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Streit um Brexit-Regeln für NordirlandSchwierige Protokollfragen

Großbritannien und die EU legen Ideen zur Lösung der Spannungen vor. Grundsätzliche Differenzen bleiben ungeklärt.

Protestanten demonstrieren Mitte September in Belfast gegen das Nordirland-Protokoll Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

Brüssel/Berlin taz | Im Dauerstreit zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich um das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrages haben jetzt beide Seiten ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt. Auf den britischen Entwurf eines Nachfolgetextes für das bestehende Protokoll antwortete die EU-Kommission am Mittwoch mit Vorschlägen, wie das Protokoll zwar unverändert bleiben, aber anders angewandt werden soll als bisher.

An Nordirland waren die Verhandlungen um den britischen EU-Austritt ab 2017 jahrelang festgefahren. Wie kann die innerirische Grenze komplett offen bleiben wie bisher, wenn sie eine EU-Außengrenze wird – ohne stattdessen eine EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Großbritannien zu ziehen, also innerhalb des Vereinigten Königreiches? Nur die Erfüllung beider Bedingungen garantiert einen Fortbestand des Nordirland-Friedens.

Eine 2018 vereinbarte Lösung – das gesamte Vereinigte Königreich verbleibt bis auf Weiteres im EU-Zollgebiet, der sogenannte Backstop – scheiterte im britischen Parlament, was die damalige Premierministerin Theresa May zum Rücktritt zwang. Der neue Premier Boris Johnson erfand im Oktober 2019 eine neue Lösung: Es verläuft zwar eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland, aber sie betrifft nur Waren aus Großbritannien für die Republik Irland, nicht für Nordirland.

Nach Inkrafttreten Anfang 2021 verstanden das beide Seiten aber unterschiedlich. Die Briten machten so wenig wie möglich und hofften, dass es nicht auffällt. Die EU bestand auf vollen Kontrollen, damit nur solche Waren in Nordirland verkauft werden, die mit dem europäischen Binnenmarkt kompatibel sind. Viele britischen Firmen stellten ihre Belieferung Nordirlands ein, weil ihnen das zu umständlich war. Es gab Unruhen, der Frieden in Nordirland – den die Regelung eigentlich bewahren soll – schien stärker gefährdet als seit Jahren.

London verlangt Neuverhandlungen

Am Ende setzte Großbritannien Kontrollen komplett aus und verlangte Neuverhandlungen. Es dürfe grundsätzlich keine EU-Zollkontrollen innerhalb des Vereinigten Königreiches geben, verlangt London – beispielsweise wenn britische Supermarktketten ihre nordirischen Filialen beliefern. Sonst behalte man sich Maßnahmen nach Artikel 16 des Nordirland-Protokolls vor, die einseitige Schritte zulassen, wenn die Anwendung des Protokolls „ernsthafte ökonomische, soziale oder ökologische Schwierigkeiten von Dauer“ verursacht.

Der britische Brexit-Chefunterhändler David Frost verwies am Dienstag in einer Rede darauf, dass das Protokoll entstand, als der Brexit noch in der Schwebe war und niemand wusste, ob jemals ein Freihandelsabkommen zustande kommt. Dies wurde Ende 2020 vereinbart, manches im Protokoll von 2019 sei damit überflüssig, argumentiert die britische Regierung.

Die EU-Kommission schließt hingegen eine Neuverhandlung aus. Sie ist bereit, die im Protokoll enthaltene „Flexibilität“ nutzen, weiter könne man aber nicht gehen, heißt es in Brüssel. Zu den genauen Vorschlägen, die am Mittwochabend vorgelegt werden sollten, gehört eine Lockerung der bisher sehr strikten Kontrollen – britische Medien haben vorgerechnet, dass bis zu 20 Prozent sämtlicher Warenkontrollen der EU gegenwärtig auf Nordirland mit seinen unter zwei Millionen Einwohnern entfallen.

