Coronapolitik in Neuseeland: Eingesperrt und dankbar
Wer nach Neuseeland einreist, muss in Quarantäne. Wie fühlt sich das an, 14 Tage lang isoliert in einem Hotel? Ein Erfahrungsbericht.
M ein Erdgeschosszimmer im Sudima-Hotel in Christchurch bekommt weder direktes Sonnenlicht noch frische Luft. Das Fenster kann man nicht öffnen. Der Blick geht hinaus auf Mülltonnen und zwei Metallzäune. Einmal täglich kann ich eine Stunde auf einem abgesperrten und von Soldaten bewachten Parkplatz im Kreis laufen. Mein Essen wird mir in Pappcontainern vors Zimmer gestellt, die Tür darf ich nur mit Maske öffnen. Besuch ist nicht erlaubt. Ich schätze mich glücklich, dass ich meine Tage so verbringen darf.
Als mein Vater Anfang Juli im Sterben lag und ich mich überstürzt auf den Weg nach Deutschland machte, wusste ich nicht, ob ich Neuseeland, wo ich mit doppelter Staatsbürgerschaft lebe, in vier Wochen oder in sechs Monaten wiedersehen würde. Erst nach meiner Landung in Frankfurt kam die erlösende Zusage vom Managed Isolation and Quarantine (MIQ), der staatlichen Verwaltung der limitierten Quarantänezimmer in dafür umgerüsteten Hotels. Die drei Großbuchstaben sind zum Politikum geworden. Für Millionen Kiwis bedeuten sie Freiheit, für viele jedoch schreiende Ungerechtigkeit.
Ich bekam meinen MIQ-Platz nur deshalb zugewiesen, weil mein Vater laut ärztlichem Attest, das ich mit meinem Eilantrag einreichen musste, nicht mehr lange zu leben hatte. Eine Ausnahmeregelung, für eine Beerdigung allein hätte sie nicht gegolten. Ohne diese Papiere säße ich jetzt noch in Europa fest, ohne eine Chance, vor Dezember nach Hause zu kommen. Denn bis dahin ist MIQ ausgebucht, es gibt zu wenige Plätze – für Tausende von Kiwis im Ausland mit dem Wunsch auf eine baldige Rückkehr eine extrem belastende Situation. Deshalb ertrage ich den zweiwöchigen Luxusknast mit Dankbarkeit.
Der Weg nach Neuseeland glich einer Science-Fiction-Szene. Der Flughafen von Singapur, dem Zwischenstopp: eine Geisterstadt, alle Läden und Restaurants geschlossen, die Sitzbänke mit Plastikfolie umwickelt. An jeder Ecke stand Bodenpersonal in blauer Schutzkleidung und Visier bereit. Wir waren nur neun Passagiere für den Flug nach Christchurch. Wie eine Sträflingskolonne marschierten wir hinter einer Singapore-Airlines-Angestellten durch den halbdunklen menschenleeren Terminal zu unserem Gate, kein Ausscheren war erlaubt. Die Zwangsisolation hatte bereits begonnen.
Das Flugzeug war leer und daher komfortabel wie nie zuvor – ein seltsames VIP-Gefühl. Bei der Ankunft wartete ein Bus auf uns. Ein Kommandant der Armee erklärte uns freundlich, was uns die nächsten 14 Tage erwartet. Erst beim Aussteigen sah ich, welches Hotel unsere Kohorte bezieht. Ich konnte Diätwünsche angeben. Auf Schildern stand, dass Fotografieren verboten ist. Ich bekam meine Zimmerschlüsselkarte und lief an der verwaisten Hotelbar vorbei, an der niemand sitzen darf. Ab dann war ich allein hinterm eisernen Vorhang.
Paradiesisches Paralleluniversum
Als Premierministerin Jacinda Ardern Mitte März letzten Jahres nach der Devise „streng und schnell“ handelte, um die Pandemie im Keim zu ersticken, schloss sie zwei Wochen nach der ersten Corona-Infektion im Lande als Erstes die Grenze. Wer noch eingereist war, musste privat in die Selbstisolation. Seit Anfang April ist die Quarantäne daheim nicht mehr erlaubt. 34 leerstehende Hotels in fünf Städten wurden zu staatlich überwachten Quartieren umgewandelt.
