardessen setzten sie wieder auf ihren Platz, hielten ihre Hand. Die Frau schrie: „Öffnet die Tür! Werft mich raus! Ich will sie im Himmel suchen.“ Sie schaute ständig aus dem Fenster, als sähe sie ihre Toten im Himmel. „Macht die Tür auf!“ Dann blickte sie die anderen Passagiere hinter sich an, als sollten sie alle mit ihr in den Himmel laufen, um ihre Toten zu suchen. Das Flugzeug sollte sich wie ein Auto nach links, nach rechts, nach hinten, nach vorne bewegen und die Toten suchen. Das Flugzeug aber flog geradeaus, als ob es an einer Stange durch den Himmel gezogen würde.

Als ich noch in Istanbul lebte, vor 25 Jahren, saß ich in einer Sommernacht auf einem Schiff, das mich von der europäischen zur asiatischen Seite fuhr. Die Teeverkäufer trugen Tee zu den Leuten. Der Mond war so groß, als wohnte er nur im Istanbuler Himmel, liebte nur Istanbul und polierte sich jeden Tag für diese Stadt. Wohin er schaute, würden sich sofort alle Türen öffnen, um ihn hineinwachsen zu lassen. Wohin man faßte, faßte man den Mond mit an.

Jeder hatte ein bißchen Mond in seinen Händen. Jetzt beleuchtet der Mond zwei Gesichter auf dem Schiff neben mir. Ein Junge, ein Mädchen. Er sagte: „Du hast also auch dem Mustafa deinen Schlüssel gegeben. Ich gehe. Auf Wiedersehen.“ Er sprang vom Schiffsdeck ins Mondlicht. Das Schiff befand sich genau in der Mitte zwischen Asien und Europa. Ohne etwas zu sagen, blieb das Mädchen im Mondschein auf ihrem Platz sitzen. Alle anderen Menschen eilten zur Reling, das Schiff neigte sich mit der Menschenmenge, auch die Teegläser rutschten mit ihren Untertassen in Richtung Reling.

Der Teeverkäufer schrie: „Teegeld! Teegeld!“ Ich fragte das Mädchen: „Kann er gut schwimmen?“ Sie nickte. Die Schiffsbesatzung warf dem Jungen zwei Rettungsringe hinterher, aber er wollte keinen. Das Schiff drehte und fuhr hinter dem Jungen her. Ein Rettungsboot holte ihn aus dem Meer. Das Schiff drehte wieder in Richtung asiatischer Teil, die Teeverkäufer fanden ihre Kunden und sammelten das Kleingeld ein. Plötzlich drehte das Schiff wieder in Richtung europäische Seite, weil es die Rettungsringe im Meer vergessen hatte.

Im Istanbuler Flughafen warteten die Menschen, ein langer Korridor aus Menschen, einige weinten. Wie viele Türen gab es jetzt in Istanbul? Zwölf Millionen Menschen, wie viele Türen machten sie auf? Und kann der Mondschein unter all den Türen hineinwachsen? Kann der Mond das schaffen?

Als ich ein Kind war, lebten in Istanbul vierhunderttausend Menschen. Unsere Nachbarin Madame Atina (“Athena“), eine Istanbuler Griechin, zog damals ihre älter gewordenen Wangen bis hinter ihre Ohren und klebte sie mit einem Klebeband fest. Ich sollte ihr dabei helfen. Sie sagte zu mir: „Ich bin eine Byzantinerin wie die Kirche Hagia Sophia, die in der Zeit des byzantinischen Kaisers Konstantin des Großen, 326 nach Christus, als eine Basilika mit Steinmauern und Holzdach gebaut wurde. In der Hagia Sophia glaubten die Byzantiner mehr als irgendwo sonst, Gott nahe zu sein. Auch ich glaube, in Konstantinopel dem Mond näher zu sein als irgendwo sonst auf der Welt.“

Mit dem Klebeband hinter den Ohren ging Madame Atina zum Obstladen. Ich ging mit ihr. Sie sah mit ihren nach hinten gezogenen Wangen jung aus, deswegen lief ich schnell. Sie wollte so schnell laufen wie ich und fiel dabei manchmal auf die Straße. Der Obstladenbesitzer war ein Muslim und scherzte mit Madame Atina: „Madame, ein Muslimengel ist gekommen, er hat seine Finger in das Loch einer Säule gesteckt und die Kirche Hagia Sophia in Richtung Mekka gedreht.“

Ich liebte die Hagia Sophia. Ihr Boden war uneben, und an den Mauern sah man Christusfresken ohne Kreuz. Aus dem Minarett sang ein Muezzin den Enzan, und in der Nacht schien der Mond auf Christus' Gesicht und auf das Gesicht des Muezzins.