Weiterhin will die EU die Einfuhr von „identitätsbezogenen Produkten“ (identity related products) nach Nordirland erlauben, beispielsweise tiefgekühlte Würstchen aus England, an deren faktischem Verbot in Nordirland sich im Sommer Streit entzündet hatte. Auch bei Medikamenten und Pflanzenschutzmitteln will die EU künftig nicht mehr so genau hinschauen: Das sind Bereiche, in denen viele britische Produkte zuletzt in Nordirland nicht mehr erhältlich waren. Die britischen Produkte sollen als solche gekennzeichnet werden, damit es keine Probleme im Binnenmarkt gibt.

Derzeit misstrauen sich beide Seiten

Wirtschaftskreise sehen in den EU-Vorschlägen eine gute Grundlage für eine Annäherung. Am Ende wird es darauf ankommen, ob sich die beiden Seiten vertrauen. Derzeit ist das nicht der Fall – das ist der politische Hintergrund des Streits.

Zum ökonomischen Hintergrund gehört, dass Nordirland enger mit Großbritannien wirtschaftlich verflochten ist als mit der Republik Irland. Im Jahr 2019 gingen 16 Prozent aller Verkäufe nordirischer Waren nach Großbritannien, nur sechs Prozent in die Republik Irland, und Nordirland bezog dreimal so viele britische wie irische Waren. Neuere amtliche Daten liegen nicht vor, aber erste Erkenntnisse deuten auf einen Rückgang des britischen Anteils hin.

Parallel dazu verlagert sich aber Großbritanniens Export in die Republik Irland auf den Umweg Nordirland, weil man damit EU-Kontrollen umgeht. Die direkten britischen Warenströme in die Republik Irland, hauptsächlich über den walisischen Hafen Holyhead, sanken zwischen Februar 2020 und Februar 2021 um 65 Prozent, während die über Nordirland, die aus Liverpool sowie die kleineren Häfen Heysham und Cairnryan verschifft werden, trotz Pandemie und Protokollstreit um 4 Prozent zulegten.

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7 Kommentare

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  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Großbritannien und die EU legen Ideen zur Lösung der Spannungen vor.""



    ==



    1.. Das was als Spannungen im Artikel benannt werden, sind real betrachtet die seltsamen Einfälle der rechtsradikalpopulistischen Regierung von Boris Johnson, das Nordirlandprotokoll, welches von BJ 2019 mit großem Getöse unterzeichnet wurde, nun nicht mehr anerkannt wird.

    2.. Der Kern des Problems: Boris Johnson erkennt die Grenze zwischen NI und UK als EU Außengrenze nicht mehr an. Das bedeutet, das UK über die nordirische Grenze ohne weiteres in der EU nicht zugelassene Lebensmittel mit Zusatzstoffen, die in der EU zu Recht verboten sind, in die EU liefern kann.

    Nebeneffekt: Das Ziel der Rechtradikalpopulisten, den gemeinsamen Markt zu zerschiessen wäre damit erreicht.

    3.. Es gibt defakto keinen einzigen ernst zu nehmenden Vorschlag der britischen Rechtsradikalpopulisten das Problem zu lösen.

    Was es gibt ist eine lange Liste von EU Vorschlägen, wie durch digitale Kontrolle der Warenströme von UK nach NI verhindert werden kann -- in Verbindung mit mehr Zollstellen in NI -- das verbotene Ware über NI in die EU transportiert werden kann.

    4..Der neue EU/Šefčovič-Vorschlag ist viel komplexer und umfassender bei der Kontrolle der Warenströme als die jetzige Durchführungspraxis zur Kontrolle des NIP.

    Genau das wollen Brexit Johnson und sein Frost verhindern.

    Was nun -- High Noon zwischen Johnson und den 27 Ländern auf dem Kontinent? - oder Lebensmittel, die zu Recht in der EU wie das berühmte Clorhuhn ""als unverträglich"" bezeichnet werden -- nun bald auf allen europäischen Mittagstischen?

