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Menschenrechtler zu Gefechten in Nahost„Ganze Familien kamen um“

Human Rights Watch wirft Israel „offenkundige Kriegsverbrechen“ im Krieg gegen die Hamas im Mai vor. Menschenrechtler Gerry Simpson erklärt, warum.

Mai 2021: Rauchschwaden über Gaza-Stadt nach israelischem Militärschlag Foto: Hatem Moussa/ap
Interview von Marina Klimchuk

Zwei Monate nach den Gefechten zwischen Israel und militanten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Israel „offenkundige Kriegsverbrechen“ vorgeworfen. Am Dienstag veröffentlichte sie den ersten Teil eines Berichts. Dieser stützt sich auf eine Untersuchung von drei israelischen Luftangriffen, bei denen 62 palästinensische Zi­vi­lis­t:in­nen starben. Ein zweiter Teil zu Aktionen militanter Palästinenserorganisationen soll im August erscheinen.

Bei den 11-tägigen Auseinandersetzungen im Mai waren mindestens 256 ­Pa­lästi­nenser:innen, darunter 66 Kinder, getötet worden; auf Israel flogen 4.360 Raketen und Mörsergranaten, denen 13 Menschen, darunter zwei Kinder, zum Opfer fielen.

taz: Herr Simpson, weder Israel noch palästinensische Behörden gehen ihrer Verantwortung nach, Kriegsverbrechen zu untersuchen. Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Veröffentlichung Ihres Berichts?

Gerry Simpson: Unser Ziel ist es, dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) den Weg zu einer eingehenden Untersuchung zu weisen. Dieser hat in diesem Jahr zum ersten Mal die Gelegenheit, zeitnah zu ermitteln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Unsere Recherchen zu drei israelischen Luftangriffen zeigen, dass durch Angriffe israelischer Streitkräfte ganze Familien umkamen, ohne dass es in der Nähe militärische Ziele gab: zum Beispiel in einem Wohnhaus, in dem Zi­vi­lis­t:in­nen schliefen. Auf unsere Nachfrage hin wich das israelische Militär mit einem sehr allgemein gehaltenen Antwortschreiben aus. Bei einer Ermittlung des IStGH könnte sich die Armee so etwas nicht leisten.

HRW
Im Interview: Gerry Simpson

58, ist stell­vertretender Direktor für Krisen und Konflikte bei der Menschen­rechtsorganisation Human Rights Watch. Er lebt in Seattle und Genf.

Israel brüstet sich damit, die moralischste Armee auf der Welt zu haben. Die israelische Journalistin Amira Hass behauptet aber, dem Innenministerium liege das gesamte Bevölkerungsregister der Be­woh­ne­r:in­nen in Gaza vor und die Regierung nehme bewusst „Kollateralschäden“ an palästinensischen Zi­vi­lis­t:in­nen hin.

Diese These ist stark. Wir können nur spekulieren und das macht die Rolle des IStGH so wichtig. Nach dem Kriegsvölkerrecht ist das Militär verpflichtet, Zi­vi­lis­t:in­nen zu schützen. Wenn Menschen dennoch sterben, muss die Proportionalität zur militärischen Notwendigkeit bei der Kampfführung nachgewiesen werden, etwa wenn ein ranghoher Hamas-Kämpfer aufgespürt wird. Wie viele Menschenleben werden dafür von der Armee als legitim erachtet? Und warum? Das sind wichtige Fragen, auf die uns Antworten fehlen, denn oft haben wir keine zuverlässigen Angaben zu den Angriffszielen.

Bei einem der Angriffe behauptet das Militär, die Zi­vi­lis­t:in­nen seien von eigenen palästinensischen Raketen getroffen worden. Die Luftbilder, die von der Armee als Beweis aufgeführt werden, belegen das aber nicht wirklich. Unsere Ermittlungen zeigen, dass der Angriff von Osten, also von israelischer Seite kam und es sich um einen Fernflugkörper handelte, der Menschen unter freiem Himmel angreift.

Israelische Angriffe verursachten zwanzigmal mehr Opfer als die Raketen der Hamas. Was tut die Hamas zum Schutz ihrer Zivilbevölkerung?