Einmal fuhr Madame Atina mit mir auf dem Schiff Richtung asiatischer Teil. Ich war sieben Jahre alt. Meine Mutter sagte: „Schau, die Griechen aus Istanbul sind das Salz und der Zucker der Stadt.“ Und Madame Atina zeigte mir ihr eigenes Konstantinopel. „Schau, dieser kleine Turm am Meer. Der byzantinische Kaiser, dem man wahrgesagt hatte, daß seine Tochter von einer Schlange gebissen und getötet werde, ließ vor Üsküdar diesen Leanderturm (Mädchenturm) bauen und versteckte hier seine Tochter.

Als sich das Mädchen einmal nach Feigen sehnte und man ihr aus der Stadt einen Korb Feigen brachte, wurde sie von der Schlange, die sich im Korb versteckt hatte, gebissen und starb.“

Madame Atina nahm mein Gesicht in die Hände und sagte: „Mädchen, mit diesen schönen Augen wirst du vielen Männern die Herzen verbrennen.“ Die Sonne beleuchtete ihre rotgefärbten Fingernägel, hinter denen ich den Mädchenturm am Meer sah. Dann lief Madame Atina mit mir über die Brücke vom Goldenen Horn. Als ich über die niedrige Brücke, die sich mit den Wellen bewegte, ging, wußte ich noch nicht, daß Leonardo da Vinci einmal, am 3.Juli 1503, einen Brief an den Sultan geschrieben hatte. Der Sultan hatte am Goldenen Horn von ihm eine Brücke bauen lassen wollen; Leonardo machte in seinem Brief dazu Vorschläge. Ein anderer Vorschlag kam 1504 von Michelangelo. Aber Michelangelo hatte eine Frage: „Wenn ich diese Brücke bauen sollte – würde der Sultan verlangen, daß ich den muslimischen Glauben annehme?“

Der Franziskanerabt, der den Vorschlag des Sultans mit Michelangelo diskutierte, sagte: „Nein, mein Sohn, ich kenne Istanbul so gut wie Rom. Ich weiß nicht, in welcher dieser Städte mehr Sündige leben. Der ottomanische Sultan wird nie so etwas von dir verlangen.“

Michelangelo konnte die Brücke dann aber doch nicht bauen, weil der Papst dem Künstler drohte, ihn zu exkommunizieren. Jahrhundertelang bauten die Ottomanen keine Brücke zwischen den beiden europäischen Teilen Istanbuls, weil im einen Teil Muslime und im anderen Juden, Griechen und Armenier lebten. Nur Fischerboote fuhren die Menschen hin und her.

Der Sultan Mahmud II. (1808-1839) wollte endlich Muslime und Nichtmuslime zusammenbringen und ließ die berühmte Brücke bauen. Als sie fertig war, schlugen die Fischer mit Stöcken gegen die Brücke, weil sie ihnen die Arbeit weggenommen hatte. Die Brücke wurde zur Bühne: Juden, Türken, Griechen, Araber, Albaner, Armenier, Perser, Tscherkessen, Frauen, Männer, Pferde, Esel, Kühe, Hühner, Kamele – alle liefen über diese Brücke.

Irgendwann gab es zwei Verrückte, eine Frau, ein Mann, beide waren nackt. Der Mann stand am einen Ende der Brücke, die Frau am anderen. Sie schrie: „Ab hier ist Istanbul mein.“ Er schrie: „Ab hier ist Konstantinopel mein.“

Am Flughafen nahm ich ein Taxi. Seitdem Istanbul eine Zwölfmillionenstadt geworden war, fanden die Taxifahrer die Adressen nicht mehr. „Meine Dame, wenn du nicht weißt, wohin du willst, warum steigst du dann in mein Auto ein?“

Mit dem Taxi fuhr ich jetzt an dem Friedhof vorbei, auf dem meine Eltern begraben waren. Ich wußte nicht mehr, in welchem Grab mein Vater liegt. Ich wußte nur, daß man von seinem Grab aus das Meer sah. Seitdem Istanbul eine Zwölfmillionenstadt ist, verlangt die Friedhofsverwaltung von den Hinterbliebenen, das Grab zu kaufen, sonst würden neue Tote über die Toten gelegt.