  • So ein Murks wie das Nordirland-Protokoll kann nur zustande kommen, wenn die Verhandlungspartner völlig übernächtigt (oder besoffen) sind.



    Man hat zunächst versucht zu beweisen, dass 0=1 ist. Das ging nicht. Also hat man es mit der Gleichung 1=0 versucht, und siehe da, es klappte.



    Nordirland ist also gleichzeitig innerhalb und außerhalb der EU.



    Selten hat man einen Informatiker so zum Lachen gebracht wie mit derartigem Schwachsinn!

    • @Nairam:

      "Selten hat man einen Informatiker so zum Lachen gebracht wie mit derartigem Schwachsinn!"



      So ein Informatiker sollte besser einen sehr großen Bogen um Qubits und Artverwandtes machen.

    • 0G
      06438 (Profil gelöscht)
      @Nairam:

      ""So ein Murks wie das Nordirland-Protokoll kann nur zustande kommen, wenn die Verhandlungs-partner völlig übernächtigt (oder besoffen) sind.""

      ===

      Weder noch.



      Rechtsradikal-populismus auf der Seite der sogenannten britischen Regierung mit ungesundem bis zur Lächerlichkeit gesteigertem Ultranationalismus reicht völlig aus um den Eindruck totaler Volltrunkenheit zu erwecken.

  • Mit ist zunehmend unverständlich warum die EU wieder und wieder bereit ist Johnson immer noch weitergehende Zugeständnisse zu machen. Auch die aktuelle Regelung ist ja schon eine die den Wünschen aus London und den Notwendigkeiten in Belfast sehr weit entgegen kommt. Nun eine offene Grenze auf Irland beizubehalten und die Kontrollen in der irischen See im Wesentlichen zu einer Formalie mit nur sporadischer praktischer Anwendung zu reduzieren läuft letztlich darauf hinaus die Regulierungen zum Zugang zum Binnenmarkt aufzuweichen und darauf zu setzen, dass das so gerissene Loch klein genug ist um nicht allzuviel Schaden im Markt anzurichten.



    Wenn Johnson meint das Nordirland-Protokoll aussetzen zu wollen soll er das eben tun. Die mögliche Konsequenz einer Gewalteskalation in Nordirland ist ein Problem des UK, nicht der EU.

    • @Ingo Bernable:

      "Mit ist zunehmend unverständlich warum die EU wieder und wieder bereit ist Johnson immer noch weitergehende Zugeständnisse zu machen."



      Weil die EU in der schwächeren Position ist: sie nimmt auf die Iren bzw. den Frieden dort Rücksicht. Johnson ist das völlig egal.



      "Die mögliche Konsequenz einer Gewalteskalation in Nordirland ist ein Problem des UK, nicht der EU."



      Einmal davon ab, dass das Menschenleben kosten würde, ist die Republik Irland sehr dicht an Nordirland. Es steht zu bezweifeln, dass sich die Gewalt auf Nordirland begrenzen lassen würde, Stichwort wer hat Schuld am Ganzen -> EU.



      Damit ist es sehr wohl (auch) ein Problem der EU. Und damit... siehe oben.

      • @Encantado:

        "Weil die EU in der schwächeren Position ist"



        Das sehe ich nicht so.



        "Einmal davon ab, dass das Menschenleben kosten würde"



        Ja, das Argument sehe ich durchaus auch, allerdings hat man ja bereits sehr viele Zugeständnisse gemacht und wenn die Britische Regierung partout nicht mit den noch gerade so eben möglichen und praktisch umsetzbaren Kompromissen leben will, lässt sich der Friede in Nordirland eben auch nicht von Brüssel aus erzwingen.



        "Es steht zu bezweifeln, dass sich die Gewalt auf Nordirland begrenzen lassen würde"



        Die EU mag ja in vielerlei Hinsicht bürokratisch und ineffizient wirken, aber für Grenzsicherung gib es bei Frontex genug Expertise (siehe Mittelmeer, Griechenland, Polen).