Dank dieser Anti-Viren-Schleuse zählt der Pazifikstaat seitdem zu den Inseln der Glückseligen und wird für seine Eliminationsstrategie vom Rest der Welt beneidet: nur 26 Covid-Tote, der erste Lockdown nur sieben Wochen lang und seitdem ein Leben ohne Masken, Distanz oder Homeschooling. Dieses paradiesische Paralleluniversum, wo ich mich seit einem Jahr mit anderen unbeschwert auf Musikfestivals, Hochzeiten und Skipisten drängeln konnte, hat jedoch seinen Preis. Man kann nicht mehr einfach einfliegen, egal ob getestet oder geimpft. Wir sitzen im goldenen Käfig.
Damit liegt nicht nur der Tourismus, Neuseelands größter Wirtschaftszweig, flach. Viel härter als Besucher, Geschäftsreisende oder Auswanderer, deren Pläne durchkreuzt wurden, hat es all die Kiwis getroffen, die aus dringenden beruflichen, medizinischen oder familiären Gründen befristet das Land verlassen wollen – und Tausende Neuseeländer im Ausland, die seit Monaten vergeblich versuchen, in ihre Heimat zurückzukehren.
Theoretisch steht ihnen als Staatsbürger und dauerhaft Aufenthaltsberechtigte die Grenze offen, solange sie die obligatorische Isolationsprozedur durchlaufen. Praktisch ist das jedoch unmöglich geworden, da die Plätze bis Ende November ausgebucht sind. Neue gibt es noch nicht, das MIQ-System sieht keine langfristigen Buchungen vor. Der Engpass sorgt für böses Blut und ist zum Politikum geworden.
Hoffnungslose Suche nach einem Quarantäne-Platz
Wer keine Zusage hat, wird gar nicht erst ins Flugzeug Richtung Auckland oder Christchurch gelassen. Raus aus dem goldenen Käfig kommt man zwar, aber nicht wieder rein. Werden doch mal einzelne Plätze frei, werden diese innerhalb von Sekunden weggeschnappt. Die Zeit, die es braucht, um die MIQ-Webseite zu aktualisieren und sich durchzuklicken, ist zu lang. Suchende sitzen daher wochenlang in jeder freien Stunde am Computer und drücken im Minutentakt auf das „refresh“-Zeichen. Reisebüros empfehlen ihren verzweifelten Kunden einen Twitter-Link, der Benachrichtigungen rausschickt. Oder einen Service in Indien, wo man zahlt, damit andere für einen klicken.
Da all das nicht zum Erfolg führt, heißt das neue Zauberwort „script“: ein Computerprogramm, das ähnlich wie ein Bot funktioniert und legal einen Vorsprung von Sekunden gewinnt. Das macht es für Menschen ohne Technikkenntnisse jedoch noch schwerer als zuvor. Der ungleich geführte Wettkampf wirft ethische Probleme auf. Für diese virtuelle Hürde wird das Arbeitsministerium, dem MIQ untersteht, scharf kritisiert. Filmemacher David Farrier in Los Angeles und Dichterin Hinemoana Baker in Berlin beklagen, dass sie wie Tausende Kiwis Tag und Nacht auf der Jagd vor dem Bildschirm sind, ohne jede Hoffnung. Die Behörde reagiert schließlich auf den Leidensdruck und will sich den technischen Problemen stellen – mit Wartelisten oder einer Lotterie, ähnlich wie bei der Greencard. „Es gibt keine goldene Lösung“, so MIQ-Chefin Megan Main.
Das frustriert die Wartenden, die sich in Gruppen namens „Reconnecting New Zealanders with New Zealand“ oder „Grounded Kiwis“ organisiert haben. Dort finden sich tragische Fälle wie die Risikoschwangere, die im siebten Monat mit einem auslaufenden Transitvisum in den USA festhängt. Ohne eine Krankenversicherung entstehen für sie dort horrende Kosten bei der Entbindung, anschließend wird sie deportiert. Jedoch nicht zurück nach Neuseeland, denn ihr Antrag auf einen MIQ-Platz wurde bereits fünf Mal abgelehnt. Oder ein elfjähriger Junge mit Hirntumor, der für eine lebensrettende medizinische Behandlung mit seiner Familie nach Texas flog. Sie haben keine Chance auf eine baldige Rückkehr. „Zur Not müssen wir schwimmen“, sagt der Vater.