Mein Bruder rief mich damals in Deutschland an: „Was sollen wir machen? Das Grab kaufen oder ihn zwischen anderen Toten verlorengehen lassen?“ – „Was denkst du?“ – „Wir können ihn mit anderen Toten zusammenlegen lassen, das paßt besser zu ihm.“ Da man in Istanbul keine Friedhofsbesuche macht, war es uns egal, wo die Toten liegen. Die Friedhöfe sind überall leer, es sind die einzig wirklich ruhigen Orte in der Stadt.

Der Taxifahrer fand die Adresse meiner Freundin nicht und schwitzte. Ich gab ihm ein Papiertaschentuch und sagte: „Fahren Sie mich zum Stadtzentrum.“ Vor dreißig Jahren hatte es in Istanbul einen Filmproduzenten gegeben, der nur traurige Geschichten verfilmte. Weil er sicher war, daß alle Zuschauer weinen würden, ließ er Taschentücher aus feiner Baumwolle herstellen. Er stand selber vor dem Kino und verteilte die Taschentüchter an die Besucher. Dabei lachte er.

Damals gab es in Istanbul einen berühmten Kinowahnsinnigen, der einen bestimmten türkischen Filmschauspieler besonders verehrte. Weil dieser Schauspieler in einer Rolle getötet wurde, kam der Verrückte eines Abends mit einer Pistole ins Kino und versuchte, den Mörder, bevor er schoß, selbst zu erschießen – und gab sechs Schüsse auf die Leinwand ab.

Istanbul liebt die Verrückten. Die Stadt gibt ihnen ihre Brust und stillt sie. Sie hat sich von mehreren verrückten Sultanen regieren lassen. Wenn ein Verrückter kommt, gibt Istanbul ihm einen Platz. Genau vor dem Kino, in dem der Verrückte auf die Leinwand geschosssen hatte, stieg ich aus dem Taxi.

Bevor ich vor 22 Jahren nach Berlin gegangen war, hatte ich oft vor diesem Kino auf meine Freunde gewartet. In den Gesichtern der Menschen suche ich meine Freunde von damals, aber ich suche sie in den jungen Gesichtern von heute, als wären meine Freunde in den 22 Jahren nicht älter geworden, als hätten sie mit ihren damaligen Gesichtern auf mich gewartet. Als wäre Istanbul in dem Moment, als ich nach Europa gegangen war, zu einem Foto erstarrt, um auf mich zu warten – mit all seinen Bädern, Kirchen, Moscheen, Sultanspalästen, Brunnen, byzantinischen Mauern, Basaren, Brücken, Feigenbäumen, Slumhäusern, Straßenkatzen, Straßenhunden, Läusen, Verrückten, Toten, Lebendigen, Huren, Dichtern, Lastträgern.

Ich bin da, jetzt werden sich alle Fenster öffnen. Die Frauen werden vom Fenster zu ihren Freundinnen hinüberrufen. Die Basilikumpflanzen werden duften. Die Kinder der Armen werden sich in ihren langen Baumwollunterhosen ins Marmarameer werfen, um sich zu waschen. Alle Schiffe zwischen Asien und Europa werden hupen. Die Katzen werden auf den Dächern nach Liebe schreien. Die Kinder werden auf die Feigenbäume klettern. Die Vögel werden an den Feigen picken. „Mutter, macht man von männlichen oder weiblichen Feigenbäumen Feigenmarmelade?“ – „Aus den männlichen. Schau, deren Feigen sind klein und hart.“

Dann rief ich den türkischen Philosophen an, der nicht in Berlin leben wollte. „Wo bist du?“ – „In Istanbul.“ Mit dem Schiff fuhr ich zu ihm hinüber zum asiatischen Teil. Neben dem Schiff fuhr ein Fischerboot, das zwei Pferde transportierte. Der Mond schien auf die Gesichter der Pferde.

Ich tauchte meine Hände ins Meer, um etwas Mondschein anzufassen, der Mond sah plötzlich aus wie in meiner Kindheit – als wohnte er immer nur hier im Istanbuler Himmel, als liebte er nur Istanbul und polierte sich jeden Tag nur für diese Stadt.

Emine Sevgi Özdamar ist Schriftstellerin und lebt in Düsseldorf; Murat Türemis fotografiert für die Agentur „laif“ Reportagen