Im August wird eine Untersuchung erscheinen, die Raketenangriffe militanter palästinensischer Gruppen auf israelischem Territorium untersucht, und solche, die fehlschlugen und versehentlich in Gaza explodierten. Bisher fehlen uns Angaben, ob diese Gruppen auch Raketen aus Wohngebieten abfeuerten. Aber wenn Angriffsziele in dicht besiedelten Wohngebieten platziert werden, bedeutet das, sie verstoßen gegen das Kriegsrecht, indem sie vorsätzlich Zi­vi­lis­t:in­nen in Gefahr von Militäraktionen bringen.

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6 Kommentare

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  • Es ist also nach Ansicht von Human Rights Watch ein "offenkundiges Kriegsverbrechen", wenn Zivilisten getroffen wurden, in deren Nähe sich kein militärisches Ziel befand. Dies zugrunde gelegt, müsste Human Rights Watch jede einzelne von der Hamas in Richtung Israel abgefeuerte Rakete ebenfalls als offenkundiges Kriegsverbrechen werten. Denn die Hamas schießt die Raketen nicht selektiv auf militärische Ziele, und die Raketen haben auch gar nicht die entsprechende Zielgenauigkeit. Jede Hamas-Rakete hat das Potential, wahllos Zivilisten in Israel zu töten, und genau dies ist auch beabsichtigt. Todesopfer durch fehlgehende Raketen im Gaza-Streifen selbst lassen sich auch nicht vermeiden und werden folglich billigend in Kauf genommen.

    Da fragt man sich, was Human Rights Watch bezüglich der Hamas-Raketen eigentlich noch groß untersuchen will und warum der diesbezügliche Bericht erst im August erscheinen soll. Die getrennte Veröffentlichung der Berichte ist dazu geeignet, einseitig Schlagzeilen gegen Israel zu produzieren, indem eine direkte Gegenüberstellung der Handlungen vermieden wird. Zudem wird zuerst der Israel betreffende Bericht veröffentlicht, was die tatsächliche Reihenfolge - erst hat die Hamas geschossen, dann hat Israel zurückgeschlagen - umkehrt.

    Und es verstößt nicht nur gegen das "Kriegsrecht", militärische Ziele in Wohngebieten zu platzieren und die dort wohnenden Zivilisten in Gefahr zu bringen. Das Hauptverbrechen der Hamas liegt vielmehr darin, dass sie ständig neue Angriffskriege beginnt, sobald sie wieder genügend Raketen hat. Ohne diese Angriffe wäre ein Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza gar nicht nötig. Darüber verliert der Mann von Human Rights Watch kein Wort.

    • @Budzylein:

      Erinnert mich an den alten Song: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt."

  • "Was tut die Hamas zum Schutz ihrer Zivilbevölkerung?"

    Wenn man den Berichten aus der Gegend trauen kann, benutzt die Hamas die Zivilbevölkerung als "menschliche Schutzschilde" stationiert und lagert also Raketen besonders in Wohngegenden.



    Das scheint mir genau das Gegenteil von "Schutz"

  • Es wurde damals viel Lob und große Verständnis gegeben für die Operation.



    Inklusiv bei unserer Zeitung TAZ.



    Trotz aller Warnungen oder Kritiken von unabhängiger Leute oder Orgnizationen.

    Jetzt kommt es raus, dass Kriegsverbrechen passiert sind.



    Was soll man jetzt sagen?

    • @Robert Boyland:

      Ja, was soll man jetzt sagen? Selbst "die moralischste Armee auf der Welt" tut sich eben schwer, einen sauberen Krieg zu führen, wenn der Gegner eine der unmoralischsten Terrororganisationen auf der Welt ist, die ihre eigene Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht und sich bei ihren eigenen Aktion noch nicht einmal Mühe gibt, auf militärische Ziele zu zielen, sondern ihre Raketen von vorneherein auf Wohngebiete schießt.

    • @Robert Boyland:

      Braucht man nichts dazu sagen - der Bericht wird wahrscheinlich bald als antisemitisch gebrandmarkt und verschwinden.