Über 100.000 Menschen konnten seit dem Beginn der Pandemie zurückkehren und durchliefen das MIQ-System. Es gab Pannen, Sicherheitsverstöße und immer wieder skurrile bis spektakuläre Ausbrüche. Das Militär verwaltet und überwacht die Einrichtungen mit Hilfe von Security-Firmen. Statt sich für Naturkatastrophen oder Terroranschläge zu rüsten, teilen Neuseelands Soldaten jetzt Essenrationen in gespenstisch leeren Hotelfluren aus.
Ein kurzes Klopfen heißt für mich, dass die braune Papiertüte mit einer Mahlzeit davorsteht. Es gibt jedes Mal reichlich, allerdings kein Geschirr. Ich kann zusätzlich Bestellungen im Supermarkt machen und über den Zimmerservice Alkohol in begrenzten Mengen ordern. Diese Extras bezahlt jeder Gast selbst, zusätzlich zu den umgerechnet 1.800 Euro, die zwei Wochen im Einzelzimmer kosten. Ein Drittel der Rückkehrer hat seine Rechnung jedoch noch nicht bezahlt.
Zu sehen bekomme ich von meinen Betreuern niemanden bis auf die Krankenschwestern, die täglich Temperatur messen und am ersten Tag einen Nasenabstrich machen. Am dritten und 12. Tag wird die Prozedur wiederholt. Vom letzten Ergebnis hängt die Entlassung ab. Wer sich weigert, den PCR-Test zu machen, kann bis zu 28 Tage festgehalten werden. Solche Coronaleugner gab es auch im Sudima-Hotel. Eine Frau ging in den Hungerstreik, während sie sich in Video-Interviews von ihren rechtsextremen Unterstützern anfeuern ließ. Neuseelands Verschwörungsprophet Billy Te Kahika Junior protestierte im April vor MIQ-Hotels gegen die Verwahrung von „politischen Gefangenen“ und „Internierten“.
Die Auswertung meines ersten Tests dauert 30 Stunden. Erst dann bekomme ich ein blaues Armband, das mich als Negative ausweist und bedeutet, dass ich am nächsten Tag zum ersten Mal seit meinem Rückflug wieder an die Luft darf. Mit jedem Abendessen kommt ein Newsletter mit aufmunternden Infos und Denksportaufgaben und ein Zettel mit den Ausgehzeiten. Nur dann darf ich meinen Abfall in die Tonnen werfen. Der ventilierte Flur wird mit Sicherheitskameras überwacht.
Es ist verboten, Dinge aus den Zimmern mit anderen zu tauschen und gemeinsam den Lift zu benutzen. All das entnehme ich der 50-seitigen Willkommensbroschüre. Sie macht vor allem Mut – und inspiriert mit Fotos von bemalten Essentüten, die zu Kunstwerken umgewandelt wurden. Telefonseelsorge und andere psychologische Dienste sind dort ebenfalls aufgelistet. Es menschelt auch ohne Menschen. Einmal täglich ruft das Wellbeing-Team an und fragt, wie es mir geht. Gut soweit.
Mein gesamter Flügel hat nachmittags eine Stunde Hofgang auf dem Parkplatz, der mit doppelten Zäunen und Sichtschutz abgeriegelt ist. Es gibt eine Raucherecke und einen toten Winkel mit einem Loch im Zaun, wo man über drei Meter Entfernung mit der Außenwelt reden kann – ähnlich wie ein Besucherzimmer im Gefängnis und ungefähr so gemütlich. Sportgeräte oder andere Gegenstände außer Handy und Kopfhörer sind nicht erlaubt, Feuerzeuge dürfen nicht verliehen werden. Der Wachmann in der Ecke macht aber gerne ein Schwätzchen. Rennen darf ich draußen nicht – eine neue Regelung seit der Deltavariante. Beim Atmen zirkulieren sonst zu viele Aerosole.
Ich versuche, schnell zu laufen, um mir mehr Bewegung zu verschaffen. Das geht nur, indem ich immer wieder anderen ausweiche oder mich ihrem Uhrzeigersinn im gleichen Tempo anschließe. Der Hof ist voll. Eine Gruppe von Olympia-Rückkehrern aus Tokio ist in der gleichen Woche gelandet und füllt fast das ganze Hotel. Deshalb kam ich zur Begrüßung in den Genuss einer Präsenttüte, voll mit Süßigkeiten, dazu eine Karte: „Wir sind stolz auf dich. Willkommen daheim!“
Eine Zimmernachbarin macht beim Hofgang Scherze, dass sie auf dem Bügeleisen Spiegeleier braten oder Schmuggelware im Gebüsch verstecken könnte. Die Stimmung ist gelöst. Es ist wie ein Mini-Lockdown mit Vollverpflegung. Ich habe mir mein Rennrad bringen lassen und kann damit auf Rollen im Stand fahren. Ein Blumenstrauß verschönert jetzt mein Zimmer. Und draußen sind nicht nur Mülltonnen, sondern auch zwei Vogelnester zu sehen.
