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Aktivistin über Frauen in Afghanistan„Kaum jemand traut sich raus“

Durch die Machtübernahme der Taliban können Initiativen wie „Vision for Children“ nur noch eingeschränkt Hilfe leisten, sagt die Aktivistin Hila Limar.

Künftig wohl eher nicht möglich: Besuch von Hila Limar (oben links) bei afghanischen Mädchen Foto: Visions for Children
Interview von Simeon Laux

taz: Frau Limar, wie geht es der afghanischen Community in Hamburg nach den jüngsten Entwicklungen in Afghanistan?

Hila Limar: Die afghanische Community weltweit ist von den Ereignissen in Afghanistan bewegt und auch hier in Hamburg wühlt das alle extrem auf. Viele fühlen sich in frühere Zeiten zurückversetzt und befürchten, dass sich die Geschichte wiederholt und es wieder so sein wird wie im Taliban-Regime 1996.

Sie selbst haben Familie, Freunde und Kollegen vor Ort. Wie geht es ihnen?

Meinen elf lokalen Kol­le­g*in­nen in Herat, Kabul und Masar-e Scharif geht es den Umständen entsprechend gut. Wir sind in ständigem Austausch und kommunizieren teilweise stündlich. Unsere Kol­le­g*in­nen haben uns zum Beispiel über die Einnahme von Masar-e Scharif informiert, bevor das in den Medien war. Meine Familie und Freund*innen, die hauptsächlich in Kabul leben, halten sich seit dem Vormarsch der Taliban zu Hause auf und warten das Geschehen ab. Sie versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten und meiden es, aus dem Haus zu gehen. Es traut sich kaum jemand auf die Straße.

Was hören Sie von Ihren Angehörigen über die Stimmung in der Gesellschaft?

Grundsätzlich herrscht eine allgemeine Ungewissheit, wie es weitergeht. Nachdem sich der afghanische Präsident abgesetzt hat, haben nochmal viele Menschen die Hoffnung verloren, dass es zu einer Übergangsregierung und zu einer demokratischen Form der Politik kommen könnte. Ich glaube, dass all diese Sachen Angst und Panik auslösen.

Sie sind mit drei Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Wie geht es Ihnen persönlich damit?

Es ist für uns alle eine sehr schwierige Situation. Ich bin durch meine Arbeit, aber auch durch meine Wurzeln sehr eng mit Afghanistan verbunden. Durch die Geschehnisse der letzten Monate und der allgemeinen Situation in Afghanistan habe ich ein bisschen gefasster darauf reagiert. Gerade die Bilder der letzten Tage und die teilweise Hilflosigkeit und Verzweiflung der Menschen geht mir aber sehr nahe.

Im Interview: Hila Limar

33, ist in Afghanistan geboren und in Hamburg aufgewachsen. Die Architektin ist seit 2009 Vorstandsvorsitzende des gemeinnützigen Vereins Visions for Children, der sich von Hamburg aus dafür einsetzt, dass weltweit jedes Kind lesen und schreiben lernen kann. Dafür fördert er die Schulbildung in Krisengebieten, vor allem in Afghanistan und Uganda.

Ihr Verein „Visions for Children“ setzt sich für die Bildung von Kindern in Afghanistan ein. Inwiefern sind Ihre Projekte betroffen?

Wir haben ein Schulprojekt für sehbehinderte Kinder in Herat, zwei Projekte in Kabul und eines in Masar-e Scharif. Den letzten Informationen nach gehen zumindest in Herat weiterhin alle Kinder zur Schule. Sowohl die Mädchen als auch die Jungs. In Kabul und in Masar-e Scharif sind die Schulen dagegen aus Sicherheitsgründen erst mal geschlossen. Wir wissen nicht, wann die Kinder wieder in die Schule können.

Was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban für die Kinder, gerade für die Mädchen?

Die größte Befürchtung ist, dass die Taliban die Mädchen wieder vom Bildungssystem ausschließen. Wenn man ihren Aussagen Vertrauen schenken möchte, dann wollen sie das nicht. Frauen sollen demnach angeblich weiter an der Gesellschaft teilhaben. Die Lage ist derzeit aber so dynamisch, dass wir nicht wissen, ob die Situation so bleibt und ob diese Aussagen auch noch morgen gelten. Was für uns hoffnungsvoll ist, dass die Kinder in Herat momentan alle in der Schule sind. Das liegt möglicherweise daran, dass Herat zwei Tage vor Kabul eingenommen wurde. Ich kann derzeit aber auch nur für unsere Projektstandorte sprechen. Wie es darüber hinaus aussieht, weiß ich nicht.

Das versprechen die Länder:

Bremen bietet bis zu 150 Unterbringungsplätze für afghanische Ortskräfte und deren Familien an.

Hamburg will mindestens 200 Menschen aufnehmen – „unmittelbar & unbürokratisch“, twitterte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).

Niedersachsen nennt bisher noch keine konkreten Zahlen. Die Bundeswehr müsse „rausholen, wen immer man rausholen kann“, sagte Innenminister Boris Pistorius (SPD) am Montag.

Schleswig-Holstein will dort lebenden Afghanen die Aufnahme ihrer Angehörigen ermöglichen. Es könnte sich laut Deutscher Presseagentur um 300 Frauen und Kinder handeln.

Was droht Frauen und Mädchen neben einem möglichen Ausschluss von Bildung noch?

Es geht grundsätzlich um den Zugang zu jeglicher Beteiligung an der Gesellschaft. Sowohl zum Arbeitsmarkt, zur Bildung, zu medizinischer Versorgung. Das sind alles Fragen, die nicht wirklich geklärt sind. Die größte Befürchtung ist, dass das alles wieder wie 1996 wird.

Ihr Verein leistet noch weitere Unterstützung in Afghanistan.

Wir führen neben den Bildungsprojekten auch Projekte der humanitären Nothilfe durch. Eigentlich sollte derzeit eine solche Nothilfeaktion in Kabul für Binnengeflüchtete gestartet werden. Die können wir aber erst wieder durchführen, wenn die Sicherheit unserer Mitarbeiter gewährleistet ist. Momentan ist alles eingestellt und die Projektbüros sind geschlossen. Unseren Mit­ar­bei­te­r*in­nen wurde empfohlen, sich erst einmal zuhause aufzuhalten.

Was tut Ihr Verein derzeit von Hamburg aus?

Unser Verein hat am Sonntag eine Spendenaktion auf die Beine gestellt und wir merken, dass die Spendenbereitschaft in Deutschland unglaublich groß ist. Bisher sind schon mehr als 300.000 Euro zusammengekommen sind. Wann die Unterstützung mit diesen Geldern durchgeführt wird, kann ich derzeit noch nicht sagen. Da geht die Sicherheit unserer Mitarbeiter vor. Aber mittelfristig wird sie stattfinden.

Wie kann je­de*r von uns einen Beitrag zur Hilfe leisten?

Wir sind in einer extrem privilegierten Situation und haben Zugang zum Internet: entsprechend einfach kann man sich informieren und andere Menschen auf die Situation aufmerksam machen.

Hamburg hat sich bereit erklärt, 200 Gerettete aufzunehmen. Welche Unterstützung fordern Sie noch von Bund und Ländern?

Es ist wichtig, dass sehr schnell agiert wird. Wir können es uns in Deutschland ja sehr kompliziert machen, die Menschen müssen jetzt jedoch schnell aus Afghanistan gebracht werden werden.

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