Dass Spitzensportler und internationale Entertainer bevorzugt MIQ-Plätze bekommen, sorgt bei den egalitären Kiwis für böses Blut. Drag-Star RuPaul und die Besatzung des nächsten „Avatar“-Films aus Hollywood kamen genauso problemlos ins Land wie dringend benötigte Fachkräfte in Spezialberufen. Für März hatte sich die australische Kinder-TV-Band The Wiggles angekündigt und bereits Konzertkarten verkauft, aber sich nicht rechtzeitig um die Quarantäne gekümmert. Das Ministerium machte kurzfristig Extraplätze locker. Die Wiggles bekamen daraufhin Morddrohungen.
Proteste gegen Prominenten-Bonus
Knapp die Hälfte der 4.000 MIQ-Zimmer wird für Prominente, humanitäre Ausnahmefälle, unverzichtbare Arbeitskräfte und terminlich gebundene Aktionen wie Olympia oder America’s Cup freigehalten. Dass etliche davon leerstehen, ist ein Skandal für Alexandra Birt, eine neuseeländische Anwältin aus der „Grounded Kiwis“-Gruppe. Sie startete eine Petition ans Parlament, um das MIQ-System zu verbessern. Seit August hat sie über 12.000 Unterschriften gesammelt.
George Fenwick, der in London lebt, schrieb sich seine Gefühle über die Schattenseite von Neuseelands bisherigem Covid-Erfolg im New Zealand Herald von der Seele: „Ich kann nicht glauben, dass ich nach 18 Monaten in einer Pandemie noch immer nicht nach Hause kommen kann. Wir haben das Glück, eine kluge, empathische Regierungschefin zu haben. Das war mal ein schönes Gefühl. Aber es ist schwer, auf ein Land stolz zu sein, das einem den Rücken zukehrt.“
Während ich im Flugzeug von Singapur nach Christchurch saß, ereignete sich ein weiterer historischer Moment: Jacinda Ardern kündigte vorletzte Woche an, vorsichtig die Grenze öffnen zu wollen, sobald sich das Impftempo beschleunigt. Noch in diesem Jahr soll es einen Pilotversuch geben. Geschäftsreisende aus Neuseeland, die nur kurz außer Landes müssen, dürfen die Isolation vorerst zu Hause absitzen. Im ersten Quartal 2022 soll es neue Einreisekriterien geben und die Quarantäne-Auflagen für Geimpfte oder Länder mit niedrigem Covid-Risiko sollen gelockert werden.
Die Entschärfung wurde von einem Regierungsberater mit dem Satz begrüßt, Neuseeland dürfe nicht zum „Nordkorea des Südpazifik“ werden. Doch die Lobbyisten von „Grounded Kiwis“ waren nicht zufrieden. Denn es fehlten konkrete Angaben zur zukünftigen Verteilung der umkämpften Quarantäneplätze.
Wie sich die Reisesituation in einem Jahr entwickeln wird, wenn ich das nächste Mal meine Familie in Deutschland besuchen möchte, weiß ich nicht. Aber die kommenden Tage liegen klar vor mir: jeden Tag stur im Kreis laufen und dabei einen Podcast über das US-Gefängnis San Quentin hören.
Wenn ich diesen Dienstag hoffentlich entlassen werde, kehre ich jedoch nicht mehr ins Covid-freie Leben zurück. Die Deltavariante hat auch Neuseeland erreicht, seit letzter Woche ist das Land im Lockdown. Die Virusmutante kam am 7. August durch einen australischen Flugpassagier ins Land. Dessen Zimmernachbarn im Quarantäne-Hotel steckten sich vermutlich an, als sekundenlang die Türen gleichzeitig offenstanden. Ich schaue jetzt immer erst durch den Türspion, bevor ich meine Papiertüte reinhole.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen